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US-Präsidentschaftskandidat Romney unplugged

Die Peinlichkeiten nehmen für Mitt Romney kein Ende. Das nun veröffentlichte Geheimvideo entlarvt den Obama-Rivalen als zahlenfixierten Technokraten, dem es an Mitgefühl mangelt. Die Republikaner müssen fürchten, ihren einst sicher geglaubten Sieg schon verspielt zu haben.

Mitt Romney ist ein Meister der Zahlen. Ein Mann, der erst rechnet und dann handelt, der erst seziert und das Puzzle dann zusammensetzt. Als Investmentmanager hat er Unternehmen aufgekauft, zerlegt und die Einzelteile gewinnbringend verkauft. Romney hat damit gut 250 Millionen Dollar gemacht.

Sein Gedanke: Warum sollte das im Prinzip nicht auch mit der Präsidentschaft der Vereinigten Staaten funktionieren? Romney hatte die Lage ja seziert: Die Zahlen waren auf seiner Seite. Hohe Arbeitslosigkeit, miese Aussichten und die Wirtschaft das mit Abstand wichtigste Thema für die Amerikaner. Perfekt. Die Ökonomie, so hatte sich Romney das ausgerechnet, sei sein "Power-Verbündeter".

Romneys bitteres Missverständnis

Doch Politik ist mehr als eine Ansammlung von Zahlen. Es geht nicht um Gleichungen, sondern um Menschen. Jetzt ist es ein im Geheimen aufgezeichnetes Videos, das dieses Missverständnis illustriert. Ein Missverständnis, das Romney nun seiner letzten Chancen gegen US-Präsident Barack Obama beraubt haben könnte.

Romney steht im Feuer, seit am Montag das linksgerichtete Blog Mother Jones jene wackeligen Videos veröffentlicht hat, die ihn zeigen, wie er im Mai vor wohlhabenden Gönnern in Florida Klartext redet.

Da lästert der Kandidat über eine Zwei-Staaten-Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt; er bemerkt, er hätte bessere Wahlchancen, wäre er ein Latino. Und er attackiert jene Amerikaner, die angeblich keine Einkommensteuern zahlten.

Die zentralen Sätze: "47 Prozent der Leute werden für den Präsidenten stimmen, egal was geschieht. Diese 47 Prozent sind abhängig von der Regierung; sie glauben, Opfer zu sein; sie glauben, dass die Regierung die Verantwortung hat, sich um sie zu kümmern; sie glauben, dass sie einen Anspruch haben auf Gesundheitsversorgung, auf Essen, auf Wohnen, auf alles mögliche. (...) Diese Leute zahlen keine Einkommensteuer (...) Es ist nicht meine Aufgabe, mir Gedanken um diese Leute zu machen. Ich werde sie niemals überzeugen können, persönliche Verantwortung zu übernehmen und sich um ihr eigenes Leben zu kümmern."

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US-Wahlkampf: Romneys Patzer-Serie

Foto: Mother Jones

Nicht nur, dass Romneys Daten schlicht falsch sind. Laut "Washington Post" zahlen rund 46 Prozent der Amerikaner keine Einkommensteuer an den Bund, doch 28 Prozent zahlen Lohnsteuer. Bleiben also noch 18 Prozent, die sich aber wie folgt aufteilen: Sieben Prozent sind Geringverdiener, die nicht zahlen müssen. Gleiches gilt für Rentner, die zehn Prozent ausmachen. Heißt: Am Ende bleibt nur ein Prozent übrig, auf das Romneys Beschreibung zutreffen mag.

Weit schwerer wiegt, dass Romney mit seiner Datengetriebenheit mal eben die Hälfte der Amerikaner zu Sozialschmarotzern erklärt hat. Nicht seine Aufgabe, sich "Gedanken um diese Leute zu machen"? Okay, aber wie will er diesen Menschen dann ein fairer Präsident sein?

Rasend verbreiten sich die Videos über soziale Netzwerke im Internet. Romney selbst sagt, er habe sich "nicht elegant" ausgedrückt. Heißt: Der Auftritt in dem Geheimvideo ist Romney unplugged. Und wie bei Musikern, die unplugged - also mit unverstärkten Instrumenten - auftreten, enthüllt Romneys Performance ein Stück weit, wie er wirklich drauf ist. Und das ist tatsächlich ein bitteres Zeugnis für den Mann, der am 6. November der 45. Präsident der Vereinigten Staaten werden möchte.

So gekünstelt, so hohl

Seit Jahren ist die Öffentlichkeit auf der Suche nach dem "real Romney", dem wahren Gesicht des Ex-Gouverneurs von Massachusetts. Die jetzt aufgetauchten Videos enthüllen, wie sehr es dem Kandidaten an Mitgefühl mangelt. Genau jenes Mitgefühl, das Ann Romney dem Gatten mit ihrer Rede auf dem Republikaner-Parteitag doch gerade einzuhauchen suchte. Vergebens. All das klingt jetzt so gekünstelt, so hohl. Das Video enthülle einen "höhnischen Plutokraten, der die weniger Glücklichen mit Verachtung" betrachte, schreibt das "New York Magazine".

Verwässert ist Romneys Werben um die enttäuschten Obama-Wähler von 2008 - die hat Romney nun vor den Kopf gestoßen. Und an der weißen Arbeiterschaft, bei der er bisher punkten konnte, werden seine Äußerungen über die 47 Prozent auch nicht spurlos vorübergehen. Man wird im Gegenzug in den jetzt verbleibenden 50 Tagen bis zur Wahl einen selbstsichereren Obama erleben, der wieder und wieder das Motiv der sozialen Gerechtigkeit spielen wird.

Lange hatte der Amtsinhaber mit seiner Botschaft zu ringen. Das monatelange Kopf-an-Kopf-Rennen mit Romney - den Obama auch persönlich nicht leiden kann - zehrte an den Nerven im Team des Präsidenten. Es gab Auseinandersetzungen um die Strategie, um die doch recht blasse Botschaft des "Vorwärts" statt wie einst "Hope" und "Change". Und die Arbeitslosenquote wollte einfach nicht unter die magischen acht Prozent fallen.

Romney hat wichtige Wählergruppen verprellt

Wären bessere Aussichten für die Republikaner 2012 denkbar gewesen? Wohl kaum. Doch Romney selbst hat Obama die möglicherweise wahlentscheidenden Botschaften geliefert: Mit seiner peinlichen Europa-Tour im Sommer sowie den derben Äußerungen zum Sturm auf US-Vertretungen in arabischen Ländern vorige Woche hat er Obama außenpolitisch glänzen lassen. Der Herausforderer hat wichtige Wählergruppen verprellt: die Frauen durch eine nicht unterbundene Debatte um Abtreibung und Empfängnisverhütung; die Latinos durch eine besonders harte Haltung gegenüber illegaler Immigration; und jetzt auch die Arbeiter.

Obama liegt mittlerweile in den nationalen Umfragen vorn, in den meisten Swing States baut er seinen Vorsprung aus. Je mehr Romney unter Druck gerät, desto stärker kommen die Schwächen seiner Wahlkampfführung in den Blick. Das Magazin "Politico" hat Romneys Chefstrategen Stuart Stevens als den "Sündenbock" ausgemacht. Der habe etwa bei Erstellung von Romneys Rede für den Republikaner-Parteitag ein solches Chaos verbreitet, dass das Manuskript schließlich erst ein paar Tage vorher fertiggestellt worden sei - und man schließlich sogar versäumt habe, ein paar Worte zum Krieg in Afghanistan einzuflechten.

Team Romney reagiert immer fahriger. Von der ausschließlichen Fokussierung auf die Wirtschaft - so wollte der Kandidat ja gegen Obama siegen - ist nicht mehr viel übrig. Erst wollten Romney und Stratege Stevens die Wahl zur Abstimmung über Obama machen. Dann präsentierten sie mit Paul Ryan einen marktradikalen Vize-Kandidaten, der die klare Alternative zum Amtsinhaber aufzeigen sollte. Und seit einer Woche nun dilettiert Romney mit Attacken in der Außenpolitik. Alles wird mal probiert.

Im Vorwahlkampf schwärmte einer von Romneys Top-Beratern noch von der Kinder-Zaubermaltafel "Etch a Sketch", die er mit der eigenen Kampagne gegen Obama verglich: Wenn man die Tafel schüttele, dann verschwinde das gezeichnete Bild, und man könne wieder von vorn beginnen.

Es scheint, als ob Romneys und seine Mannen ein paarmal zu viel geschüttelt hätten.

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