Krise in Südamerika Vier Szenarien für Venezuelas Zukunft

30 Tote in 30 Tagen und kein Ende des Konflikts in Sicht: In Venezuela stehen sich Opposition und Regierung gegenüber. Experten sehen wenig Raum für Lösungen. Es sei denn, die USA und China mischten sich ein.
Lilian Tintori (2. von rechts) und Maria Antonieta de Lopez (rechts), Frau und Mutter des venezolanischen Oppositionsführers Leopoldo Lopez

Lilian Tintori (2. von rechts) und Maria Antonieta de Lopez (rechts), Frau und Mutter des venezolanischen Oppositionsführers Leopoldo Lopez

Foto: GUTIERREZ/ EPA/ REX/ Shutterstock

Sie sind wieder auf die Straßen gegangen in Venezuela: Oppositionsanhänger marschierten am Freitag zu den Gefängnissen, um die Freilassung der politischen Häftlinge zu fordern. Auch die Regierung ließ ihre Anhänger aufmarschieren: "Por la Paz" ("Für den Frieden"). Die Opposition in Weiß, die Regierungsanhänger in Rot. Schon optisch sind Gegner und Befürworter von Präsident Nicolás Maduro und seiner linksnationalistischen Regierung bestens zu unterscheiden. Dieses Mal blieben Ausschreitungen glücklicherweise aus.

So geht das jetzt seit einem Monat. Die Opposition setzt auf Demos und Proteste, um Veränderungen in dem heruntergewirtschafteten Land zu erreichen. Die Regierung antwortet mit Tränengas und Gegendemos. Die einen fordern Wahlen und Wirtschaftsreformen, die anderen wittern Putschversuche der Opposition mithilfe ausländischer Mächte. Im Schnitt jeden zweiten Tag mobilisiert sich quasi das ganze Land - für oder gegen den Erhalt des Status quo.

Die Stimmung ist aufgeheizt wie nie. Rund 30 Tote haben die Auseinandersetzungen in 30 Tagen gefordert. Die meisten auf Seiten der Regierungsgegner. Aber auch Polizisten starben. Bei Teilen der Opposition steigt die Gewaltbereitschaft, selbst wenn sie offiziell verlautbaren, auf friedlichem Weg verändern zu wollen. Aber es sind schon jetzt fast so viele Opfer wie bei der vorigen großen Protestwelle vor drei Jahren. Zwischen Februar und Juni 2014 starben 43 Menschen.

Anhänger der Opposition in Los Teques am 28. April

Anhänger der Opposition in Los Teques am 28. April

Foto: Ariana Cubillos/ AP

All das sagt viel darüber aus, wie es im Frühjahr 2017 um das südamerikanische Land steht: "Das ist die härteste Zeit, an die ich mich in Venezuela erinnern kann", sagt José Quintero, Leiter der Nichtregierungsorganisation Pro Catia in der Hauptstadt Caracas. "Der Hunger reißt größere Löcher in den Magen als noch vor einem Jahr, immer mehr Medikamente fehlen, Versorgungsengpässe überall", sagt der 59-Jährige.

Und während die Regierungsgegner weiter protestieren, schalten die Machthaber nach innen auf stur und nach außen auf Isolation. Jüngst hat Maduro angekündigt, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu verlassen. Man toleriere keinen "imperialen Interventionismus" des ältesten Staatenbunds in Amerika, hieß es.

Präsident Maduro am 26. April vor Anhängern in Caracas

Präsident Maduro am 26. April vor Anhängern in Caracas

Foto: HANDOUT/ REUTERS

Wie lange kann das gut gehen?

"Eskalation oder Erschöpfung", dazwischen entscheide sich kurzfristig das Schicksal der Proteste und das des Landes, sagt Michael Langer, Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Caracas. Und Heinz Dieterich, deutscher Sozialwissenschaftler in Mexiko und Kenner Venezuelas, ergänzt: "Beide Seiten glauben fälschlicherweise, sie könnten gewinnen." Entspannung sei daher im Moment nicht in Sicht, betont der frühere Berater des verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez.

Fotostrecke

Venezuela: Endspiel um die Demokratie

Foto: GUTIERREZ/ EPA/ REX/ Shutterstock

Experten sehen für die nächste Zeit vier mögliche Szenarien:

1) Eskalation der Proteste

Die Opposition will ihre Kernforderungen über die Straße durchsetzen:

  • Vorziehen der Präsidentenwahl vom kommenden auf dieses Jahr,
  • Freilassung der politischen Gefangenen,
  • humanitärer Korridor zur Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten.

Die Regierung ist allenfalls bereit, die Regionalwahlen abzuhalten, die schon längst hätten stattfinden müssen "Unter keinen Umständen wird die Präsidentenwahl vorgezogen", sagt Diosdado Cabello, Vizechef der Regierungspartei PSUV. Experte Dieterich ahnt, warum: "Maduro würde als Kandidat auf kaum 15 Prozent kommen."

Der politische Beobachter Nicmer Evans, einst glühender Chavist, sieht Autoritarismus und Repression auf dem Vormarsch: "Die radikalen Gruppen in beiden Lagern werden zunehmend die Oberhand gewinnen." Zu viel stehe auf dem Spiel. Man sehe auch bei der Opposition neuerdings "bewaffnete, strukturierte und finanzierte" gewaltbereite Kräfte. Auch Dieterich glaubt: "Die Opposition ist gespalten, und die Kreise, die bereit sind, auf Gewalt zu setzen, um Veränderung zu erreichen, werden sich durchsetzen."

Das internationale Umfeld mit US-Präsident Donald Trump lasse einen an die US-Rolle in Nicaragua in den Achtzigerjahren denken, als die Regierung in Washington die Contra-Rebellen finanzierte, um die Sandinisten-Regierung zu stürzen. "So ähnlich könnte es auch in Venezuela laufen."

2) Machtfaktor Militär

Immer wieder wird spekuliert, dass innerhalb der Streitkräfte die Unzufriedenheit mit Maduro steigt. Nach Ansicht von Heinz Dieterich steht das Militär aber fest hinter dem Präsidenten: "Verteidigungsminister Vladimir Padrino López hat Maduro Mitte April die Treue geschworen, damit sind ein Putsch oder eine Absetzung vom Tisch." Daher sei auch ein Rücktritt des Staatschefs kaum wahrscheinlich: "Maduro will bis 2018 weitermachen, das ist sicher", sagt Michael Langer von der Ebert-Stiftung.

3) Verhandlungen

Die Opposition will sich auf kein Verhandlungsangebot einlassen, ohne dass es seitens der Regierung Zugeständnisse gibt. Seine Gegner werfen Maduro vor, frühere Gespräche unter Vermittlung der Katholischen Kirche nur dazu genutzt zu haben, die Repression zu erhöhen.

Alle Experten sind sich aber einig, dass nur Gespräche eine Lösung bringen können. Der Impuls müsse aber von außen kommen: "China muss auf Maduro einwirken. Schließlich hat Peking Kredite für 60 Milliarden Dollar gegeben, die es nicht verlieren will." Und auf Seiten der Opposition könnten vor allem die USA für Dialogbereitschaft sorgen.

4) Marshallplan

Heinz Dieterich vergleicht Venezuela mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. "Das Land braucht einen Marshallplan." Die Regierung müsse anerkennen, dass der Staat als Verwalter der Wirtschaft grandios gescheitert sei, eine soziale Marktwirtschaft müsse das aktuelle Modell ablösen: "Ein nationales Rettungsprogramm muss aus einem breiten Bündnis aus Mittelklasse, den armen Schichten, der Bourgeoisie und den Streitkräften getragen werden."

Mindestens 50 Milliarden Dollar seien notwendig, um die Wirtschaft zu sanieren und die drei verschiedenen Wechselkurse zu vereinheitlichen und den Bolivar wieder flottieren zu lassen. "Aber für eine solche Lösung müssen sich beide Seiten an einen Tisch setzen und klar darüber sein, dass keine den Konflikt gewinnen kann", sagt Dieterich.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren