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Wahlsieger Shinzo Abe Japans Anheizer

Shinzo Abe hat die Parlamentswahl in Japan haushoch gewonnen, er kommt damit seinem Ziel näher: die pazifistische Verfassung des Landes zu revidieren. Dabei nutzt er geschickt die aktuellen Spannungen mit Nordkorea.

Seit rund vier Wochen hat Nordkoreas Kim Jong Un keine Rakete mehr abgefeuert, ungewöhnlich lange schon. In Japan ist das allerdings kaum jemandem aufgefallen, denn dort gibt es einen Premier, der die Angst vor Nordkorea unermüdlich schürt: Shinzo Abe.

Er hat mit diesem Thema gerade haushoch die Unterhauswahl gewonnen.

Fast bei jedem seiner Wahlkampfauftritte kam Abe als Erstes auf Nordkorea zu sprechen. Japan sehe sich einer "nationalen Krise" ausgesetzt, rief er den Landsleuten zu. Ausdrücklich auch mit Verweis auf die Bedrohung aus Pjöngjang hatte er Ende September vorzeitig das Parlament aufgelöst und die Neuwahl angesetzt. Damit wollte er auch von eigenen politischen Skandalen ablenken.

Abes Taktik ging auf, auch weil die Opposition hoffnungslos zersplittert ist. Ausgerechnet Yuriko Koike, die Gouverneurin von Tokio und von vielen als Alternative zu Abe gehandelt, verhalf dem Premier ungewollt zum Sieg: Kurz vor der Wahl gründete sie eine "Partei der Hoffnung" und spaltete die Opposition damit zusätzlich.

Das Resultat: Abe kann voraussichtlich vier weitere Jahre regieren, und damit insgesamt so lange wie kein Nachkriegspremier vor ihm. Und er kann endlich sein vordringliches Projekt in Angriff nehmen: die Revision der pazifistischen Verfassung von 1947. Über die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit verfügt seine konservative Liberaldemokratische Partei (LDP) gemeinsam mit einem kleineren Partner, der neobuddhistischen Komeito-Partei.

Japans Albert Speer

Abe ist dabei, Japan militärisch und moralisch aufzurüsten, nicht nur gegen Nordkorea, sondern vor allem auch gegen den aufstrebenden Rivalen China. Dabei ist ihm die Friedensverfassung ein Ärgernis. Sie wurde Japan nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg von den amerikanischen Besatzern praktisch wortwörtlich diktiert.

Abe möchte vor allem Artikel 9 der Verfassung revidieren: Darin entsagt das japanische Volk "für alle Zeiten dem Krieg als souveränem Recht der Nation". Überdies verpflichtet es sich, "keine Land-, See- und Luftstreitkräfte" zu unterhalten.

Tatsächlich verfügt Japan längst über hochmoderne Streitkräfte - mit Rücksicht auf die Verfassung werden sie verschämt als Selbstverteidigungsstreitkräfte bezeichnet. Mit der angestrebten Revision möchte Abe die Rolle des Militärs eindeutig festschreiben.

Damit würde Abe zugleich das politische Vermächtnis seines Großvaters erfüllen, des Nachkriegspremiers Nobusuke Kishi. Der war im Zweiten Weltkrieg eine Art japanischer Albert Speer, als Rüstungsminister organisierte er die Kriegsmaschinerie. Nach der Niederlage 1945 wurde er als Kriegsverbrecher verhaftet, aber nicht angeklagt. Später wurde er Premier. Doch mit seinem wichtigsten Anliegen - der Revision der Friedensverfassung - scheiterte er.

Abe hat nur die erste Hürde genommen

Die Mehrheit der Japaner hatte genug vom Krieg. Und bis heute ist das Inselvolk in der Frage der Verfassungsrevision tief gespalten. Vor allem viele Ältere betrachten die Friedensverfassung als Teil der nationalen Nachkriegsidentität.

Ob Abe sein Projekt durchsetzen kann, ist daher auch nach dem gestrigen Wahlerfolg nicht garantiert. Selbst wenn das Parlament mit Zweidrittelmehrheit für die Verfassungsrevision stimmt, hätte Abe damit nur die erste Hürde genommen. Anschließend müssen die Japaner in einer Volksabstimmung über die Revision entscheiden.

Auch deshalb dürfte Abe die Furcht vor Nordkorea weiter anheizen. Für ihn kommt es darauf an, das Verteidigungsbewusstsein der Landsleute zu schärfen. Bei den jüngsten nordkoreanischen Raketentests ließ Abes Regierung im ganzen Land Sirenen heulen und Züge stoppen. Per Lautsprecher und SMS wurden die Menschen aufgefordert, Schutzräume aufzusuchen.

Das Schlimmste, was dem Verfassungsrevisionisten Abe jetzt passieren könnte, wäre, dass Nordkoreas Herrscher Kim plötzlich keine Raketen mehr abfeuern lässt und auf sein Atomprogramm verzichtet. Doch darum braucht Abe sich nicht zu sorgen: Die nächste Provokation aus Pjöngjang kommt bestimmt.

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