Videobotschaft Bin Laden droht USA mit neuem Terror
Kairo/Washington - Auf dem 18-minütigen Band, das der in Katar ansässige Fernsehsender um 22 Uhr europäischer Zeit am Freitagabend in Ausschnitten veröffentlichte, richtet sich der Anführer des Terror-Netzwerks al-Qaida direkt an die amerikanische Bevölkerung. Er trägt auf dem Video ein weißes Gewand unter einem goldfarbenen Umhang und einen Turban. Er spricht ruhig und mit fester Stimme und zeigt hin und wieder mit dem Finger in die Kamera, um seinen Äußerungen Nachdruck zu verleihen.
Die US-Regierung stuft das Video als authentisch ein. Sie geht ferner davon aus, dass es erst vor kurzer Zeit erstellt wurde, wie der Sprecher des Weißen Hauses, Scott McClellan, am Freitag erklärte. Die Terrorwarnstufe werde nun aber nicht erhöht. Derzeit gilt in den meisten Teilen der USA die dritthöchste Alarmstufe Gelb.
In einer ersten Reaktion auf das Video sagte US-Präsident George W. Bush am Freitagabend, das amerikanische Volk werde sich "nicht einschüchtern und beeinflussen lassen". Darin stimme sicher auch der demokratische Präsidentschaftsbewerber John Kerry mit ihm überein. "Wir befinden uns im Krieg mit dem Terrorismus und wir werden erfolgreich sein", sagte Bush, der sich auf Wahlkampftour im US-Bundesstaat Ohio befand. Auch Kerry verwies in seiner ersten Stellungnahme zu dem Video auf die Einigkeit der USA. Er kritisierte jedoch, dass die US-Truppen im Jahr 2002 die Suche nach Bin Laden in Afghanistan örtlichen Gruppen überlassen hätten, statt Eliteeinheiten einzusetzen. Er werde als Präsident den Kampf gegen die Terroristen erfolgreicher als die jetzige Regierung führen und "Amerika sicherer machen", so Kerry.
Vorwürfe Bin Ladens an Bush
In seiner "an das amerikanische Volk" adressierten Botschaft wirft Bin Laden dem amerikanischen Präsidenten Bush vor, die Menschen in den USA in den Jahren seit den Angriffen in New York und Washington getäuscht zu haben. Die Regierung in Washington stütze sich zudem auf "korrupte arabische Regierungen", sagte der Terrorführer.
Bin Laden spricht auf dem Video auch über die Hintergründe und die Einzelheiten der Planung für die Flugzeugattentate. "Wir haben beschlossen, Türme in Amerika zu zerstören" aus Enttäuschung über die proisraelische Nahostpolitik, sagte er unter Hinweis auf die Zerstörung der Zwillingstürme des World Trade Centers in New York. Die USA seien angegriffen worden, "weil wir ein freies Volk sind ... und wir die Freiheit unserer Nation zurückgewinnen wollen", fügte er hinzu. Er drohte den USA zugleich mit weiteren terroristischen Angriffen: Amerika müsse mit neuen Attacken rechnen, da die Gründe für die Durchführung der Anschläge des 11. Septembers noch immer bestünden.
Weiter wirft Bin Laden Bush auf dem Video vor, die Amerikaner zu täuschen. Die Anschläge wären nicht so verheerend gewesen, wenn der Präsident aufmerksam gewesen wäre, höhnte der Qaida-Chef. Er deutete auch an, dass die US-Regierung auf die Ereignisse am 11. September langsamer reagiert habe als die Flugzeugentführer es erwartet hätten. Dies habe diesen mehr Zeit gegeben, ihre Anschläge erfolgreich auszuführen. Dann machte sich Bin Laden über Bush lustig: "Es wäre uns nie in den Sinn gekommen, dass der Oberbefehlshaber des Landes (Bush) 50.000 Bürger in den beiden Türmen mit diesem Horror alleine lassen würde, weil er es für wichtiger hielt, Kindern bei einer Plauderei über Zicklein zuzuhören." Bush war zum Zeitpunkt der Anschläge zu Besuch in einer Schule in Sarasota in Florida gewesen und hatte Kindern aus einem Buch über Tiere vorgelesen.
Zu den Motiven für die Anschläge vom 11. September erklärte Bin Laden, für ihn persönlich sei es ein Schlüsselerlebnis gewesen, die amerikanische Unterstützung für die israelische Invasion im Libanon im Jahr 1982 mit anzusehen. Damals habe er beschlossen, dass man den Ungerechten alles mit gleicher Münze heimzahlen werde, sagte er und fügte hinzu: "Ihr solltet die gleichen bitteren Früchte schmecken wie wir". Aus seiner Sicht seien die Flugzeugattentate in den USA "ein Erfolg" gewesen.
"USA ähneln arabischen Diktaturen"
Dann sprach Bin Laden die Folgen der Anschläge an. Er wolle den USA "raten", wie sie weitere Anschläge vermeiden könnten, meinte er. Die Art und Weise wie Ex-Präsident George Bush seinem Sohn zur Macht verholfen habe, so Bin Laden weiter, ähnele der Nachfolge in den Monarchien und Militärdiktaturen der arabischen Welt. Zwar behaupte der jetzige Präsident George W. Bush, die Al-Qaida-Anhänger hassten die Freiheit. Doch das Gegenteil sei der Fall: "Wir wollen Freiheit für unsere (islamische) Nation", sagte Bin Laden.
Dann bezog er sich auf die Präsidentschaftswahlen in den USA am kommenden Dienstag. Er sprach das amerikanische Volk direkt an: "Eure Sicherheit liegt nicht in den Händen von Bush, Kerry oder al-Qaida, sondern in Euren eigenen Händen." Um weitere Katastrophen zu vermeiden, dürfe man den Zorn der Araber nicht provozieren.
Bin Laden, auf den die US-Regierung ein Kopfgeld von 25 Millionen Dollar ausgesetzt hat und der im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan vermutet wird, erscheint auf dem Video bei guter Gesundheit zu sein. Er sieht lediglich etwas dünner aus als auf früheren Aufnahmen. Es ist das erste Video Bin Ladens seit einem Jahr. Wiederholt war über den Gesundheitszustand des Terrorführers spekuliert worden
Al-Dschasira teilte mit, es habe das Band am Freitag erhalten, machte jedoch keine Angaben über die Quelle. Man gehe davon aus, dass die Botschaft Bin Ladens "neu" sei. Der Sender hatte die Ausstrahlung des Bandes kurz vorher angekündigt. Er hat in der Vergangenheit wiederholt Videos von Bin Laden und anderen islamistischen Terroristen ausgestrahlt.
Vor einem Jahr hatte al-Dschasira ein Video gezeigt, in dem Bin Laden und sein Stellvertreter Aiman al-Sawahiri in einer gebirgigen Gegend zu sehen waren und die Attentäter vom 11. September lobten. Im April hatten arabische Fernsehsender ein Tonband ausgestrahlt, das vermutlich von Bin Laden stammte. Darauf bot der Terroristenführer den europäischen Staaten einen dreimonatigen Gewaltverzicht an, wenn diese ihre Truppen aus dem Irak abzögen. Das Ultimatum lief ab, ohne dass zunächst eine weitere Botschaft von Bin Laden auftauchte.