Stichwahl in Brasilien Jetzt entscheiden die Protestwähler

Stichwahl in Brasilien: Jetzt entscheiden die Protestwähler
Foto: STAFF/ REUTERSRio de Janeiro - Eine Woche ist eine lange Zeit in der Politik, vor allem im Wahlkampf. Noch vor einer Woche hatten alle Umfragen vorausgesagt, dass die Kandidatin Marina Silva in der zu erwartenden Stichwahl gegen Amtsinhaberin Dilma Rousseff antreten werde, ein Duell der beiden Frauen schien so gut wie sicher. Jetzt kommt es zwar am 26. Oktober zur Stichwahl, aber die einstige Umweltministerin ist nicht dabei.
Wie vor vier Jahren, als sie für die Grünen antrat, ist Silva erneut auf dem dritten Platz gelandet, mit rund 21 Prozent hat sie in etwa genausoviele Stimmen wie damals. Millionen Brasilianer sind offenbar in den vergangenen Tagen zu dem Sozialdemokraten Aécio Neves übergelaufen, der es auf beachtliche 34 Prozent brachte - nur sieben Prozent weniger als Amtsinhaberin Rousseff.
War das Phänomen Marina Silva also nur ein Strohfeuer? Ihr Projekt einer "Neuen Politik" ist langfristig angelegt, eigentlich wollte sie bei diesen Wahlen gar nicht antreten. Sie hatte es nicht geschafft, ihre eigene politische Gruppierung "Rede Sustentabilidade" (Das Netz der Nachhaltigkeit) rechtzeitig als Partei einzuschreiben und war daher ein Bündnis mit dem Präsidentschaftskandidaten Eduardo Campos von der relativ kleinen Sozialistischen Partei PSB eingegangen, einem aufstrebenden Ex-Gouverneur aus dem Nordosten.
Doch der Politiker kam Mitte August bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, Vize Silva übernahm seine Kandidatur. Ihr Charisma und der Mitleideffekt katapultierten sie in allen Umfragen an die Spitze, eine Zeitlang schien es, als ob sie Rousseff sogar im ersten Wahlgang schlagen könnte. Ihr fehlte jedoch eine robuste Partei im Rücken, ohne Allianzen und verlässliche Machtstrukturen in den Bundesstaaten fiel ihre Kampagne in sich zusammen. Überdies verwickelte sich die Kandidatin mehrfach in Widersprüche, ihre Wahlkampfberater waren überfordert.
Silvas Wähler werden entscheiden, wer regiert
Silva verfügte nur über ein Zehntel der Fernsehwerbezeit ihrer Konkurrentin Rousseff; deren Berater entfesselten in der Endphase des Wahlkampfs eine wahre Schlammschlacht gegen die einstige PT-Politikerin. Weil sie für eine orthodoxe Wirtschaftspolitik eintrat, wurde sie als "Kandidatin der Banken" verleumdet; in Fernsehspots unterstellte die PT der einstigen Kautschukzapferin, dass sie die Sozialprogramme für die Armen kürzen würde. Vor allem im armen Nordosten zündete die Kampagne: In vielen Nordost-Bundesstaaten erreichte Amtsinhaberin Rousseff eine absolute Mehrheit, Silva landete abgeschlagen auf dem dritten Platz.
Jetzt ist sie wie vor vier Jahren das Zünglein an der Waage: Ihre Wähler werden entscheiden, wer die nächsten vier Jahre Brasilien regieren wird. 21 Prozent sind ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. Sozialdemokrat Neves wird ihr weitreichende Zugeständnisse machen müssen, damit sie eine Wahlempfehlung für ihn ausspricht.
Wirtschaftspolitisch steht Silva Neves näher als Rousseff und der regierenden PT, doch vor allem in der Umweltpolitik wird die sozialdemokratische Partei PSDB ihr entgegenkommen müssen. Bei ihrem ersten Auftritt in der Wahlnacht machte sie deutlich, dass es ihr vor allem um Programmatisches geht. Ihre Berater ließen durchblicken, dass sie frühestens in einer Woche eine Position zur Stichwahl beziehen werde.
Allerdings ist überhaupt nicht sicher, ob Silvas Anhänger einer Wahlempfehlung ihres Idols folgen würden: Viele sind Protestwähler; sie haben Silva unterstützt, weil sie von den traditionellen Parteien enttäuscht sind. Die PSDB gehört jedoch ebenso wie die regierende PT zum politischen Establishment.
Schon der Großvater sollte Präsident werden
Trotz dieser Unwägbarkeiten hat Neves eine reelle Chance, die PT-Herrschaft nach zwölf Jahren zu beenden. Präsidentin Rousseff erreichte mit 41 Prozent weniger als erhofft, Umfragen hatten ihr zuletzt bis zu 46 Prozent vorausgesagt.
Neves dagegen hat in den vergangenen Tagen einen spektakulären Aufstieg gezeigt, aus der letzten Fernsehdebatte am Donnerstag ging er als strahlender Sieger hervor. Der joviale Ex-Gouverneur und Senator ist telegen, er verfügt über mehr Charisma als die Präsidentin, und er hat eine starke Partei im Rücken. Er stammt aus einer einflussreichen Politikerfamilie, sein Großvater Tancredo Neves hätte 1985 eigentlich das Präsidentenamt übernehmen sollen, er starb in der Nacht vor seiner Amtseinführung an einer schweren Krankheit. Enkel Aécio wurde zweimal zum Gouverneur des wichtigen Bundesstaats Minas Gerais gewählt, er kann überdies auf die Unterstützung von São Paulo zählen. Brasiliens mächtigster und reichster Bundesstaat ist fest in der Hand der PSDB.
Dem größten Land Südamerikas steht jetzt eine Wiederauflage des Wahlkampfs von 1994 ins Haus: Vor zwanzig Jahren besiegte der Sozialdemokrat Fernando Henrique Cardoso den Favoriten Lula, weil er als Finanzminister erfolgreich die Inflation bekämpft und die Wirtschaft stabilisiert hatte. Unter Rousseff hat die Inflation wieder Fahrt aufgenommen, die Wirtschaft dümpelt vor sich hin. Nach zwölf Jahren hat die PT in den Augen vieler Brasilianer abgewirtschaftet, zahlreiche Korruptionsskandale haben die Partei diskreditiert.
Ex-Präsident Lula läuft sich warm
Andererseits sind unter Lula und Rousseff Millionen Brasilianer in die Mittelschicht aufgestiegen, im armen Nordosten hängen ganze Landstriche von den Sozialprogrammen der Regierung ab. Neves wird sie überzeugen müssen, dass sie unter einer PSDB-Regierung nicht zurück ins Elend rutschen.
Er kann dabei auf einen erfahrenen Helfer bauen: Ex-Präsident Cardoso wird Neves zur Seite stehen, er hat dessen Kandidatur vorbereitet und gefördert. Auch auf der Gegenseite läuft sich ein altes Schlachtross warm: Ex-Präsident Lula wird alles daransetzen, um einen politischen Triumph seines alten Rivalen und Amtsvorgängers Cardoso zu verhindern, er wird sich mit seinem ganzen Charisma für Präsidentin Rousseff in die Bresche werfen.
Lula geht es dabei nicht nur um sein politisches Erbe: Seine politische Schutzbefohlene Rousseff soll ihm den Boden für sein Comeback bereiten. Bei den nächsten Wahlen im Jahr 2018 will Volksidol Lula selbst in den Präsidentenpalast zurückkehren.