West Wing Wo ist der deutsche Barack Obama?

Die Parteien in den USA wählen in einem urdemokratischen Spektakel ihre Spitzenkandidaten und erlauben so den Aufstieg von Barack Obama – Deutschland schaut fasziniert zu. Was dort auf offener Bühne ausgetragen wird, findet hier im Hinterzimmer statt. Muss das so bleiben?
Von Gabor Steingart

Washington - Der Franzose Alexis de Tocqueville fuhr einst nach Amerika, um zu erkunden, was die Alte von der Neuen Welt wohl lernen könnte. Und was besser nicht. "Über die Demokratie in Amerika" hat er seinen Bericht genannt. Er ist, obwohl vor mehr als 160 Jahren verfasst, ein Buch der Wahrheiten geblieben.

Die Geschäftemacherei der Amerikaner etwa ging de Tocqueville gehörig auf die Nerven: "Ich kenne kein Land, in dem die Liebe zum Geld einen so großen Platz im Herzen der Menschen einnimmt", schrieb der spätere kurzzeitige französische Außenminister. Wer heute miterlebt, wie die amerikanischen Banken selbst dem nackten Mann in die Tasche greifen, ihm Kredite aufdrängen, an denen er lebenslang wird tragen müssen, kann sich dieser Einsicht nicht verweigern.

Chancenreiche Kandidaten hüben und drüben: Barack Obama und SPD-Chef Kurt Beck

Chancenreiche Kandidaten hüben und drüben: Barack Obama und SPD-Chef Kurt Beck

Foto: AP; REUTERS

Über die amerikanische Demokratie schrieb Tocqueville: "Das Volk beherrscht die politische Welt Amerikas wie Gott das Universum. Das Volk ist Anfang und Ende aller Dinge."

Wer die Vorwahlen zu den im November stattfindenden Präsidentschaftswahlen beobachtet, kann sich der Faszination kaum entziehen. Welche Vielfalt der Programme und Personen! Der schrullige Konservative, der die CIA abschaffen will, der tapfere Vietnam-Veteran, der Unternehmer, der Verbraucheranwalt, die ehemalige First Lady und, nicht zu vergessen, der schwarze Senator Barack Obama, der die Herzen der Jugend verzaubert.

Gestern, auf dem Flug nach Deutschland, nahm ich eine Tageszeitung zur Hand. Und ein Name stach mir ins Auge, den ich über Monate verdrängt hatte: Kurt Beck.

Der deutsche Barack Obama heißt in gewisser Weise Kurt Beck. Was wie eine absurde Polemik klingt, ist nichts als die Wahrheit. Denn wenn nichts Unvorhergesehenes mehr passiert, ist Beck der Kandidat, mit dem die deutsche Sozialdemokratie in die Feldschlacht zieht.

Kurt Beck nominiert Kurt Beck

Ohne TV-Duell. Ohne Bürgergespräch. Ohne Gegenkandidat. Ohne wirkliche Wahl. Es ist, als habe sich Tocquevilles demokratischer Garten Eden in einen Behördenparkplatz verwandelt.

Kurt Beck nominiert Kurt Beck, das ist die deutsche Wirklichkeit. Selbstkrönung nannte man das bei Kaisern. Im Parteiendeutsch heißt es verschämt: Der Vorsitzende hat das Recht des ersten Zugriffs.

Es soll hier nicht gegen Kurt Beck gesprochen werden. Der Mann nimmt sich nur jene Rechte, die andere vor ihm sich auch genommen haben. Es geht um die Spielregeln, die einer entwickelten Demokratie wie der unseren unwürdig sind.

Was in Amerika auf offener Bühne ausgetragen wird, findet hier im Hinterzimmer statt. Dort kungeln einige mächtige Parteifunktionäre unter sich ihren Vorsitzenden, respektive Kandidaten aus. Weder das Volk, noch die gesamte Partei, und wenn man ehrlich ist, noch nicht mal Präsidium und Vorstand in Gänze haben ein Wort mitzureden. Nicht die Partei hat 2002 eine Kandidatur Angela Merkels verhindert, Edmund Stoiber in einer kleinen Riege mit anderen mächtigen Unionsmännern war es. Die konservativen Vorwahlen fanden am Küchentisch in Wolfratshausen ihren Abschluss.

Das deutsche System erzieht die Politiker regelrecht zur Heimlichtuerei und zum Strippenziehen. "Eine Intrige kostet 23 Pfennig", hat Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Henning Voscherau einst zur Umschreibung seines Politikerdaseins gesagt. Die Währung im Leben der Bürger hat sich seither verändert, die der Politiker nicht.

Unterm Behördenparkplatz wuchert das Grün

Dabei würde die SPD, ließe man sie wie sie könnte, 2009 vermutlich eine durchaus respektable Kandidatenschar aufbieten. Unterm Behördenparkplatz blüht es.

Die Parteilinke Andrea Nahles würde zügig kandidieren, ein politisches Naturtalent wäre zu besichtigen, das nach den heutigen Gepflogenheiten von einer Spitzenkandidatur rund 20 Jahre entfernt ist. Umweltminister Sigmar Gabriel könnte gar nicht anders, als subito anzutreten. Ja, ich will, würde einer mit seinem Temperament lustvoll ausrufen. Was heute ein Putsch gegen die Obrigkeit wäre, erschiene dann als die reinste Selbstverständlichkeit.

Welch eine Freude für das Publikum: Außenminister Frank-Walter Steinmeier, auch er kandidabel, müsste erstmals in seinem Leben Tausende von Bürgerfragen beantworten, statt in selber Stückzahl Statements vor exotischer Kulisse abzuliefern. Der Finanzminister könnte beweisen, ob nur er oder auch das gewöhnliche SPD-Mitglied in ihm einen zweiten Helmut Schmidt erblickt. Kurt Beck, den Gevater Zufall zum Parteivorsitzenden gemacht hat und der nun drauf und dran ist, nach den Sternen zu greifen, bekäme das, was er verdient hat: Konkurrenz.

Bei der CDU dürften amerikanische Gepflogenheiten in dieser Wahlsaison nicht viel ändern. Als Kanzlerin würde man Angela Merkel die Spitzenkandidatur wohl kaum entreißen können.

Vor der letzen Bundestagswahl allerdings wäre es spannend gewesen. Roland Koch hätte das hessische Hinterzimmer verlassen müssen. Auch Friedrich Merz, ein kühler Kopf, der noch dazu begnadet reden kann, wäre dann vielleicht auch noch mal zurückgekommen.

Angela Merkel hätte mächtig zu beißen gehabt - und womöglich dennoch profitiert. Sie wäre zumindest nicht derart unbedarft in die Wahlauseinandersetzung mit Gerhard Schröder gestolpert. Was Tocqueville in Amerika beobachtete, hätte sie dann am eigene Leibe und deutlich früher erfahren: "Das Volk fühlt mehr, als es denkt."

Keine Gefahr für Europas Parteiobere

Es wäre zu einfach, die deutschen Parteivorsitzenden als provinziell zu bezeichnen. Sie verfolgen alle das Spektakel in Amerika. Aber vor allem verfolgen sie ihre Interessen.

Mehr Demokratie wagen? Frau Merkel würde es sich verbitten. Auch der SPD-Chef würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um die Durchsetzung der Demokratie im eigenen Sprengel zu verhindern.

Alexis de Tocqueville könnte ihn allerdings beruhigen. Der Franzose hat die amerikanischen mit den europäischen Parteien verglichen und kam zu dem Schluss, dass den Parteioberen in Europa keine Gefahr droht: "Die Mitglieder dieser Parteien gehorchen einem Befehl wie die Soldaten im Felde. Sie opfern durch ihren Beitritt zugleich ihr eigenes Urteil und ihren Willen vollkommen auf."

Wie gesagt: Der Franzose hat das vor rund 160 Jahren geschrieben. Eigentlich wäre es an der Zeit, ihn zu widerlegen.

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