Militärputsch gegen Mursi Drei Szenarien für Ägypten

Militärputsch gegen Mursi: Drei Szenarien für Ägypten
Foto: Khaled Abdullah/ REUTERSKairo/Hamburg - Der Jubel auf dem Tahrir-Platz ist verklungen, am Tag nach dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi kehrt in Kairo langsam wieder der Alltag ein.
Am Vormittag wurde Adli Mansur, Präsident des ägyptischen Verfassungsgerichts, als neues Staatsoberhaupt vereidigt. Ägyptens Übergangsregierung gibt sich damit ein ziviles Gesicht, im Hintergrund zieht aber das Militär die Fäden. Armeechef Abd al-Fattah al-Sisi hat in seiner am Mittwochabend verlesenen Erklärung zugesagt, dass nach einer Interimsphase das Volk einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament wählen soll. Einen genauen Zeitplan nannte er jedoch nicht.
Wie wird es in Ägypten weitergehen?
Variante 1: Zügiger Machtwechsel

Die Wunschvorstellung der internationalen Gemeinschaft und vieler Ägypter sieht so aus: Alle politischen Kräfte setzen sich schnellstmöglich an den Verhandlungstisch und erarbeiten zügig ein neues Wahlgesetz. Die zerstrittenen liberalen Parteien einigen sich auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten - vielleicht den international angesehenen Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei - der dann vom Volk gewählt wird.
ElBaradei hat offenbar auch Chancen, einer Übergangsregierung vorzustehen. Er sei die erste Wahl, hieß es am Donnerstag aus dem engeren Umfeld des militärischen Oberkommandos. "Er ist international bekannt, kommt bei den jungen Leuten gut an und glaubt an eine Demokratie, die alle politischen Kräfte einschließt. Auch bei einigen islamistischen Gruppen ist er populär."
Eine Übergangsregierung unter ElBaradei gibt ihre Macht nach den Wahlen ab, die Armee kehrt in ihre Kasernen zurück. Das Demokratie-Experiment am Nil würde noch in diesem Jahr von Neuem beginnen.
Nun läuft im Nahen Osten selten etwas nach Plan. Realistischer ist daher ein anderes Szenario:
Variante 2: Längere Militärherrschaft
Die ägyptische Gesellschaft ist tief gespalten. Den Millionen, die den Putsch gegen Mursi bejubeln, steht eine große Minderheit gegenüber, die den demokratisch gewählten Präsidenten zu Unrecht gestürzt sieht. Die Anhänger der Muslimbrüder betrachten die Übergangsregierung als illegitim. Das macht einen breiten gesellschaftlichen Konsens über den zukünftigen Kurs in Kairo schwierig. Welche Macht soll ein zukünftiger Präsident haben? Wie kann verhindert werden, dass eine demokratisch gewählte Partei über die Köpfe der Minderheit hinweg regiert? Diese Fragen müssen zügig und zugleich sorgfältig geklärt werden.
Hinzu kommen die alltäglichen Probleme der Bürger, die auch Ägyptens Armee nicht wird lösen können. Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden, wegen der instabilen Lage meiden viele Touristen die Badeorte am Roten Meer. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 70 Prozent der Ägypter auf subventionierte Nahrungsmittel angewiesen. Selbst wenn der Staat sich bemüht, die Preise für Brot und Gas künstlich niedrig zu halten, sind diese Güter für die armen Bevölkerungsschichten inzwischen nahezu unerschwinglich geworden.
Auch wenn diese Alltagssorgen in der gegenwärtigen Euphorie fast vergessen scheinen: Es wird nur Wochen oder Monate dauern, bis die Menschen merken, dass sich ihre Probleme nicht in Luft auflösen, wenn die Muslimbrüder von der Macht vertrieben sind.
Vieles wird davon abhängen, wie das Militär dann mit Protesten umgeht. Als die Armee nach der Absetzung von Diktator Husni Mubarak 2011 die Macht übernommen hatte, reagierten die Sicherheitskräfte rücksichtslos auf Widerstand gegen ihre Herrschaft: Mehr als 15.000 Ägypter landeten vor Militärgerichten und wurden unter fadenscheinigen Gründen in Gefängnisse gesteckt. Rücksichtslos schlug die Armee im Oktober 2011 einen Protest von Kopten in Kairo nieder und tötete mindestens 28 Menschen.
Zugleich nutzte das Militär damals die instabile Lage, um sich immer länger an der Macht zu halten. Im Februar 2011 versprach die Armee, die Macht binnen sechs Monaten an eine demokratisch gewählte Regierung abzugeben. Aus einem halben Jahr wurden 16 Monate. Der miserabel geführte Übergangsprozess trug damals maßgeblich dazu bei, dass die Muslimbrüder sich später immer mehr Machtbefugnisse sichern konnten und die eigentlichen Träger des Aufstands gegen Mubarak - die Jugendbewegungen und linke Gruppen - an den Rand gedrängt wurden.
Die Erfahrung von 2011 lässt befürchten, dass die Armee auch diesmal länger am Ruder bleiben wird, als sie heute sagt.
Variante 3: Comeback der Muslimbrüder
Genau wie damals könnte davon die Gruppe profitieren, die heute noch als Verlierer dasteht: die Muslimbruderschaft.
Auch wenn das Militär nach dem Putsch entschieden gegen die Muslimbrüder vorgeht, ihre TV-Sender geschlossen und Führungsfiguren verhaftet hat: Die Armee wird es nicht schaffen, eine Bewegung, die 85 Jahre Oppositionserfahrung hat, von der Bildfläche verschwinden zu lassen.
Sollten die Muslimbrüder bei den angekündigten Wahlen antreten dürfen, hätten sie gute Chancen erneut stärkste Kraft zu werden. Keine andere Bewegung ist so gut landesweit vernetzt. Noch gibt sich die Opposition geschlossen, doch schon kurz nach Mubaraks Sturz war es mit der Einigkeit vorbei.
Und auch heute zeichnen sich schon Spannungen innerhalb des Anti-Mursi-Lagers ab. Streit herrscht unter anderem darüber, welche Rolle der Islam in einem zukünftigen Ägypten spielen und wie das Land auf die Forderungen des Internationalen Währungsfonds nach Wirtschaftsreformen und Liberalisierung reagieren soll. Hinzu kommen persönliche Animositäten zwischen den Oppositionspolitikern Mohamed ElBaradei, Amr Mussa und Hamdin Sabahi, die sich schon bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen nach Mubarak nicht einig wurden.
Dies lässt den Islamisten aus dem Umfeld der Muslimbrüder gute Chancen für ein Comeback. Schon bald könnten sie wieder auf die Stimmen derjenigen zählen, die von der Armee desillusioniert werden. Zudem hat der Putsch der Bruderschaft eine gute Gelegenheit verschafft, sich wieder einmal als Opfer der Verhältnisse zu stilisieren.
Die Muslimbrüder stricken bereits eifrig an der Dolchstoßlegende, dass sich die Armee gegen den legitimen Präsidenten verschworen und diesen gestürzt hat. Sie können zudem auch weiterhin darauf verweisen, noch nie eine Wahl verloren zu haben. Diese Niederlage hat ihnen das Militär erspart.