West Wing Wie gefährlich ist Amerika?

Helmut Schmidt, der als Bundeskanzler die Nachrüstung der Amerikaner gegen die Sowjets initiierte, findet das heutige Russland weniger gefährlich als das heutige Amerika. Das verwundert - und provoziert. Ein Widerspruch von Gabor Steingart

"Wegelagerer" hat Helmut Schmidt die Journalisten einst genannt. Zur Strafe ist er nun selber einer. Unsere Zunft darf das durchaus als Zeichen ihrer Unwiderstehlichkeit interpretieren. Einer mit seiner Erfahrung - Kriegserfahrung, Ministererfahrung und fast acht Jahre Kanzlerschaft – darf erwarten, dass man hinhört, wenn er spricht. Wobei zuhören nicht zustimmen bedeuten muss, zumindest nicht automatisch. Auch Altkanzler, erst recht wenn sie als Journalisten zu uns sprechen, können irren oder übertreiben. Das ist nicht ungewöhnlich. Unser Berufsstand ist für beides bekannt.

"Ich bin nicht der Meinung, dass jemand, der eine andere Meinung hat als ich, nur deswegen kritisiert werden muss", sagte Schmidt anlässlich seines 85. Geburtstags im Jahre 2003. Und fügte hinzu: "Er muss dann kritisiert werden, wenn er etwas vertritt, was nicht echt ist." Unterziehen wir also die unterschiedlichen Meinungen einem Echtheitstest. Schmidt sagt: "Für den Frieden der Welt geht von Russland heute viel weniger Gefahr aus als etwa von Amerika. Das können sie ruhig so drucken." So stand es dann auch in einem Interview, das er dem eigenen Blatt gab, der Wochenzeitung "Die Zeit". Putin sei für ihn kein lupenreiner Demokrat, wohl aber ein "aufgeklärter Potentat", hieß es da.

Aber warum sind die Amerikaner gefährlicher als die Russen? Wieso müssen wir uns vor dem Heimatland der Demokratie mehr fürchten als vor einem Potentaten, auch wenn er das schmückende Wort "aufgeklärt" in der Anrede führt? Und spielt es überhaupt eine Rolle, ob der Zensor gebildet oder minderbemittelt, barsch oder liebenswert ist? Wichtig ist doch: Der Zensor zensiert, der Potentat lässt Willkür walten.

Verhalten sich die Dinge nicht in Wahrheit genau anders herum: Die erfahrene amerikanische Demokratie ist grundsätzlich weniger gefährlich als jenes Russland, das nach Zarismus und Kommunismus nun ein paar Jahre Putin-Demokratie hinter sich hat. Selbst das dröhnende und zuweilen schwer erträgliche Amerika des George W. Bush ist mittlerweile deutlich weniger gefährlich als noch zum Beginn seiner Amtszeit. Bush ist heute der Hund, der bellt, aber nicht mehr beißt. Er wird von vier Faktoren limitiert, die Putin in dieser Absolutheit gar nicht kennt: dem eigenen Volk, der Verfassung, der unabhängigen Gerichtsbarkeit und der freien Presse. Alle vier verleihen in den USA Legitimität – und entziehen sie wieder. Das ist ja das Schöne an der Demokratie; das Volk hat das erste und das letzte Wort.

Bush verschwindet bald auf Nimmer Wiedersehen hinterm Vorhang. Putin dagegen wird in neuer Verkleidung bald wieder auf der Bühne stehen, als Oligarch, Gasprom-Boss oder als Regierungschef, wer weiß das schon so genau, sagt auch Schmidt. Verfassung, Volk, freie Presse und Verfassungsgericht jedenfalls können ihn nicht bremsen. Das mag typisch russisch sein, aber unheimlich ist es eben auch.

Das heutige Russland ist ein unbefestigtes Land. Seitdem Michail Gorbatschow das Sowjetreich aufgab, schwankt Russland wie ein Anker, der sich vom Boden losgerissen hat. Mal will es zu Europa gehören, weshalb Putin im Vorfeld des Irak-Krieges mit Deutschland und Frankreich einen Pakt gegen Amerika zu schließen versuchte. Dann wieder zieht es die Russen in Richtung Asien, wo Putin seit längerem darauf drängt, das regionale Bündnis mit den Chinesen zu einem Militärbündnis zu erweitern. Erst kürzlich gab es gemeinsame Manöver.

Seit Gorbatschow ans Ruder kam, hat die russische Armee keine Grenze mehr überschritten, sagt Helmut Schmidt. Die Russen hätten keinen aggressiven Akt begangen. Sie haben sich sogar die Loslösung der Ukraine und Weißrusslands aus dem alten zaristischen Reich gefallen lassen. Ohne Bürgerkrieg. Eine erstaunliche Leistung, wie Schmidt findet.

Putin ist ein Pazifist wider Willen

Das ist eine erstaunliche Leistung, aber eine, die auf einer erstaunlichen Schwäche beruht. Das heutige Moskau ist schon froh, wenn die russische Minderheit in den ehemaligen Satellitenrepubliken ordentlich behandelt wird. Die russische Armee befindet sich, nach allem was man im Westen weiß, in einem erbärmlichen Zustand. Putin ist ein Pazifist wider Willen. Und auch das nur, wenn wir den blutigen Krieg in Tschetschenien nicht mitzählen.

Die Russen werden von allen Seiten gedemütigt

Von allen Seiten wird das große Reich heute gedemütigt. Als Gegenspieler der Amerikaner tritt der Präsident Irans auf. Ein Land mit dem Bruttoinlandsprodukt etwa in der Größe des US-Bundesstaates Connecticut nimmt jene Rolle ein, die Stalin und seine Nachfahren eigentlich für Russland reserviert hatten.

Ökonomisch wird Russland von China vorgeführt. Das Nachbarland, das schon den eigenen Rohstoffhunger nicht durch eigene Ressourcen stillen kann, schießt in die Weltspitze der Wirtschaftsmächte vor. Die Chinesen drehen dabei niemandem den Hahn zu und entziehen keine Überflugrechte, sie beliefern mit Bienenfleiß ihre weltweite Kundschaft. Sie haben alle Raffinesse einer "Softpower" herausgebildet. Die Russen dagegen stampfen noch immer mit dem Stiefel auf, wenn ihnen irgendwas nicht passt.

Russland besitzt Öl und Gas, Diamanten, Kupfer oder Holz und hat bis heute auf alledem kein wirklich vorzeigbares Industrieimperium begründet. Wohl und Wehe des Landes hängt trotz Putins emsiger Sanierungsarbeit an der Höhe des Ölpreises. Der Noch-Präsident ist ein Öl- und Gasbaron, aber eben nicht der Chef eines modernen Industrielandes. Die Vielzahl dieser Schwächen macht das heutige Russland unberechenbar und damit gefährlich. Denn gegen inneren Zerfall und Demütigung von außen hilft am ehesten noch ein Schluck Größenwahn. Der beseitigt die Schmerzen nicht, aber er lindert sie.

Amerika hat sich international isoliert

Nun zu Amerika: Die Großmacht durchlebt eine ähnlich schwierige Phase wie Anfang der siebziger Jahre, als der Vietnamkrieg sein unrühmliches Ende nahm. Die Großmacht spürt, dass alles Dröhnen und Tönen vom "Kampf der Kulturen" und dem "Krieg gegen den Terror" niemanden beeindruckt, solange an den eigentlichen Kriegsfronten die Erfolge ausbleiben. Die Taliban in Afghanistan sind putzmunter. Sie bewegen sich im Volk wie die Fische im Wasser. Die Befriedung des Irak will ebenfalls nicht gelingen. International hat Amerika sich isoliert. Aus keinem noch so entlegenen Winkel der Welt empfängt Bush derzeit das Signal, dass die Welt sich mehr Amerika wünscht.

Im Inland herrscht denn auch keineswegs eine aufgekratzte Kriegsstimmung. Die Amerikaner sind trotzig, sie wollen den Krieg nicht verlieren, aber kriegslüstern sind sie nicht. Die Strategie der Aggression, der Angriff auf Verdacht, die Doktrin des preemptive strike, gelten als militärisch und politisch gescheitert. Was will man mehr? "Es war ein Krieg der Wahl, nicht ein Krieg der Notwendigkeit", sagt Schmidt zu Recht über den Irak-Feldzug. Aber nicht einmal diese Wahl hat der scheidende Präsident heute mehr. Ein weiterer Bodenkrieg ist für ihn nicht drin. Selbst die Armee ist müde. "We are overstretched", sagte kürzlich der Chief of Staff des US-Militärs. Zurzeit wird der Teilrückzug aus Bagdad eingeleitet. Der Mann im Weißen Haus knirscht mit den Zähnen, aber er holt die ersten Truppen heim. Widerwillig! Unwirsch! Aber er tut es.

Wenn Bush könnte, wie er wollte, wäre er vielleicht gefährlich. Aber er kann nicht. Das ist ja gerade der Unterschied. In der Demokratie ist der Einzelwille dem Volk verantwortlich und nicht umgekehrt. Mir jedenfalls sind engstirnige Demokraten lieber als aufgeklärte Potentaten. Am besten für das Land freilich sind aufgeklärte Demokraten - so wie Helmut Schmidt einer war und noch hoffentlich lange ist.

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