Waffenentwicklung US-Militär wirft Russland Atomtests vor - was ist da dran?

Ein hochrangiger US-Militär unterstellt Russland, in der Arktis unerlaubte Atomtests durchzuführen. Moskau dementiert. Das sagen unabhängige Experten.
Atomwaffenfähige russische Interkontinentalrakete "Topol-M" (Archivbild)

Atomwaffenfähige russische Interkontinentalrakete "Topol-M" (Archivbild)

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dpa

Probably, also wahrscheinlich oder womöglich. Das ist das wohl entscheidende Wort. Am Mittwoch hielt Lieutenant General Robert Ashley, Chef des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency, einen Vortrag bei der konservativen Denkfabrik Hudson Institute in Washington. Darin ging es um Trends bei der Modernisierung des russischen und chinesischen Kernwaffenarsenals. (Lesen Sie hier  den Volltext der Rede.)

In seinen Ausführungen warf der Topmilitär Russland vor, sich - und jetzt kommt das probably - nicht an das geltende Verbot von Nuklearversuchen zu halten. Konkret würde es um Tests mit sehr niedrigen Mengen an Kernmaterial gehen. "Unser Verständnis von der Entwicklung von Kernwaffen lässt uns glauben, dass Russlands Testaktivitäten ihm helfen würden, seine nuklearen Fähigkeiten zu verbessern", so Ashley weiter. Man gehe davon aus, dass das russische Arsenal an Kernwaffen im kommenden Jahrzehnt "signifikant" zunehmen werde.

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Russlands Präsident Wladimir Putin hat in der Tat angekündigt, die Atomwaffen seines Landes zu modernisieren. Aber würde er dafür tatsächlich unerlaubte Tests durchführen? Das russische Außenministerium hat die Vorwürfe laut Nachrichtenagentur Interfax als "unbegründet und provokant" zurückgewiesen. Und auch unabhängige Experten haben ernste Zweifel an Ashleys Szenario.

Gleichzeitig hat das US-Militär am Donnerstag eines von zwei seiner Überwachungsflugzeuge des Typs Boeing WC-135 Constant Phoenix nach Europa verlegt , die Maschine landete auf der britischen Luftwaffenbasis Mildenhall. Sie ist speziell dafür ausgelegt, aus der Luft nach Hinweisen auf Nuklearexplosionen zu suchen.

Amerikaner haben Vertrag nicht ratifiziert

Die internationalen Regeln zum Atomteststopp sind ein Flickwerk und basieren zum Teil bis heute auf Freiwilligkeit. Die Atommächte lösen auch deswegen keine Nuklearexplosionen mehr aus, weil sie diese längst in Hochleistungscomputern simulieren können. Seit 1996 liegt bei den Vereinten Nationen ein umfassender Kernwaffenteststopp-Vertrag zur Unterschrift aus.

Das Abkommen mit dem Kürzel CTBT haben bisher 183 Staaten unterschrieben, auch die USA und Russland. Ratifiziert, also formal bestätigt, haben den Vertrag aber nur 168 Länder. Russland ist dabei, doch fehlen hier die USA nach einem entsprechenden Votum des Senats im Oktober 1999.

Deswegen ist das Übereinkommen auch noch nicht in Kraft, Ratifikationen fehlen auch aus Ägypten, China, Indien, Iran, Israel, Nordkorea und Pakistan. Doch eine internationale Organisation namens CTBTO Preparatory Commission betreibt bereits ein weltweites Messnetz, das International Monitoring System (IMS).

Zum Nachweis von Kernwaffentests wird dabei zum einen auf Schallwellen des Knalls in Luft und Wasser gelauscht, aber auch auf verdächtige Bodenbewegungen, die mit einer Explosion einhergehen würden. Zum anderen wird nach charakteristischen Radionukliden in der Luft geschnüffelt, nach dem Isotop Xenon-133 zum Beispiel, die bei der Kernreaktion entstehen.

Das Messnetz arbeite derzeit "normal" und habe "kein unübliches Ereignis" registriert, teilt die Organisation am Donnerstag auf Anfrage mit. Man habe "volles Vertrauen" in die Fähigkeit des Systems mit seinen weltweit 300 Monitoringstationen, einen Kernwaffentest im Fall der Fälle auch zu erkennen - so wie es im Fall der nordkoreanischen Atomtests in den Jahren 2016 und 2017 zuletzt auch der Fall war.

"Das Netz hat gezeigt, wie sensitiv es ist"

Aber wäre das Messnetz überhaupt sensibel genug, um auch kleine Detonationen zu erkennen, wie sie Ashley den Russen zu unterstellen scheint? "Das Netz hat gezeigt, wie sensitiv es ist", sagt ein Geoforscher, der sich mit der Materie auskennt. Erschütterungen im Boden würden außerdem nicht nur von den CTBTO-Stationen erkannt, sondern auch von den Tausenden Seismometern der Erdbeben-Messnetze. Auch hier würden Experten verdächtige Bodenbewegungen auffallen.

Und doch, das sagt der Forscher auch, im Prinzip wäre es womöglich tatsächlich machbar, die Folgen einer kleinen Nuklearexplosion zu verschleiern. Dazu würde man die Ladung zum Beispiel in einem großen unterirdischen Hohlraum zünden, einer Kaverne in einem Salzbergwerk zum Beispiel. Das würde dafür sorgen, dass die Wucht der Explosion das Gestein der Umgebung nicht zertrümmern, sondern nur verformen würde. Dadurch würden auch weniger seismische Wellen entstehen. Seismische Entkoppelung heißt das Prinzip.

Wenn man normalerweise eine nukleare Sprengladung zündet, die der Wucht von 1000 Tonnen konventionellem Sprengstoff entspricht, wäre ein Beben der Magnitude vier zu erwarten. Das ließe sich auch aus großer Entfernung nachweisen. Durch seismische Entkoppelung könnte die Magnitude aber um zwei Einheiten niedriger liegen. Und solche Erdbeben gibt es weltweit täglich in kaum zählbaren Mengen. Ein unerlaubter Test würde so in der Masse der natürlichen Erdstöße womöglich untergehen.

Messstationen auf Spitzbergen und in der kanadischen Arktis

So weit die Theorie. Doch in der Praxis gibt es gewichtige Gründe, die im Fall der Russen gegen solch ein Szenario sprechen. Da ist zum einen die Sache mit den Radionukliden. Die würden trotzdem entstehen und könnten aus dem Untergrund nach draußen gelangen. Dort würden sie den hochsensiblen Messstationen zum Beispiel im kanadischen Resolute oder auf der norwegischen Arktisinsel Spitzbergen auffallen. Doch darauf gibt es bisher keine Hinweise.

Dabei hat das internationale Messnetz gezeigt, wie sensibel es ist. Als im Oktober 2017 eine geringe Menge radioaktives Ruthenium in der Atmosphäre über mehreren europäischen Staaten nachgewiesen wurde, wurde schnell eine Atomanlage nahe der russischen Stadt Majak als mögliche Quelle identifiziert. Zwar steht eine endgültige Klärung des Falles bis heute aus. Aber der radioaktive Stoff blieb eben nicht unbemerkt. Mit einem Atomtest hatte die ganze Sache, das nur der Vollständigkeit halber, damals übrigens nichts zu tun.

Und noch ein wissenschaftliches Argument gegen mögliche russische Tests gibt es. Russland hat seine Kernwaffen bis zum Stopp seiner Tests vor allem auf der Arktisinsel Nowaja Semlja ausprobiert, das früher ebenfalls genutzte Atomwaffentestgelände Semipalatinsk liegt heute in Kasachstan und ist komplett zerstört. In der Arktis wiederum würden aber mögliche Erdbeben nach Kernwaffentests besonders leicht nachweisbar sein. "In dieser Gegend gibt es nicht viel natürliche Seismizität, da würde es auffallen", sagt der Geoforscher.

Gänzlich ausschließen lässt sich das Szenario unerlaubter russischer Tests also nicht. Aber es ist wenig plausibel, in der Praxis gibt es keine öffentlich zugänglichen Hinweise darauf. Auch in einem vor anderthalb Monaten veröffentlichten Bericht des US-Außenministeriums  zum Stand der internationalen Rüstungskontrolle taucht das Thema nicht auf.

"Sehr unplausibel", sagt der Analyst

Träfen Ashleys Vorwürfe zu, dann sei das eine "ernste Angelegenheit", heißt es bei der Arms Control Association . Das ist eine überparteiliche Nichtregierungsorganisation in Washington, die sich mit Rüstungskontrolle befasst. Wenn die USA "glaubwürdige Beweise" hätten, dass Russland den Vertrag zum Atomteststopp verletze, sollten sie gegenseitige Expertenbesuche auf den jeweiligen Testgeländen vorschlagen. Das gäben die Regeln des Vertrags her, als vertrauensbildende Maßnahme.

Dass Russland tatsächlich unerlaubt testet, so explizit hat Ashley den Vorwurf aber am Ende gar nicht erhoben. "Sie haben die Fähigkeit, es zu tun", so seine Antwort auf Nachfrage von Journalisten.

Es sei kein Geheimnis, dass Russland die Testanlagen auf Nowaja Semlja in einem Bereitschaftszustand halte, sagt der unabhängige Analyst Pavel Podvig vom Russian Nuclear Forces Project in Genf. Aber das täten auch die Amerikaner mit ihrem Testgelände in Nevada. Dass Russland tatsächlich unerlaubte Tests durchführe, halte er für "sehr unplausibel". Er könne sich kein Szenario vorstellen, in dem das Land solche Versuche nötig habe.

Das russische Militär habe großes Vertrauen in sein Verständnis von Kernwaffen, sagt Podvig. "Wenn sie eine neue Waffe bauen wollen, dann machen sie das einfach." Verdeckte Tests, mit kleinen Ladungen zumal, seien dafür schlicht nicht nötig.


Zusammengefasst: Robert Ashley, Chef des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency, hat in einem Vortrag erklärt, Russland verletze "vielleicht" die Regeln zum internationalen Atomteststopp. Die Regierung in Moskau hat das dementiert. Experten verweisen auf ein sehr sensibles internationales Messnetz, das Atomtests bemerken müsste - können die Möglichkeit aber auch nicht komplett ausschließen. Außer Ashleys Äußerung gibt es derzeit keine öffentlich zugänglichen Hinweise, die den Vorwurf untermauern.

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