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EU vor Brexit-Gipfel Plötzlich knallhart gegen May

Wenn die britische Regierung eine Brexit-Verschiebung will, bekommt sie eine - das galt bisher als sicher. Doch kurz vor dem entscheidenden Gipfel stellt die EU plötzlich verschärfte Bedingungen.

Nur noch neun Tage bleiben, bis Großbritannien aus der Europäischen Union austreten soll. Doch unmittelbar vor dem letzten EU-Gipfel vor dem Brexit-Termin am 29. März ist unklarer denn je, wie es weitergeht. Am Mittwochmorgen hat die britische Premierministerin Theresa May bei EU-Ratspräsident Donald Tusk offiziell eine Verlängerung der Verhandlungen bis zum 30. Juni beantragt. Dass die Staats- und Regierungschefs der anderen 27 Mitgliedstaaten einer relativ kurzen Verlängerung am Donnerstag in Brüssel zustimmen, galt bisher als nahezu sicher.

Jetzt aber stellen EU-Vertreter plötzlich strenge Bedingungen. Die härteste Position bezieht die Kommission. Kaum war Mays Brief öffentlich , wies diese den Antrag aus London brüsk zurück. Der Grund: die Europawahl, die vom 23. bis 26. Mai stattfindet. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker habe May in einem Telefonat darauf hingewiesen, dass Großbritannien an der Wahl teilnehmen müsse, wenn es seine EU-Mitgliedschaft über den 23. Mai hinaus verlängern wolle, erklärte eine Sprecherin der Brüsseler Behörde.

Der Hintergrund: Laut den EU-Verträgen müsste Großbritannien bei der Europawahl mitmachen, wenn es dann noch EU-Mitglied ist. Da das neu gewählte Parlament aber erst am 2. Juli erstmals zusammentritt, galt eine Brexit-Verschiebung in der EU bisher als relativ unproblematisch. Sicher, aus manchen Hauptstädten kam die Forderung, die Briten müssten den Sinn einer Verlängerung gut begründen. Dass aber irgendein Mitgliedsland die Verlängerung ablehnen und so einen chaotischen Brexit ohne Abkommen auslösen würde, schien extrem unwahrscheinlich.

Angst vor Übergreifen des britischen Chaos auf die EU

Nun aber formiert sich in der EU Widerstand gegen die Verlängerung. Die Kommission hatte ihre rechtliche Bedenken intern bereits vor einigen Tagen zur Sprache gebracht. Ihr Horrorszenario: Die Briten nehmen nicht an der Wahl teil, können sich aber bis Ende Juni nicht untereinander einigen und ziehen dann in letzter Sekunde einseitig den Austrittsantrag zurück, um einen katastrophalen No-Deal-Brexit zu verhindern.

Das EU-Parlament, heißt es in einem internen Dokument der Kommission, wäre dann ohne britische Abgeordnete - obwohl Großbritannien noch EU-Mitglied ist. Die Folge: Alle Entscheidungen des Parlaments, darunter die Wahl der neuen Kommission und ihres Präsidenten, wären dann womöglich anfechtbar. Jede Verlängerung der Brexit-Verhandlungen über den 23. Mai hinaus setze deshalb die britische Teilnahme an den Wahlen voraus. Das sei "der einzige Weg, das Funktionieren der EU-Institutionen zu schützen", heißt es in dem Papier.

Ironischerweise sieht die britische Regierung das genauso. Sie hatte bereits im März ein Dokument  veröffentlicht, in dem es heißt, dass das EU-Parlament ohne britische Abgeordnete unrechtmäßig zusammengesetzt wäre, sollte Großbritannien am 2. Juli noch Mitglied sein. "Das Funktionieren der EU-Institutionen wäre dann gefährdet", glauben auch die Briten.

Bundesregierung: Wer EU-Mitglied ist, muss Wahlen durchführen

Die EU-Kommission hatte den Botschaftern der EU-Staaten bereits in der vergangenen Woche hinter verschlossenen Türen dieses Szenario geschildert. Dass Juncker dies nun öffentlich macht, gibt der Warnung neues Gewicht. Auch in Berlin scheint man die Notwendigkeit erkannt zu haben, dass die Briten auf jeden Fall an der Wahl teilnehmen müssen, sollten sie am 23. Mai noch Mitglied sein. Es gebe "eine einfache Regel", sagte ein deutscher Regierungsvertreter. Wer Mitglied der EU sei, habe alle Rechte und Pflichten. "Und zu den Pflichten gehört, dass man die Wahlen durchführt."

EU-Ratspräsident Tusk deutete an, dass er ähnlicher Meinung ist. Mays Antrag auf Verlängerung bis zum 30. Juni "hat seine Vorzüge", sagte der Pole. "Aber er schafft eine Reihe von rechtlichen und politischen Fragen." Offen sei insbesondere, welche Dauer die Verlängerung haben solle. Eine kurze Variante sei zwar möglich, meinte Tusk. "Aber sie hängt von der Annahme des Austrittsabkommens im Unterhaus ab." Noch drastischer formulierte es Jean-Yves le Drian. "Unsere Botschaft ist eindeutig: Ratifiziert das Abkommen - oder tretet ohne Abkommen aus", sagt der französische Außenminister vor Abgeordneten in Paris.

Für die britische Regierung ist das eine kaum erfüllbare Bedingung. May muss demnach innerhalb der kommenden neun Tage den Deal mit der EU durchs Parlament bringen - obwohl er dort schon zweimal krachend gescheitert ist und Parlamentssprecher John Bercow eine dritte Abstimmung nur dann erlauben will, wenn May einen substanziell veränderten Vorschlag vorlegt. Das wiederum hat Tusk erneut ausgeschlossen. Man werde alles für eine Lösung tun, "natürlich ohne das Austrittsabkommen noch einmal zu öffnen".

May könnte nur noch eine Option haben

Damit steckt May in einer nahezu aussichtslosen Situation - es sei denn, Bercow lässt sich doch noch irgendwie erweichen, eine dritte Abstimmung zuzulassen. In diesem Fall könnte die harte Linie der EU May durchaus helfen. Dazu passt, dass Tusk für seine Verhältnisse ungewöhnlich düstere Worte wählte. Man müsse "bis zum allerletzten Moment eine positive Lösung suchen", sagte er. "Auch wenn die Hoffnung auf einen Erfolg zerbrechlich, ja sogar illusorisch wirken mag."

Sollte Bercow allerdings hart bleiben und eine dritte Abstimmung über den Deal verhindern, käme nur noch eines infrage, um einen No-Deal-Brexit zu verhindern: May müsste beantragen, den Brexit-Termin wesentlich weiter zu verschieben - und die Europawahl in ihrem Land organisieren. Das aber hat sie erst am Mittwoch im Parlament abgelehnt: "Als Premierministerin bin ich nicht bereit, den Brexit über den 30. Juni hinaus zu verlängern."

Das müsste dann wohl jemand anderes erledigen.

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