Multimedia-Spezial zum Brexit Ihr gehört dazu

An diesem Donnerstag entscheiden die Briten, ob ihr Land in der EU bleibt oder nicht. Ein Brexit wäre katastrophal für alle, auch für die Insel. Warum wir die Briten brauchen und die Briten uns. Ein Plädoyer.
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Es ist im Moment nicht leicht, England zu mögen. Einer der Gründe steht auf dem Marktplatz von Preston, im zugigen Westen der Insel, mit strohblonden Haaren, in Jeans und knittrigem Jackett. Boris Johnson war bis vor Kurzem Bürgermeister von London, jetzt hält er ein Mikrofon in der Hand und kämpft gegen Europa. Hinter ihm parkt ein rot lackierter Wahlkampfbus mit der Aufschrift: "Wir überweisen jeden Tag 50 Millionen Pfund an die EU." Johnson wippt auf Zehenspitzen wie ein Geburtstagskind. Doch die 50 Millionen sind nur die halbe Wahrheit - alle seriösen Berechnungen prophezeien Großbritannien im Brexit-Fall Verluste:

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Trotzdem: Boris, wie ihn jeder nennt, ist zur Leitfigur der Anti-EU-Kampagne aufgestiegen. Keinem Politiker vertrauen die Briten in diesem Referendum mehr als ihm. Seine Ankündigung, für die Brexit-Bewegung zu kämpfen, beherrschte die Titelseiten, es war auch eine Kriegserklärung an seinen Parteifreund David Cameron, den Premierminister. Johnson rollt nun in dem roten Bus über die Insel wie ein Gewitter. In Devon verglich er die EU mit Hitler, in Stafford sagte er, Brüssel verbiete den Verkauf von Bananen im Bund von mehr als zwei oder drei, schon deshalb müsse man aussteigen. Auf dieser Argumentationsebene lassen sich jedoch ebenso plausible Gegengründe finden:

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Brexit: Warum die Briten bleiben müssen

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"Weiß jemand, wie viele unserer Gesetze aus Brüssel stammen?", ruft Boris Johnson ins Mikro. "60 Prozent. Wir verlieren die Macht über unsere Demokratie!" Die 150 Zuschauer jubeln und klatschen. Und sei es nicht an der Zeit, fragt Johnson, die Grenzkontrollen in die eigene Hand zu nehmen? Immigranten seien schließlich mit dafür verantwortlich, dass die Löhne so niedrig seien. Seine Empfehlung:

"Stimmt für den Austritt, Freunde!"

Seit Wochen geht das so, nein, seit Monaten, und irgendwann, nach all den Ausbrüchen, fragt man sich: ja, warum eigentlich nicht? Wieso den Briten nicht das ermöglichen, wonach sich viele von ihnen offenbar sehnen: die Trennung von der EU? Der Rest Europas müsste dann ihren Widerstand nicht mehr ertragen, sie könnten auf der Insel froh und glücklich werden. Wäre das nicht die perfekte Lösung für alle?

Die Antwort lautet: nein. Ein Austritt der Briten wäre eine dreifache Katastrophe. Schlecht für Deutschland, dramatisch für Europa. Nach einem Brexit wird Deutschland einen wichtigen Verbündeten verlieren und als große Mittelmacht des Kontinents endgültig dazu verdammt sein, die Führungsrolle einzunehmen, die es nie wollte. Großbritannien gibt den Zugang zum europäischen Markt mit 500 Millionen Menschen auf und wird für die Isolation einen hohen Preis zahlen. Die Union als Ganzes wird nach einem Brexit wirtschaftlich kraftloser, innenpolitisch fragiler, von außen angreifbarer sein, worunter auch die Insel leidet.

Wir brauchen die Briten, weil sie zu Europa gehören, weil ohne sie die Union der europäischen Völker sinnlos und verloren ist. Wir brauchen sie, weil sie zur Gemeinschaft der pragmatischen vernünftigen Staaten zählen und weil sie politisch, kulturell und wirtschaftlich ähnlich ticken wie wir Deutschen. Sie sind uns näher als Portugiesen oder Kroaten, wir teilen ihre Skepsis gegenüber staatlicher Verschwendung, wir teilen auch ihren Frust über die EU. Nur mit den Briten können wir die Europäische Union besser machen, sie in eine neue Zukunft führen. Ohne sie fehlt ein wesentlicher Teil Europas auf diesem Weg. Und das ist längst nicht alles:

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Großbritannien war nie ein enthusiastisches Mitglied im europäischen Klub. Trotzdem ist die britische Geschichte untrennbar mit dem Kontinent verknüpft. Europa sei für die Insel immer wichtiger gewesen als der Rest der Welt, schreibt der Historiker Brendan Simms in seinem gerade erschienenen Buch "Britain's Europe". Das Britische Empire diente vor allem den strategischen Interessen von Macht- und Gegenmachtbildung auf dem Kontinent, im 16. und 17. Jahrhundert gegen Spanien, später gegen Frankreich und das zaristische Russland, im 20. Jahrhundert gegen Nazideutschland.

Europa formte Britannien, und Britannien formte Europa. Die Option, den Kontinent zu verlassen, gibt es geografisch leider nicht. Sorry. Und auch wenn die Briten manchmal unbequeme Europäer waren, sind sie unersetzlich und immer noch und gerade deshalb: Europäer. Sie haben viel zu verlieren, sollten sie der EU den Rücken kehren; sie haben aber noch mehr zu gewinnen, sollten sie bleiben. Sie brauchen uns genauso, wie wir sie brauchen:

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Brexit: Chronik

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Woher aber kommt die Bitterkeit, die Lust am Austritt?

Der Kampf der Brexiteers ist von Nostalgie geprägt, von der Sehnsucht, England zu altem Glanz zurückzuführen. "We want our country back", steht auf den Plakaten.

"Lasst uns die Kontrolle über unser Land zurückgewinnen", sagt auch Justizminister Michael Gove, neben Boris Johnson ein weiterer führender Brexit-Kämpfer. Es geht um Nation und Identität, auch um Abgrenzung. Großbritannien dürfe sich nicht an einen untergehenden Kontinent binden, heißt es, sondern müsse sich von den Fesseln lösen und dem Globus zuwenden, dem Commonwealth.

Ein Phantomschmerz schwingt mit.

Noch heute gilt der Satz des früheren US-Außenministers Dean Acheson von 1962: "Großbritannien hat ein Empire verloren und noch keine neue Rolle gefunden."

Die Brexiteers zeichnen ein belagertes Land in der Krise. Sie schüren die Angst vor dem Verfall, auch das hat Tradition auf der Insel. Die ständige Furcht vor dem Niedergang quält und martert die englische Seele seit Mitte des 15. Jahrhunderts, als Frankreich verloren ging, angeblich weil die Briten zu verweichlicht und zu Hause zerstritten waren und unter einer kränkelnden Monarchie litten. Auch der Minderwertigkeitskomplex gehört zu England.

Halb aus Angst, halb aus Wut führt das Brexit-Lager einen Abgrenzungsfeldzug gegen die Mächtigen in Brüssel, gegen den Verlust von Selbstbestimmung im vereinten Europa, gegen "ungeregelte Einwanderung" im eigenen Land.

Es ist ein "Wir gegen die"-Wahlkampf. Die Debatte ist so dreckig geworden, wie sie nur sein kann im Land Shakespeares, das politische Schlachten als Kriege inszeniert und wo am Ende nur Leichen auf der Bühne bleiben. Gove und Johnson haben das Referendum zum Plebiszit über Immigranten gemacht, über Osteuropäer und Türken. Das macht den Wahlkampf des Brexit-Lagers noch antieuropäischer, als er ohnehin schon ist. Und bei vielen wirkt er:

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Die Wahllokale öffnen am Donnerstag morgens um sieben und schließen abends um zehn. Großbritannien ist die Nation des "common sense", des gesunden Menschenverstands, und die Briten sind kein Volk, das sich vor Verantwortung drückt und vor schweren Aufgaben. Daran werden sie sich hoffentlich erinnern, wenn sie über die Zukunft nicht nur ihres Landes abstimmen. Sie haben die Wahl zwischen dem Fünfzigerjahre-Retro-Projekt der stolzen Isolation, das Johnson, Farage und Gove propagieren, und einem Europa, das mehr denn je bereit ist, erneuert zu werden. Die Wahl sollte nicht schwerfallen.

Das Referendum ist die folgenreichste Entscheidung seit Jahrzehnten. Ein Brexit wäre der Triumph der Zyniker über die Vernunft. Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass alle profitieren, wenn sich Großbritannien den Problemen stellt, anstatt fortzulaufen. Man möchte mit einem Lautsprecher über die Insel fahren und rufen: Wenn ihr für den Austritt stimmt, verlieren alle. Wenn ihr bleibt, werdet ihr gewinnen.

Es gibt eine nett gemeinte proeuropäische Kampagne von Kontinentaleuropäern in London mit dem Motto "Hug a Brit". Nichts aber wäre dem Briten peinlicher als die Umarmung durch einen Europäer, einen fremden dazu. Besser wäre ein fester Handschlag, verbunden mit der Bitte: bleibt!

Dieser Text ist eine gekürzte Version der SPIEGEL-Titelgeschichte aus der Ausgabe 24.

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