US-Kommandoaktion gegen Bin Laden Ein toter Top-Terrorist und viele offene Fragen

Was geschah wirklich in der Nacht, als die USA ihren Staatsfeind Osama Bin Laden töten ließen? Der Qaida-Führer war unbewaffnet, wie das Weiße Haus nun einräumen musste - wie konnte er dann trotzdem Widerstand leisten? Die US-Regierung muss rasch zahlreiche Ungereimtheiten aufklären.
US-Kommandoaktion gegen Bin Laden: Ein toter Top-Terrorist und viele offene Fragen

US-Kommandoaktion gegen Bin Laden: Ein toter Top-Terrorist und viele offene Fragen

Foto: Md Nadeem/ dpa

Berlin - EKIA: Auf diese vier Buchstaben lässt sich der Zugriff auf Osama Bin Laden reduzieren, Enemy Killed In Action. Es war die entscheidende Botschaft, die amerikanische Elitesoldaten in der Nacht zu Montag direkt vom Schauplatz aus ins Weiße Haus nach Washington funkten. Osama Bin Laden war tot. Barack Obama atmete auf: "Wir haben ihn."

Der Tod des Terrorfürsten ist ein Erfolg für den US-Präsidenten. Amerika feiert das Ende einer zehnjährigen Jagd, die Vergeltung für Tausende Tote. Und es feiert Barack Obama, dem viele eine solche Entschlossenheit zum Showdown gar nicht zugetraut hätten.

Blitzumfragen zeigen, dass ihm der Befehl zum Angriff auf Bin Laden einen Popularitätsschub beschert. Viele Amerikaner attestieren ihrem Präsidenten plötzlich deutlich bessere Führungsqualitäten, fand das Institut Ipsos heraus. Die Meinungsforscher vom Pew Research Center maßen ein "Karrierehoch" für den Anti-Terror-Kampf: 69 Prozent vertrauen Obama nun im Umgang mit der Bedrohung durch Extremisten, berichtete die "Washington Post".

In der euphorischen Stimmung über den Erfolg der Aktion von Abbottabad rückten Zweifel an den Umständen der riskanten Kommandoaktion der Navy Seals zunächst in den Hintergrund. Doch zwei Tage nach den tödlichen Schüssen auf Osama Bin Laden, tief auf pakistanischem Staatsgebiet, bleiben viele Fragen offen. Nur langsam sickern Details über den Ablauf jenes nur 40 Minuten dauernden Einsatzes durch, an dessen Ende amerikanische Soldaten die Leiche des Qaida-Anführers in einen Hubschrauber hievten und im Nachthimmel verschwanden.

Und nicht alle dieser Details tragen zur Aufklärung bei, im Gegenteil: Sie werfen neue Fragen auf. Wie etwa konnte Bin Laden Widerstand leisten, wenn er nicht bewaffnet war, wie das Weiße Haus nun einräumt? Und warum wurde vorher suggeriert, er habe auf die hereinstürmenden US-Soldaten geschossen?

SPIEGEL ONLINE nennt die Ungereimtheiten der Operation "Geronimo".

Warum haben die Spezialkräfte genau jetzt zugeschlagen?

In seiner Ansprache nannte Präsident Barack Obama keine Gründe dafür, weshalb man sich zu diesem Zeitpunkt für den Vollzug der Militäraktion entschied. Er habe "genug Informationen erhalten, um zu handeln", so Obama lediglich. Laut CIA-Chef Leon Panetta, von Obama mit der Leitung der Aktion beauftragt, hätten die Einsatzkräfte auch durch noch längeres Warten keine weiteren relevanten Informationen über das Versteck Bin Ladens erhalten können.

Möglicherweise befürchteten die US-Behörden aber auch, dass die Veröffentlichung der Guantanamo-Akten durch WikiLeaks Ende April Bin Laden aufgeschreckt haben könnte. Darin wird der Ort Abbottabad im Zusammenhang mit der Familie eines hochrangigen Qaida-Funktionärs erwähnt.

Klar ist, dass die US-Geheimdienste schon seit dem vergangenen August die Schlinge um den Top-Terroristen enger gezogen hatten. Damals gelang es, das Telefonsignal eines Bin-Laden-Kuriers zu orten - dieses führte zu der Anlage in Abbottabad. Zunächst habe man die Bombardierung des Gebäudes diskutiert, aber wieder verworfen. Stattdessen ordnete Obama den Einsatz der Navy-Spezialeinheit an. Ursprünglich war die Aktion bereits für Samstag angesetzt. Schlechtes Wetter machte einen Start der Hubschrauber jedoch unmöglich.

Haben die Amerikaner versucht, Bin Laden lebend zu fangen?

Zunächst berichteten US-Medien, der Auftrag der Spezialeinheit sei von vornherein eindeutig gewesen: Osama Bin Laden zu töten. Inzwischen erklärte Obamas Anti-Terror-Berater John Brennan jedoch, man hätte Bin Laden auch gern gefangen genommen - wenn der Qaida-Anführer keinen Widerstand geleistet und die weiße Fahne gehisst hätte. Brennan ließ allerdings auch durchblicken, dass man damit nicht wirklich gerechnet hatte.

Offiziell war es also keine reine "kill mission" sondern eine "kill-or-capture mission". So wird es aber wohl auch verbreitet, weil die rechtliche Grundlage für derartige gezielte Tötungen gelinde gesagt schwierig ist. Völkerrechtler haben jedenfalls im Fall Bin Laden ihre Zweifel, ob das Vorgehen der Amerikaner legitim war - zumindest, wenn es sich um eine bewusste Liquidierung des Top-Terroristen gehandelt haben sollte. Die abschließende Bewertung der Aktion dürfte vor allem von den genauen Umständen des Todes Bin Ladens abhängen.

Wie starb Bin Laden?

Er wurde erschossen, so viel steht fest. Kugeln aus Waffen der Navy Seals hätten den Terror-Chef in die Brust und in den Kopf getroffen - unter anderem direkt über dem linken Auge, sagen die Amerikaner. Aber gab es die Chance, ihn lebend zu ergreifen? Aus dem Weißen Haus heißt es, wäre es so gewesen, hätten die Spezialkräfte ihn in Abbottabad gefangen genommen. Dass sich diese Gelegenheit wirklich bieten würde, daran glaubte man aber nicht. Die Elitesoldaten rechneten mit Gegenwehr.

So kam es dann auch. Bin Ladens Wachen eröffneten das Feuer auf die Eindringlinge, es sei zu einem heftigen Schusswechsel gekommen, erklärte die US-Seite. Nur: Der Qaida-Anführer selbst war unbewaffnet, das räumte das Weiße Haus inzwischen ein. Sprecher Jay Carney beharrte aber auf der früheren Darstellung, dass Bin Laden Widerstand geleistet habe. Dafür brauche es keine Schusswaffe. Was aber tat Bin Laden dann? Dazu machte Carney keine Angaben. Vor den tödlichen Schüssen auf Bin Laden sei aber eine seiner Frauen, die sich im gleichen Raum befand, auf einen US-Soldaten zugestürmt - sie wurde nicht getötet, sondern am Bein verletzt. Auch die Frau war unbewaffnet.

Wie wurde der Hubschrauber zerstört?

Vom Dach des Gebäudes in Abbottabad eröffneten die Wachen des Terroristenführers das Feuer auf die vier US-Helikopter. Dabei kamen offenbar auch Granatwerfer zum Einsatz. Der Beschuss verhinderte wohl auch den ursprünglichen Plan der Elitesoldaten, sich aus der Luft in den Gebäudekomplex abzuseilen. Die Helikopter landeten schließlich auf dem Grundstück, einer von ihnen war dabei zu einer "weichen Notlandung" gezwungen.

Warum genau, ist unklar. Die US-Behörden beharren auf einem technischen Defekt als Ursache, von ungewöhnlich hohen Temperaturen ist die Rede. Augenzeugen berichteten dagegen, der Beschuss vom Boden habe die Notlandung erzwungen.

Nach Darstellung der Regierung sprengten die Soldaten den stark beschädigten Hubschrauber wenig später, um keine sicherheitsrelevanten Informationen zurückzulassen. Zahlreiche Bewohner von Abbottabad bestätigen eine laute Detonation im Gebiet der Bin-Laden-Residenz. Fotos aus den Stunden nach der Aktion zeigten Trümmerteile eines Helikopters, die von pakistanischen Sicherheitskräften abgeschirmt und abtransportiert wurden.

Was geschah mit den anderen Personen, die im Bin-Laden-Haus waren?

Zunächst hieß es, es hätten sich 36 Personen in dem Anwesen in Abbottabad befunden: vier Männer (Bin Laden, einer seiner Söhne, ein Kurier und dessen Bruder, neun Frauen und 23 Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren). Die Zahl der Kinder scheint inzwischen zu hoch gegriffen, auf wie viele genau die Soldaten stießen, ist immer noch nicht klar. Die Männer starben nach US-Angaben alle im Feuergefecht, auch eine Frau kam ums Leben. Die überlebenden Frauen und Kinder sind offenbar in pakistanischem Gewahrsam - möglicherweise wurden sie aber nur zurückgelassen, weil einer der US-Hubschrauber nicht mehr flugtüchtig war.

Ein Offizier des pakistanischen Geheimdienstes ISI erklärte gegenüber SPIEGEL ONLINE, eine Ehefrau und eine Tochter Bin Ladens sowie "einige Kinder, die aber nicht die Kinder Bin Ladens" seien, befänden sich derzeit "in unserer Obhut" . Ihren Aufenthaltsort wollte er "aus Sicherheitsgründen" nicht nennen, pakistanische Sicherheitskreise nannten aber die ISI-Kaserne in Abbottabad und das Hauptquartier des Geheimdienstes in Islamabad. Der ISI teilte mit, dass diesen Personen nichts vorgeworfen werde und sie daher voraussichtlich nicht angeklagt würden. "Wir wollen aber die Gelegenheit nutzen, so viel wie möglich von ihnen über Osama Bin Laden zu erfahren." Sobald die Vernehmungen beendet seien, würden sie entlassen und in ihre Heimatländer geschickt, nach Saudi-Arabien und in den Jemen.

Die Identität der meisten Personen ist damit weiter unklar, sie gehören womöglich zur Familie des getöteten Kuriers. Über den Verbleib der anderen männlichen Leichname ist bisher nichts bekannt. Die Amerikaner wollen nur den Körper des getöteten Qaida-Chefs mitgenommen haben. Ein ISI-Vertreter soll dagegen gegenüber der BBC erklärt haben, die Amerikaner hätten einen männlichen Überlebenden des Einsatzes gefangen genommen, möglicherweise einen Sohn Bin Ladens - es gibt aber keinerlei weiteren Berichte darüber und Hinweise darauf, dass dies wirklich der Fall war.

Woher kommen die Filmaufnahmen aus dem Bin-Laden-Haus?

Ein Schlafzimmer ist zu sehen, zerwühlte Betten, umgestürzte Möbel, ein Loch in der Wand, große Blutlachen auf dem Boden. Der US-Sender ABC zeigte am Montag als erster Nachrichtenkanal Aufnahmen aus dem Haus, in dem US-Spezialkräfte nur wenige Stunden zuvor Osama Bin Laden erschossen hatten. Die Qualität der Bilder ist schlecht, genauso der Ton - aber sie sind exklusiv.

Zu den Quellen gibt es keine Angaben, auch ihre Echtheit lässt sich nicht überprüfen. ABC-Korrespondent Nick Schifrin, seit Jahren in Pakistan stationiert, erklärte am Montag in einem Interview jedoch, er sei selbst auf dem Gelände gewesen und könne bestätigen, dass die Bilder von dort stammen.

Dass das Material aus US-Kreisen kommt, ist unwahrscheinlich, die Aufnahmen scheinen bei Tageslicht gemacht worden zu sein, als die amerikanischen Soldaten längst wieder abgezogen waren. Wahrscheinlich filmten pakistanische Sicherheitskräfte beim Rundgang durchs Gebäude mit ihren Handy- oder Digitalkameras und gaben das Material anschließend an US-Medien weiter.

Hat Pakistan Bin Laden in seinem Versteck geduldet - oder gar gedeckt?

Von wegen Höhle oder Erdloch, von wegen Afghanistan. Bin Laden hat die letzten fünf bis sechs Jahre am Rande der pakistanischen Garnisonsstadt Abbottabad gelebt, in einem großen, mit Mauern und Stacheldraht gesicherten Haus. Direkt im Herzen des vermeintlichen US-Verbündeten Pakistan.

Nun fragt sich die Welt und fragen sich insbesondere die Amerikaner: Was wusste Pakistan - was wusste seine Regierung, seine Armee, sein Geheimdienst ISI? Die pakistanische Regierung beteuert, sie habe den Aufenthaltsort Bin Ladens nicht gekannt. Präsident Asif Ali Zardari schreibt in einem Beitrag für die "Washington Post": "Er war an keinem Ort, an dem wir ihn erwartet hatten. Aber jetzt ist er weg." Mutmaßungen in den US-Medien, Pakistan gewähre Terroristen Schutz, nannte Zardari "gegenstandslose Spekulationen".

Ist das glaubwürdig? Bin Ladens Versteck in Abbottabad liegt nur etwa 60 Kilometer entfernt von Pakistans Hauptstadt Islamabad. Seit Jahren schon wirft Washington der Regierung in Islamabad vor, nicht energisch genug gegen Terroristen vorzugehen, Teile des pakistanischen Geheimdienstes ISI würden sogar insgeheim die Taliban unterstützen. Am Dienstag erklärt CIA-Chef Leon Panetta dem Magazin "Time" in bemerkenswerter Offenheit, warum die Amerikaner die Pakistaner nicht in die geheime Bin-Laden-Mission einweihten: Man fürchtete, jemand hätte den Qaida-Chef vorwarnen können.

Warum wurden bisher keine Bilder vom Leichnam veröffentlicht?

Osama Bin Laden ist tot - aber Bilder des Toten haben die Amerikaner bisher nicht gezeigt. Zudem haben sie seinen Leichnam bereits von einem Flugzeugträger aus auf See bestattet. Für Verschwörungstheoretiker eine vielsagende Szenerie. Dass am Montag zudem gefälschte Bilder des Getöteten kursierten, stiftete weitere Verwirrung. Die Anhänger des Top-Terroristen jedenfalls wollen Bin Laden offiziell am Leben halten, bis al-Qaida seinen Tod quasi amtlich verkündet. Auf einer der wichtigsten Dschihad-Websites prangt die Ermahnung: "Wir haben keine unabhängige Bestätigung für die Nachricht" - gemeint ist jene vom Tod Bin Ladens.

Obamas Anti-Terror-Berater Brennan hat angedeutet, die Fotos des Getöteten könnten veröffentlicht werden. Die USA wollten schließlich sicherstellen, dass "niemand irgendeinen Grund hat zu leugnen, dass wir Osama Bin Laden erwischt haben", so Brennan. Allerdings brauche die Freigabe der Bilder noch Zeit. So gibt es Skeptiker in den Reihen der US-Regierung, die Veröffentlichung ablehnen, weil die Aufnahmen allgemein zu abstoßend seien oder in der islamischen Welt für Unmut sorgen könnten. Denn das Gesicht des Leichnams dürfte nach dem Kopfschuss schwer entstellt sein - die Bilder seien zweifellos grausig, erklärte Sprecher Carney.

Was ist von gefundenen Datenträgern und Unterlagen zu erwarten?

Die US-Spezialkräfte haben in Bin Ladens Versteck in Abbottabad DVDs, CDs und andere Dokumente gefunden. Das gemeinhin gut informierte US-Blog Politico berichtet, es seien auch Festplatten sichergestellt worden. Der Fund sei größer gewesen als erwartet, heißt es. Man habe eine "Hauptader" getroffen, zitiert das Blog einen Fahnder. Selbst wenn nur zehn Prozent der Daten justiziabel sein sollten, könnte das "eine große Sache" sein.

Präsidentenberater Brennan sagte: "Am meisten interessiert uns, ob wir Einblick in die Planung eines Terroranschlags gewinnen können, so dass wir entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen können." An dem Material seien auch die Pakistaner interessiert, die herausfinden wollten, wie sich Bin Laden so lange auf dem Gelände habe verstecken können. Außerdem wollten sie erfahren, welche Unterstützung er von außerhalb der Anlage bekommen habe.

Die CIA habe ein Sonderkommando gebildet, um die Daten rasch auszuwerten, berichten US-Zeitungen. Hunderte Ermittler suchen nun Informationen über mögliche Terrorplots und andere Qaida-Mitglieder wie Aiman al-Sawahiri, die mutmaßliche Nummer zwei des Terrornetzwerks und Bin Ladens wahrscheinlicher Nachfolger. Laut Politico werden die Daten an einem geheimen Ort in Afghanistan ausgewertet. "Fox News" dagegen berichtet, ein Teil der Daten befinde sich im CIA-Hauptquartier im US-Staat Virginia.

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