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Trauma Vietnam: Der Krieg im Kopf

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Vietnam-Trauma Nachts, wenn die Toten zurückkommen

In seinem Kopf hört der Krieg nie auf: Vietnam-Veteran Barry Romo sieht fast jede Nacht gefallene Kameraden und getötete Vietcong, hört Schreie und Schüsse aus dem Dschungel. Viele ehemalige US-Soldaten haben im Kampf gegen ihre Alpträume kapituliert: Bereits 60.000 nahmen sich das Leben - mehr, als im Krieg gefallen sind.

Nachts kommt der Dschungel. Sobald die Müdigkeit die Augenlider fallen lässt. Der Dschungel ist finster, und in der Dunkelheit warten die Toten ungeduldig auf Barry Romo. Grausam Verstümmelte. Gefallene Kameraden.

Im Dschungel ist es laut. So laut wie Schreie, Granateneinschläge, dröhnende Hubschrauber und MG-Salven im Kopf nur lärmen können. Unerträglich ist das letzte kurze Klagen, bevor ein Leben vergeht. Die unsägliche Stille danach, die die Brust zerreißt. Auch das kann der Dschungel sein.

Vietnam

"Der Dschungel ist ein unheiliger Ort", würde Barry Romo vielleicht sagen, wenn er seinen eigenen Glauben nicht verloren hätte. Vor 42 Jahren in .

Es ist nicht so, dass Barry Romo dem nächtlichen Dschungel nicht entkommen könnte. Mit genügend Schlaftabletten wäre es möglich. Sie müssten nur so stark sein, dass sie den 62-Jährigen auch wirklich in einen Tiefschlaf versenken. Nur hat er dann am nächsten Tag Mühe aufzustehen. Weil sich seine Knochen so schwer anfühlen, als wären sie aus Blei gegossen. Dann müsste er zu anderen Tabletten greifen. Solche, die munter machen.

"Tabletten sind keine Lösung", sagt Barry Romo deshalb. Und so nimmt er meist keine. Was nicht bedeutet, dass er gelernt hat, mit dem Dschungel fertigzuwerden. Das, weiß der traumatisierte 62-Jährige, wird ihm wohl nie gelingen. Aber er hat sich auf ihn eingestellt.

Barry Romo hat sich wie ein Ritter gefühlt

Der Vietnam-Veteran hat in seiner kleinen Wohnung in Chicago kein Bett stehen, weil ihn die Alpträume nachts über die Bettkante wälzen. Also schläft er auf einer Matratze am Boden. Schon seit über 40 Jahren. Manchmal rollt er im Schlaf gegen die Bücherregale, die links und rechts aufragen und deren Inhalt meist nur ein Thema kennt: den Krieg.

"Ein Bett, da würde ich fast jede Nacht herausstürzen", der 62-Jährige schüttelt nur den Kopf. Beim Sprechen hält er sich manchmal scheu die Hand vor dem Mund. Im Schlaf mahlen seine Zähne aneinander, Millimeter um Millimeter hat er sie so regelrecht abgeschliffen.

An den Wänden hängen Poster und Bilder. Ihr Thema: Krieg. Eines hat ihm ein Kamerad gemalt. Ein Porträt mit Stahlhelm und weit aufgerissenen Augen. Pure Angst, in dunklen Ölfarben auf Leinwand festgehalten.

Darunter steht auf dem Regal ein Foto des Teenagers Barry in Uniform. Dem 18-jährigen Katholiken mit irischen und mexikanischen Wurzeln, der auszog, gegen das "Böse" zu kämpfen. "Schon auf der katholischen Highschool haben sie uns eingetrichtert: Kämpft gegen die Kommunisten, schützt die vielen Glaubensbrüder in Vietnam", sagt Barry Romo. Er meldet sich freiwillig.

Wie ein Ritter hat er sich gefühlt, der junge Leutnant. Frisch von der Offiziersschule geht es direkt in den Krieg. Aus dem Ritter wird bald ein Landsknecht. Mindestens sechs Menschen tötet Barry Romo. "We got brutalized", sagt der Veteran heute. Sie waren total verroht.

"Bin ich ein guter Anführer?"

"Brutalized" heißt: Irgendwann greift er nicht mehr ein, wenn seine Leute vietnamesische Bauern schlagen, wenn sie, meist ohne Dolmetscher, die Dorfbewohner "verhören". Absurde "Search & Destroy"-Einsätze, "Body Counts" getöteter Vietcongs - das fordert die Militärführung. Doch Barry Romo kämpft längst nur noch darum, seine kleine Truppe ohne hohe Verlust durchzubringen.

Drei seiner Männer sterben vor seinen Augen, was aus den Verwundeten wird, die ausgeflogen werden, erfährt der junge Leutnant selten. "Bei jedem von ihnen habe ich mich gefragt, bin ich ein guter Anführer? Ich war 18 und für das Leben von 45 Männern verantwortlich", sagt Romo. Und versucht, ganz sachlich zu klingen

Doch seine Stimme zittert immer wieder: Als er vom nordvietnamesischen Soldaten berichtet, den sie in einem Dorf überraschen. Barry Romo lässt ihn nicht entkommen.

Drei, vier, fünf Feuerstöße mit der M 16. Body Count.

"Mein Gott, der Mann hatte seine Därme gehalten", sagt der 62-Jährige. Für kurze Zeit herrscht Stille in der Küche. Barry Romo hustet unter seinem gerahmten Vietcong-Poster. Er könne auch den Tod der fünf weiteren Vietnamesen erzählen, sagt er. Es ist nicht die Wahrheit. Der 62-Jährige hat dazu nicht mehr die Kraft. Er sitzt auf seinem Küchenstuhl, die Füße zucken unstet, als würde er gleich wieder loslaufen. Wie damals, auf der Vietcong-Jagd. Hätte er noch einmal die Wahl, wohl in die andere Richtung, als die, in die er einst lief.

Der Krieg wirft einen langen Schatten bis ins Heute

Barry Romo ist mit seinem Bericht über den Krieg fast am Ende angelangt, von Erleichterung keine Spur. Sein persönliches Kriegsende kommt mit unsäglichem Leid. Der fast gleich alte Neffe wird eingezogen und fällt. "Wir sind zusammen wie Brüder aufgewachsen", sagt der Veteran. Sie brauchen Tage, bis sie den Jungen aus dem Busch bergen können. Barry Romo wird mit einem Hubschrauber von der Front abgezogen. In Kampfmontur, verschwitzt und verdreckt, begleitet er den halbverwesten Leichnam in die Heimat.

"Vermutlich hat der Tod meines Neffen mir das Leben gerettet", sagt Romo. Als der junge Leutnant abgezogen wird, gilt er in der Truppe längst als einer, der darauf wartet, dass der Tod ihn holt. Romo hätte nur noch wenige Wochen Dienstzeit in Vietnam. Er wird nicht mehr zurückgeschickt. Zurück in den USA, beendet er als "Infantry Training Company Commander" ein Jahr später seinen Militärdienst. Ein Jahr, in dem er nach seinen Dienststunden regelmäßig zur Whiskeyflasche greift. Ein Jahr der Betäubung.

"Der Zivilist Barry Romo trug dann lange Haare und entdeckte seine Vorliebe für riesige Burger." Der 62-Jährige versucht ein trauriges Lächeln. Student Barry Romo, der sich 1969 an einem College und später an einer Universität in Kalifornien einschreibt, trägt vor allem eines in sich: eine unbändige Wut, die sein Studium von vornherein zum Scheitern verurteilt.

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"Bin ich noch ein guter Mensch?"

Eine Wut auf Kommilitonen, die den Krieg gutheißen - "aber selbst nicht an die Front wollen". Auf alle, die nicht begreifen können, was er fühlt. Wut auf die Kriegsmaschinerie, die weiter wütet. "Ich hab mich so betrogen gefühlt", sagt Barry Romo heute. Am zerstörerischsten ist die Wut auf sich selber. Es ist eine simple Frage, die sich ein Veteran stellt, der sechs Menschen getötet hat: "Bin ich noch ein guter Mensch?"

Vietnam-Krieg

Eine Frage, die einen ehemaligen Frontkämpfer zerbrechen lassen kann. Zusammen mit den Schuldgefühlen, dass man selber überlebt hat, während andere sterben mussten. Manche sehen im Freitod den einzigen Ausweg. Mehr als 60.000 Vietnam-Veteranen nahmen sich laut einer Studie das Leben. Barry Romo kennt die Zahl gut. Das sind mehr als die US-Streitkräfte an Gefallenen im -nie erklärten - vermeldeten: 58.193 von rund zwei Millionen Soldaten im Einsatz.

Der Krieg wirft einen langen Schatten bis ins Heute: 1972 sitzen 300.000 Vietnam-Veteranen hinter Gittern. Junge Männer, die ihren Platz im zivilen Leben nicht mehr finden können. Manche bis heute nicht: Das U.S. Department for Veteran Affairs schätzt im Jahr 2008, dass 61.600 Vietnam-Veteranen permanent obdachlos sind.

Barry Romo ist 1972 schon kein Student mehr. Bis zu seiner Pensionierung vor wenigen Monaten verdient er seinen Lebensunterhalt als Arbeiter. Aber es ist das Jahr, in dem er wieder nach Vietnam zurückkehrt. Als ein Sprecher der "Vietnam Veterans Against the War" zusammen mit der Sängerin Joan Baez, Reverend Michael Allen und dem Hauptankläger der Nürnberger Prozesse, Telford Taylor.

Der Krieg kann nicht von ihm lassen und er nicht vom Krieg

Romo hat seinen Weg gefunden, dem Trauma und der "Schuld" den Kampf anzusagen: Er hat dem Vietnam-Krieg den Krieg erklärt. Die Sängerin, der Reverend, Taylor und der Veteran reisen im Winter nach Hanoi, in die Hauptstadt des Feindes. Um dort eine USA zu repräsentieren, die den Krieg kritisiert. In Hanoi müssen sie im Keller Schutz suchen. Nixon lässt die Hauptstadt der Nordvietnamesen bombardieren. "Die Vietnamesen haben zuerst uns in Sicherheit gebracht. Ich habe mich geschämt", sagt der 62-Jährige heute.

Romo und seine Antikriegsveteranen machen in den USA mobil gegen einen Krieg, der immer unpopulärer wird, bespitzelt vom FBI, bedroht von Polizeiknüppeln. Doch selbst der "Playboy" gibt den "Vietnam Veterans Against The War" eine kostenlose Anzeigenseite.

Barry Romo holt eine abgegriffene Schachtel, stellt sie auf den Küchentisch und fischt Orden heraus. Behutsam hält er sie in der Hand. Es ist ein eigenartiges Bild: Der Krieg kann nicht von ihm lassen und er nicht vom Krieg. 1971 warfen Tausende von Veteranen ihre Orden symbolisch vor dem Supreme Court in Washington in den Abfall. Auch Barry Romo. Aber er bestellt sie sich wieder nach. Beweisstücke, dass er kein "Cry Baby" ist. So verspotteten die Weltkriegsveteranen der "Legion" jene Vietnam-Veteranen, die öffentlich sagten, dass der Krieg ihre Seele zerfraß.

Es ist Mittagszeit. Um die Ecke ist ein kleines mexikanisches Restaurant. Der Weg führt an einer großen Werbetafel der Marines vorbei. Ehre, Vaterland - damit werden neue Rekruten für Irak und Afghanistan geworben. Im Vietnam-Krieg klangen die Parolen kaum anders.

Neulich hat sich der Veteran des Vietnam-Kriegs mit Irak-Veteranen getroffen. Junge Männer und Frauen mit einer erschreckenden Wut im Bauch, die er nur zu gut kennt. Man macht gemeinsame Sache gegen den "Bush-Krieg". Barry Romo hat ihnen erzählt, wie sich noch nach über 40 Jahren jede Nacht seine Kriegsbücher-Regale, seine Vietnam-Bilder, seine Matratze auf dem Boden in den Dschungel verwandeln. Er sah es in ihren Augen, sie hatten Angst vor seinem Schicksal, vor ihrer Zukunft.

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