US-Kongresswahlen "Die Demagogen haben leichtes Spiel"

Tea-Party-Anhänger in Ohio: "Die Stimmung im Land macht mir Sorgen"
Foto: Jay Laprete/ dpaSPIEGEL ONLINE: Herr Reich, bei den bevorstehenden US-Kongresswahlen droht dem Präsidenten eine saftige Niederlage. Was ist der Grund für den Anti-Obama-Trend?
Robert Reich: Die Stimmung im Land ist miserabel. Unser Wohlstand ist so stark wie noch nie an der Spitze konzentriert. 0,1 Prozent der Amerikaner verdienen so viel wie die 120 Millionen am Boden der Gesellschaft. Außerdem können dank einer grotesken Entscheidung des Obersten Gerichtshofes US-Konzerne nun unbegrenzt Geld in den Wahlkampf pumpen - über anonyme Gruppen, von denen niemand weiß, wer ihre Spender sind. 400 Millionen Dollar haben die nach Schätzungen dieses Jahr etwa für Werbespots ausgegeben. Viele Wähler sind außerdem noch immer ohne Arbeit, sorgen sich noch immer um ihr Haus, haben ihre Ersparnisse verloren. Sie sind frustriert und fallen leicht auf Demagogen herein.
SPIEGEL ONLINE: Warum droht gerade Obamas Partei ein Debakel, wenn so viele US-Bürger an den Folgen der Finanzkrise leiden. Immerhin stehen die Demokraten für mehr Staatshilfe.
Reich: Gerade bei dieser Frage haben Demagogen leichtes Spiel. Sie sagen einfach, die Regierung sei der Feind. Dabei kann nur der Staat helfen, wenn private Konsumenten kein Geld ausgeben wollen oder unter Schulden ächzen. Zumindest kurzfristig. Langfristig muss die Regierung natürlich Haushaltsdefizite abbauen, aber wenn wir jetzt nicht kurzfristig als Staat mehr Geld ausgeben, wird die Rezession noch weit länger dauern. Amerika braucht ein weiteres Konjunkturprogramm.

SPIEGEL ONLINE: Warum ist die Debatte darüber so verpönt? Selbst Demokraten trauen sich kaum noch, Gedanken über Staatshilfe auszusprechen.
Reich: Obamas Dilemma hat mit dem Rettungspaket für die Wall Street begonnen. Erst Bush und dann gaben 700 Milliarden Dollar an die großen Banken. Für viele Normalbürger sah das wie ein Insider-Geschäft aus, bei dem sie außen vor blieben. Sie fühlten sich mit ihren Sorgen und Nöten alleingelassen. Obama hätte diesen Eindruck vermeiden können, wenn er die Hilfe an schärfere Auflagen gekoppelt hätte, etwa Obergrenzen für Bonuszahlungen. Der Präsident hat auch nie klar kommuniziert, dass seine Gesundheitsreform, seine Finanzmarktvorschriften, sein Konjunkturpaket Teile eines Plans waren, den amerikanischen Mittelstand zu retten. Das rächt sich jetzt.
SPIEGEL ONLINE: Es ist ziemlich einfach, jetzt die Politiker zu kritisieren. Aber tragen nicht auch die US-Verbraucher eine Mitschuld? Jahrelang konsumierten sie wie verrückt - meist auf Pump.
Reich: Die US-Wirtschaft hat in den vergangenen drei Jahrzehnten dramatisch zugelegt, aber die Durchschnittseinkommen stagnierten. Viele Familien hatten mehr Geld, weil die Frauen auch einen Job annahmen und weil jeder immer länger arbeitete. Und schließlich auch, weil alle immer mehr Schulden machten. Jetzt reichen diese Auswege nicht mehr aus. Aber das Grundproblem bleibt, dass das meiste Geld an die Elite geht - und die breite Masse einfach nicht genug für den Konsum hat, ohne immer neue Schulden anzuhäufen. Wenn wir nun die Schuld auf die Verbraucher lenken, ignorieren wir das eigentliche Problem, die Ungleichheit der US-Gesellschaft. Die Schere zwischen Arm und Reich klaffte zuletzt 1929 ähnlich weit auseinander. Und Sie wissen selber, was damals passierte...
SPIEGEL ONLINE: ..die politischen Debatten wurden zorniger und radikaler. Kann das jetzt in Amerika wieder passieren?
Reich: Das läuft schon jetzt. Die Tea-Party-Bewegung spricht sich gegen freien Handel aus. Die Ressentiments gegen Zuwanderer wachsen im Einwanderungsland USA. Die Wut über China wird immer irrationaler, obwohl man die Chinesen nicht einfach für die 15 Millionen Jobs verantwortlich machen kann, die Amerika in den vergangenen zweieinhalb Jahren verloren hat. Die Stimmung im Land macht mir Sorgen.
SPIEGEL ONLINE: Die Krise in den dreißiger Jahren läutete aber auch wichtige soziale Reformen ein.
Reich: Ob sich das wiederholt, ist die große Frage: Beschließen wir nun ähnlich progressive Reformen wie damals? Investieren wir wieder mehr in Infrastruktur und Bildung? Ich bin skeptisch, denn die Voraussetzung sind andere. Damals waren 30 Prozent unserer Arbeitnehmer in Gewerkschaften organisiert. Heute sind es weniger als acht Prozent. Damals lag der Spitzensteuersatz bei 91 Prozent, nun bei 36 Prozent. Und manche Milliardäre, die Hedgefonds betreiben, schaffen es sogar, diesen Satz auf 15 Prozent zu senken.
SPIEGEL ONLINE: Als Sie für Präsident Bill Clinton arbeiteten, begann er links - und driftete nach seiner bitteren Niederlage bei den Kongresswahlen 1994 in die Mitte. Werden wir jetzt bei Obama einen ähnlichen Schwenk erleben?
Reich: Clinton musste seine Führungsstärke aufgeben. Er reagierte nach der Schlappe nur noch auf das, was ihm seine Meinungsforscher sagten. Ich finde, es wäre eine Schande, wenn Obama einen ähnlichen Weg einschlagen würde. Aber seine Berater könnten meinen, dass das die einzige Möglichkeit ist, ihm die Wiederwahl zu sichern.