Verfassungsänderung Türken stimmen für Staatsreform

Emine Erdogan (rechts): Die Frau des Premierministers bei der Stimmabgabe
Foto: OSMAN ORSAL/ REUTERSIstanbul - Die Türkei hat genau 30 Jahre nach dem Militärputsch von 1980 für eine Reform der damals verabschiedeten Verfassung votiert. In einem Referendum stimmten am Sonntag etwa 58 Prozent der Wähler für ein Paket aus 26 Änderungen, das die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von Ministerpräsident vorgelegt hatte. Das berichteten türkische Fernsehsender am Abend nach Auszählung fast aller Stimmen. Die Wahlbeteiligung betrug mehr als 77 Prozent. Etwa 42 Prozent stimmten gegen die Reform, die politisch sehr umstritten war.
Erdogan sagte, sein Land habe einen historischen Schritt gemacht, dem weitere Reformen folgen würden. Mit der Reform will er das Parlament stärken und verspricht mehr Demokratie und Freiheit. So soll nun der Schutz persönlicher Daten der Bürger verbessert werden. Der Gleichheitsgrundsatz wurde ergänzt, so dass staatliche Vorteile für benachteiligte Bevölkerungsgruppen ausdrücklich möglich werden.
Zu den wesentlichen und umstrittensten Veränderungen zählt Folgendes:
- die Reform des Verfassungsgerichts. Es gilt gemeinsam mit dem Militär als Hüterin des säkularen Charakters des Landes. Das Parlament erhält jetzt mehr Einfluss auf die Bestellung von Richtern, der Kreis der in Frage kommenden Kandidaten für die wichtigsten Posten wird vergrößert, ihre Amtszeit auf zwölf Jahre beschränkt. Zudem sollen auch Einzelpersonen das Verfassungsgericht anrufen können.
- die Einschränkung des Zuständigkeitsbereichs der Militärgerichte. Sie dürfen künftig nicht mehr über Zivilisten urteilen. Wenn es um die Sicherheit des Staates geht oder um Verfassungsfragen, werden künftig zivile Gerichte zuständig sein.
- die juristische Aufarbeitung der Zeit nach dem Militärputsch von 1980. Die Reform hebt einen Passus auf, der eine Strafverfolgung der Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats verhindert. Der Rat wurde nach dem Militärputsch gebildet. Damit wäre der Weg für eine juristische Aufarbeitung der Zeit frei. Erdogan hat offen gelassen, ob dies geschehen soll.
Erdogans AKP und die oppositionelle Republikanische Volkspartei CHP, die sich als Hüterin des säkularen Erbes von Republikgründer versteht, hatten sich in den vergangenen Wochen einen heftigen politischen Schlagabtausch geliefert. Wer gegen die Reform stimme, verteidige die noch unter den türkischen Militärherrschern entstandene aktuelle Verfassung, sagte Erdogan. Kritiker aus der Opposition werfen Erdogan und seiner AKP wiederum vor, sie wollten so die türkische Justiz unter Kontrolle bringen.
Die Volksabstimmung war nötig geworden, weil die Reformen im Parlament keine ausreichende Mehrheit bekommen hatten.
EU-Vertreter haben erklärt, die Reformen würden grundsätzlich unterstützt. Kritik aus Brüssel gab es an den Vorbereitungen für das Referendum. "Wir bedauern, dass den Reformvorschlägen nicht eine breite und umfassende Debatte mit der Zivilgesellschaft vorausging", sagte eine Sprecherin der EU-Kommission.
Brandsätze auf Wahllokal
In den von Kurden bewohnten Provinzen im Osten der Türkei war der Anteil abgegebener Ja-Stimmen besonders groß. Allerdings war die Wahlbeteiligung dort nach Boykottaufrufen kurdischer Parteien teilweise auch besonders gering, was das Meinungsbild verzerrte. In den Kurdengebieten gab es am Sonntag vereinzelt Zusammenstöße. So attackierten Demonstranten, die Slogans der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei riefen, ein Wahllokal in der Provinz Mersin angegriffen und warfen zwei Brandsätze.
Erdogan bezeichnete die Reform als notwendigen Schritt bei der Heranführung der Türkei an die Europäische Union. Kurz vor dem Referendum hatte die EU die Beitrittshoffnungen der Türkei jedoch noch einmal gedämpft. Bei einem informellen Treffen der EU-Außenminister mit dem türkischen Ressortchef Ahmet Davutoglu wurden erneut Vorbehalte gegen eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union deutlich.
EU-Außenministerin Catherine Ashton warb dafür, die strategischen Beziehungen zur Türkei auch abseits der Frage der Mitgliedschaft zu betrachten. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) nannte die Beitrittsverhandlungen einen "ergebnisoffenen Prozess", begrüßte jedoch den Erfolg der Verfassungsreform und sprach von einem "wichtigen Schritt auf dem Weg der Türkei nach Europa". Davutoglu reagierte enttäuscht. "Die Türkei wird niemals irgendeine Alternative zum Beitrittsprozess akzeptieren", sagte er nach dem Treffen in Brüssel.
Auch die EU-Kommission hat die Zustimmung der Türken zur Verfassungsreform begrüßt. Der Ausgang des Referendums demonstriere den Willen der türkischen Bürger, Reformen für mehr Freiheit und Rechte umzusetzen, sagte EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle. Allerdings komme es nun auf die Umsetzung der Reformen an. "Eine ganze Reihe von Ausführungsgesetzen wird nötig sein, und wir werden deren Ausarbeitung genau beobachten."