Wahlkampf-Bilanz Sex, Lügen und zwei Pseudo-Helden
New York - In Manhattan scheint der US-Wahlkampf ein erstes Lynch-Opfer gefunden zu haben. Schlinge um den Hals, baumelt es von einem Baum an der West 15th Street, in Jeans und Sweatshirt. Beim näheren Hinsehen stellt sich heraus, dass der lebensgroße Körper aus Lumpen ist und der Kopf ein Kürbis, mit ausgestanzten Augen, Mund und Nase. An der Puppe hängt ein Pappschild, darauf drei gekrakelte Worte: "Wähl oder stirb!"
Ein Jux für den Halloween-Spuk am nächsten Wochenende. Doch treffender ließe sich auch der Präsidentschaftswahlkampf hier, der nun seinem Finale entgegen rast, kaum beschreiben. Es war ein Wahlkampf der grotesken Rekorde - in jeder Hinsicht: der teuerste, längste, spannendste, bitterste, schmutzigste, verlogenste, skurrilste, leidenschaftlichste. "Das Beste und das Schlimmste, was die Demokratie zu bieten hat", bilanziert das Wochenmagazin "Time".
Und was hat es am Ende gebracht? Die Kandidaten stehen einander fast genau so gegenüber wie vor sechs Monaten, als alles begann: Kopf an Kopf, mit einem statistisch bedeutungslosen Vorsprung des Amtsinhabers. Den Aufwand hätte man sich sparen können.
3,9 Milliarden Dollar Spesen
Oder auch nicht. Denn diese sechs Monate haben einem allerhand darüber gelehrt, wie amerikanische Politik in den Zeiten nach 9/11 funktioniert. Wie rasant sich alles verändert hat, selbst seit der historischen Pannenwahl von 2000. Damals fürchteten die Experten bereits, das System sei "völlig kaputt", wie Rob Richie, der Exekutivdirektor des Centers for Voting and Democracy sagte. Sie hatten keine Ahnung, was da noch alles kommen würde.
Schon das Geld. Wenn dieses Jahr alle Spesen abgerechnet sind, wird sich das Spektakel als teuerste US-Wahl aller Zeiten ins Guinness-Buch einschreiben: 3,9 Milliarden Dollar, die einzelnen Kongress-Wahlkämpfe inklusive - fast eine Milliarde mehr als beim letzten Mal.
Finanziert haben das überwiegend private Parteispender, die nach einer Bilanz des Centers for Responsive Politics allein 2,5 Milliarden Dollar locker machten. Das Spendengesetz, das solche Auswüchse eigentlich eindämmen sollte, hat genau das Gegenteil bewirkt: Es stutzte die Höchstgrenze für Einzelspenden - also gaben einfach viel mehr Leute kleinere Beträge.
Schonzeit beendet
"Geld", sagt der demokratische Ex-Senator Richard Bryan, "ist die destruktivste Kraft in der US-Politik". Denn das Geld floss diesmal nicht nur in logistische Ausgaben, Wahlkampf-Termine oder die Parteitags-Shows. Es diente der Finanzierung einer gnadenlosen Schlammschlacht, meist via TV-Spots, Radio-Propaganda, Lügen und Falschmeldungen.
Diese Schlammschlacht begann so früh wie nie zuvor. Schon im Februar meldete Online-Klatschkolumnist Matt Drudge (der Bill Clintons Affäre mit Monica Lewinsky "enthüllte"), John Kerry stehe davor, über einem ähnlichen Sex-Skandal zu "implodieren". Das Internet blies die Story so auf, dass die fragliche Dame, die Journalistin Alexandra Polier, zum populärsten Google-Suchobjekt wurde: "Das mag nur eine Fußnote im Wahlkampf gewesen sein", berichtete Polier über den persönlichen Fallout, "aber es hat mein Leben komplett verändert."
Und nicht nur das: "Die Geschichte veränderte sofort auch die Stimmung im Wahlkampf", sagt Kolumnist Walter Shapiro ("USA Today"). Dass alles nur ein gemeines Gerücht war, in Umlauf gebracht von republikanischen Helfershelfern und Parteirivalen Kerrys, war unwichtig. Die Schonzeit war beendet, bevor sie begann.
Eine Stimme für al-Qaida
Bald empfahl Vizepräsident Dick Cheney dem demokratischen Senator Patrick Leahy: "Go fuck yourself." Und Kerry nannte die Gegner "die betrügerischste, verlogenste Gruppe von Menschen, die ich je gesehen habe".
Der Wegfall der Schamgrenzen überraschte nicht. Die Fronten waren hart wie nie, Nerven lagen bloß, Leidenschaft vermischte sich mit Gift und Galle. Das war, wie der "New Yorker" in einer Analyse nachzeichnete, die direkte Folge der drei "schwarzen Dienstage" in der jüngsten US-Geschichte: der 7. November 2000, als die Mehrheit der Wähler Al Gore zum Präsidenten wählte, der 12. Dezember 2000, als die Mehrheit des Supreme Courts George W. Bush zum Präsidenten machte und der 11. September 2001, "der schwärzeste Dienstag von allen".
Die alten Rechnungen von 2000, das Trauma von 2001: Das waren die Leitmotive dieses Wahlkampfes. Eine Schicksalswahl, zumindest wollen sie das den Wählern glauben machen. Al Gore warf sich für Kerry in den Ring, mit einer flammenden Rhetorik, von der seine Anhänger damals nur träumen konnten. Bill Clinton schleppte sich vom Krankenbett auf Kerrys Bühne, um gegen eine zweite Bush-Amtszeit zu polemisieren. Bush sorgte mit seinen endlosen Terror-Alarmen und einer schamlosen Parteitags-Show dafür, dass die Wähler 9/11 ja nicht vergaßen. Cheney donnerte, eine Stimme für Kerry sei nichts anderes als eine Stimme für al-Qaida.
Fliegerdress und Feldanzug
Angst beherrschte alles. Wähle Kerry und dir drohen Autobomben. Wähle Bush und dir droht, dank des Impfnotstands die Grippe.
Derweil inszenierten die Image-Künstler ihre Kandidaten als identische Pappkameraden, zwei kostümierte G.I. Joes. Denn das war angeblich, wonach das Volk gierte: Macho-Helden. Bush im Fliegerdress, Kerry im Feldanzug (bei der Gänsejagd). "Bush ist ein Anführer", rief Vietnamveteran und Ex-General Tommy Franks. "Kerry ist ein amerikanischer Held", rief Vietnamveteran und Ex-Senator Max Cleland.
Gleichzeitig versuchten beide Seiten, das Image des anderen zu zerstören. Bushs fehlende Jahre in der Nationalgarde fielen wieder mal aus dem Archiv. Kerrys Vietnameinsatz wurde diskreditiert. In die Kampagnen, ausgefochten im Fernsehen und mit eiligen "Enthüllungsbüchern", investierten "unabhängige" Gruppen Millionensummen.
Mysterien des Basiswahlkampfes
Beide kamen durch die Angriffe schwer ins Stolpern. Der zu zögerliche Kerry musste seine gesamte Strategie umwerfen, denn die stützte sich ausschließlich auf Vietnam. Am Ende glichen sich die Verluste wieder aus und ebenso die Punktgewinne der Parteitage.
Dann wurde es kurz pseudo-ernst. Bush und Kerry warfen sich zu den drei TV-Debatten in dunkle Anzüge und rote Power-Schlipse, um immer wieder dieselben einstudierte Halbwahrheiten, Platitüden und Zahlenspiele in die Kameras zu deklamieren. Die meisten Medien nahmen dies schulterzuckend hin und rezensierten statt der Sachfragen lieber Mienenspiel und Sprachduktus der Kandidaten.
Die Wähler aber sahen nicht tatenlos zu. Die Parteien vermeldeten Rekord-Interesse, angefacht durch beispiellose Mobilisierungsaktionen und die Illusion, diesmal gehe es ums Überleben der Nation. Hunderttausende stellten sich an die Straßen, zogen durch Spritzenhäuser und gaben ihre Freizeit, um Briefumschläge mit Wahlwerbung zu füllen. Am Rande des Parteitags in Boston riefen die Demokraten zum erfolgreichsten Grassroots-Training ihrer Geschichte: Über 4500 Kerry-Fans ließen sich in die Mysterien des Door-to-Door-Basiswahlkampfs einweihen.
Bittere Ironie zum Wahlkampf-Abschluss
Der Ansturm auf Vorgarten-Schilder war so groß, dass der Bestand ausging. Selbst in verlassenen Geisterstädten in der Wüste New Mexicos fanden sich Bush-Kerry-Plakate. Anderswo verschwanden die Schilder über Nacht, wurden zerstört, bemalt, verunstaltet.
Politologen lässt das hoffen. Die normalerweise müde Wahlbeteiligung der Amerikaner werde diesmal von 54 Prozent in 2000 auf "58 bis 60 Prozent" ansteigen, prophezeit Curtis Gans, der Direktor des Centers for the Study of the American Electorate. Dies wären 12 bis 15 Millionen mehr Wähler als vor vier Jahren - ein bisher statistisch unerfasster Zulauf, der eine Prognose des Wahlverlaufs obsolet macht.
Apropos: Manche Kenner rechnen damit, dass das rechnerische Wahlergebnis diesmal genau andersrum ausfallen könnte als vor vier Jahren. "Es ist gut möglich, dass Bush jetzt die absolute Mehrheit gewinnt und Kerry die Mehrheit der entscheidenden Wahlmänner-Stimmen", sagt der renommierte Demoskop Maurice Carroll. Das wäre bittere Ironie - und der passende Abschluss dieses Spektakels.