Armeniens junge Generation
Von Brooklyn zurück nach Eriwan – und nun?
Sie gründeten Start-ups und sahen neue Chancen: Viele junge Menschen zogen in den vergangenen Jahren aus dem Ausland zurück nach Armenien. Dann kam der Krieg um Bergkarabach. Wie geht es für die Generation jetzt weiter?
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für globale Probleme.
Das Gebäude im Eriwaner Stadtteil Arabkir wirkt Furcht einflößend: brutalistische Würfelarchitektur, zu zehn Stockwerken aufgeschichtet, verkleidet mit rosa Tuffstein. Im Inneren haben die Mieter und Besitzer ihre Wohnungen individuell gestaltet. Manche haben Wände aufgestemmt, Räume auf Kosten der Hausflure vergrößert, andere Feuertreppen begrünt. Das alles wirkt konfus, zeigt aber auch Freiheit und Platz zur Entfaltung.
Das ist es auch, was Vache Asatrian und Raffi Elliott zurückgezogen hat nach Armenien, in das Land ihrer Eltern und Großeltern. In einer Maisonettewohnung im siebten Stock des Gebäudes haben die beiden 30-Jährigen ihr Büro eingerichtet. Unter einer selbst gebauten Deckenlichtkonstruktion, umgeben von vielen Pflanzen, mit weitem Ausblick über die Dächer der Stadt auf die schneebedeckten Berge im Norden, leiten sie das armenische Büro des Start-ups Mutable.
Vache Asatrian und Raffi Elliott in ihrem Büro in Eriwan
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Vache ist einer der Gründer der Firma, die weltweit Cloud-Computing-Lösungen anbietet. Er ist in Eriwan geboren, aber als Zehnjähriger mit seinen Eltern nach Brooklyn, New York City, gezogen. Raffi, Sohn eines irischen Vaters und einer armenischen Mutter, stammt aus der kanadischen Metropole Montreal. Der kleine Mann mit der Brille und sein bulliger Freund mit dem roten Bart könnten überall auf der Welt wohnen und sind doch hier, im Kaukasus, am äußersten Rande Europas.
»In Eriwan kann ich beim Aufbau der Gesellschaft etwas beitragen und auch gleich Ergebnisse sehen«, sagt Vache, der an der New York University Digital Media studiert und mit einer deutschen Freundin in Berlin und Stockholm gelebt hat. Dass er in seinem Geburtsland mehr Gestaltungsmöglichkeiten als anderswo sieht, liegt an der sogenannten Samtenen Revolution im Frühjahr 2018. Damals zogen Tausende – vor allem junge Armenier – auf die Straßen, um gegen die korrupten Staatsstrukturen und die Oligarchen zu demonstrieren.
Reformpremier Nikol Paschinian etablierte einen offeneren Politikstil, im Land war ein Aufbruch zu spüren. Binnen zwölf Monaten verbesserte sich Armenien im Korruptionsindex der Organisation Transparency International um 28 Plätze. Aus der Diaspora kehrten so viele Landsleute zurück wie seit zwölf Jahren nicht mehr; seit der Unabhängigkeit 1991 sind es insgesamt etwa 50.000 gewesen, allein 15.000 im Jahr der Revolution.
Blick vom Balkon des Start-ups Mutable in Eriwan
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Zur emotionalen Verbundenheit kam für die Armenier nun die berechtigte Hoffnung auf ökonomischen Erfolg in der Heimat hinzu: 2019 wuchs die Wirtschaft um 7,6 Prozent. Die Armutsquote fiel, auch die hohe Jugendarbeitslosigkeit begann langsam zu sinken. Dann kam die Pandemie. Dann der Krieg.
Nach dem Ende der Sowjetunion hatte sich der Konflikt mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach zum bewaffneten Kampf entwickelt, der 1994 mit einem Sieg Armeniens endete. Am 27. September dieses Jahres griffen aserbaidschanische Verbände erneut an und erzielten, massiv unterstützt von der Türkei, in sechswöchigen Kämpfen einen beinahe totalen Sieg.
Bisher ist von 2425 gefallenen armenischen Soldaten die Rede. Zu territorialen und menschlichen Verlusten kommen die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen. Schon vor dem Krieg hatte die Weltbank wegen der Pandemie ein Schrumpfen der armenischen Wirtschaft um 6,3 Prozent prognostiziert. Inzwischen ist das Coronavirus in Armenien praktisch außer Kontrolle. Was bleibt nun vom Aufbruch der Jugend? Und wie geht es weiter?
Militärarzt Titan Asatrian auf dem Jerablur Militär Friedhof: »Wir alle sind traumatisiert«
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Der 27-jährige Titan Asatrian hat als Militärarzt an der Front Tote gesehen und junge Männer, die Arme und Beine verloren haben. Er selbst habe seine Gefühle bisher unterdrückt. »Doch sie werden mich bald erreichen«, sagt er. Damit es in Armenien wieder vorwärtsgeht, sagt Asatrian, müsse nicht nur den Rückkehrern aus der Schlacht geholfen werden, sondern auch den Angehörigen der Gefallenen: »Wir alle sind traumatisiert.«
In der Nacht nach der Verkündung der Niederlage am 9. November stürmten Männer in Lederjacken und Turnschuhen das Eriwaner Parlament. Den Präsidenten der Kammer schlugen sie krankenhausreif. Viele Beobachter sahen in ihnen die Fußsoldaten der alten Herrscher, der Oligarchen und der Republikanischen Partei, die 2018 die Macht verloren hatte: Die alte Führung versuchte, die Wut über das militärische Scheitern und die angeblich verfrühte Kapitulation in eine Konterrevolution zu verwandeln.
Eine Familie nimmt Abschied auf dem Jerablur Friedhof in Armeniens Hauptstadt Eriwan
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
»Dabei haben wir Soldaten doch gesehen, wie verheerend die Lage an der Front war«, sagt Titan Asatrian. Der Militärarzt überlegt, bald das Land zu verlassen, zumindest für eine Weile: »Ich möchte nach meiner Dienstzeit in den USA weiterstudieren. Dort bekomme ich eine bessere Ausbildung. Danach kann ich meinem Land noch mehr zurückgeben.«
Die Politikwissenschaftlerin Elen Grigorian dagegen will auf jeden Fall bleiben. Dabei hatte sie noch bis 2018 fest vor, nach Brüssel zu ziehen. »Ich habe in Nizza, Berlin und Istanbul studiert und wollte eigentlich in einem belgischen Thinktank anfangen, dann kam die Revolution«, erzählt sie.
Elen Grigorian vor der »Mother Armenia« Statur
Foto:
Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Die 26-Jährige trägt kurze Haare und einen bordeauxroten Kapuzenpullover, als sie im Siegespark von Eriwan ihre Erinnerungen an die Proteste schildert. Hinter ihr steht die mächtige Figur der Mutter Armenien, darum sind Panzer, Raketen und anderes Kriegsgerät ausgestellt. Die langen Schatten der Sowjetgeschichte sind hier besonders deutlich.
»Während der Revolution hatten wir Jungen zum ersten Mal eine Perspektive in unserem Land. Ich hätte nie gedacht, dass das mal passiert«, sagt Elen. Den Krieg und die Niederlage empfindet sie nun als direkte Bedrohung für die junge Demokratie. »Unsere Gesellschaft ist wieder gespalten«, sagt sie mit Blick auf die Teile der Bevölkerung, die sich bei der Frage des Waffenstillstands unversöhnlich gegenüberstehen. Die Politikwissenschaftlerin ist gegen vorgezogene Neuwahlen, wie es jetzt viele andere fordern. Sie sagt: »Am wichtigsten ist jetzt Stabilität.«
Start-up-Mann Raffi Elliot im Firmenloft sieht das ähnlich: »Viele Leute suchen nach einem Sündenbock. Dabei geht es gar nicht darum, ob Paschinian bleibt. Es sind Strukturen, nicht Personen, die zählen.« Gerade deshalb gäbe es nach der Niederlage nicht nur Trauer, sondern auch trotzige Hoffnung: »Im Krieg haben wir gemerkt, was möglich ist, wenn wir unsere Kräfte bündeln.«
Anfang Oktober hatten Raffi und Vache mit Freunden Erntehelfer für Bauern organisiert, deren Arbeiter an die Front abkommandiert worden waren: »Wir haben uns über Facebook verabredet, sind mit dem Bus rausgefahren und haben Auberginen gepflückt.« Kurz vor der Kapitulation verhandelte Vache gerade mit einer chinesischen Firma über die Produktion von schusssicheren Westen als Spenden für die Truppen.
Ob das Eriwan des Aufbruchs, das es vor dem Krieg war, so schnell wiederkehren wird, wissen Vache und Raffi nicht. Noch vor wenigen Wochen hatte ihr Freund Gervok Hunderttausende Dollar in einen neuen Coffeeshop investiert. Vaches Freundin Sevana, eine Musikerin, die aus Paris stammt, arbeitete an neuen Songs und gab Onlineunterricht. »Vor dem Krieg haben wir uns überlegt, wie wir die Stadt für Fußgänger attraktiver machen können, dann ging es plötzlich um die Beschaffung von Nachtsicht-Zielfernrohren«, sagt Raffi. Aber vielleicht sei diese existenzielle Erfahrung gar nicht so schlecht. Man wisse jetzt, wie zerbrechlich der Fortschritt doch ist.
Naré Martirosian, 19, studiert Theater und Filmkunst an der Eriwaner Staatsuniversität. Ihr christlicher Glaube half ihr in den vergangenen Wochen, erzählt sie. Was passierte, hatte sie, wie so viele, nicht kommen sehen: »Wir haben immer versucht, uns den Krieg vorzustellen, und hatten doch keine Ahnung«
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
»Außerdem hat uns der Krieg einmal mehr gezeigt, wo wir hingehören«, sagt Vache.
Seit dem Waffenstillstand hätten sich viele Armenier aus der Diaspora bei ihm gemeldet, sagt Raffi. Gerade habe er mit einer armenischen Familie aus Montreal gesprochen. »Die wollen in Eriwan in eine Business-School investieren.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel Globale Gesellschaft berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa - über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird über drei Jahre von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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Vache Asatrian und Raffi Elliott auf dem Balkon ihres Büros in Eriwan, Armenien
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Vache Asatrian und Raffi Elliott in ihrem Büro in Eriwan
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Blick vom Balkon des Start-ups Mutable in Eriwan
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Militärarzt Titan Asatrian auf dem Jerablur Militär Friedhof: »Wir alle sind traumatisiert«
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Eine Familie nimmt Abschied auf dem Jerablur Friedhof in Armeniens Hauptstadt Eriwan
Foto: Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Elen Grigorian vor der »Mother Armenia« Statur
Foto:
Johanna-Maria Fritz / DER SPIEGEL
Naré Martirosian, 19, studiert Theater und Filmkunst an der Eriwaner Staatsuniversität. Ihr christlicher Glaube half ihr in den vergangenen Wochen, erzählt sie. Was passierte, hatte sie, wie so viele, nicht kommen sehen: »Wir haben immer versucht, uns den Krieg vorzustellen, und hatten doch keine Ahnung«