Geiseldiplomatie Wie Russland Israel dazu brachte, Impfstoff für Assad zu kaufen

Trägt Mund-Nasen-Schutz – und hat nun auch Impfstoff aus Russland in seinem Land: Baschar al-Assad
Foto: APWenn Israelis in den Abendnachrichten Yaron Blum sehen, wissen sie: Jetzt geht es um Leben und Tod. Er ist ein bekanntes Gesicht, was weniger an seinem imposanten Schnauzbart und der randlosen Brille mit den roten Bügeln liegt als an seinem Job.
Yaron Blum ist Koordinator für Kriegsgefangene und im Einsatz vermisste Soldaten. Wenn die Regierung von Premier Benjamin Netanyahu über das Schicksal von Soldaten mit seinen Feinden verhandelt, ist Yaron Blum seit 2017 immer offiziell dabei.
Der 62-Jährige hat zuvor lange für den Inlandsgeheimdienst Schin Bet gearbeitet. Mit der palästinensischen Terrorgruppe Hamas hat er über die Freilassung von Gilad Schalit verhandelt, bis der 2011 lebend aus seiner Gefangenschaft im Gazastreifen zurückkam. Im Gegenzug wurden mehr als 1000 Palästinenser aus israelischen Gefängnissen entlassen. Der Fall machte damals weltweit Schlagzeilen.
Israels Gefangenenaustausch-Operationen hatten schon oft eine leicht makabre Note. Denn: Wenn Israel mit seinen Todfeinden von der libanesischen Hisbollah oder der Hamas im Gazastreifen über einen Austausch verhandelte, ging es mitnichten nur um Gefangene. Verschleppte gilt es um jeden Preis zurückzuholen, egal wann, egal, wie viel von ihnen noch übrig war oder ist, so Israels Grundsatz. So tauschten die islamistischen Milizen weit häufiger Knochen, tiefgefrorene Gliedmaßen und persönliche Gegenstände als lebende israelische Geiseln ein.
Ein kleiner Gefangenenaustausch, viele große Verlierer
Dennoch waren die stets mit großem Aplomb begangenen Übergaben ein politischer Erfolg für alle Beteiligten. Nun hat ein vergleichsweise kleiner Transfer – zwei syrische Schäfer gegen eine Zivilistin aus Israel – sich zur Affäre ausgewachsen, die nach und nach alle Beteiligten ramponiert. Die Protagonisten dieser geopolitischen Tragikomödie: Russland, das syrische Assad-Regime, Benjamin Netanyahu – und die Palästinenser.
Eigentlich fing alles vergleichsweise harmlos an: Am Freitagmorgen vergangener Woche ließ Premier Netanyahu mitteilen, dass eine junge Israelin aus Gefangenschaft in Syrien freigekommen sei – im Austausch gegen zwei syrische Schäfer, die auf den israelisch besetzten Golanhöhen gefangen genommen worden waren.
Russlands Regierung habe vermittelt, Yaron Blum war an den Verhandlungen beteiligt. Am Ende habe ein Sonderflugzeug der israelischen Regierung die junge Frau abgeholt. Damit hätte die Geschichte erzählt sein können.
Gefährliche Wanderung um Mitternacht ins Feindesland
Doch der Fall der jungen Frau sorgte für Aufsehen, die israelische Öffentlichkeit rätselte: Was trieb die Mittzwanzigerin, deren Name auf Gerichtsbeschluss nicht öffentlich genannt wird, aus ihrem streng religiösen Heimatort Modi'in Illit eigentlich ins Feindesland?
Am Abend des 2. Februar war sie mit dem öffentlichen Überlandbus in das Grenzstädtchen Madschdal Schams gefahren, in dem die religiöse Minderheit der Drusen lebt. Von dort war sie vermutlich zu einem steilen Abschnitt des nahen Hermon-Berges, den sonst nur Ziegen nutzen, gewandert und schließlich über die Grenze gegangen, die anderswo mit Stahlzäunen und fast überall mit Minenfeldern gesichert ist. Die israelische Armee hat am Montagabend die Ergebnisse des Untersuchungsberichts veröffentlicht. Fazit: Die junge Frau kannte das Areal, hatte es wohl schon zuvor ausgespäht.

Eigentlich gut gesichert – auch durch Gebirgsjäger: Israels Grenze zu Syrien auf den Golanhöhen
Foto: JALAA MAREY/ AFPDer tatsächliche Grenzübertritt gegen Mitternacht – ein lebensgefährliches Unterfangen. Und, wie sich bald herausstellte, bereits ihr vierter Versuch, Israels hermetisch gesicherte Außengrenzen zu überwinden: um herauszukommen, nicht herein, wogegen die Sicherheitsanlagen eigentlich gedacht sind.
Zweimal hatte sie vorher zudem vergeblich versucht, nach Gaza zu kommen, einmal angeblich auf einem selbst gebauten Floß. Dann wollte sie nach Jordanien durchbrechen. Nach Syrien gelang es ihr schließlich.
Nur warum das alles?
Zum Repertoire von Strengreligiösen gehören illegale Grenzübertritte nicht, schon gar nicht für unverheiratete, junge Töchter. Aus ihrem Facebook-Profil und anderen Facetten fügt sich das Bild einer Frau, die von einem grenzenlosen Nahen Osten träumt und von Wanderlust getrieben ist. Vor und unmittelbar nach der Gründung Israels 1948 waren solche Trips vor allem unter linken Kibbuzniks beliebt. Die, die von den oft tagelangen Wüstentrips ins Feindesland zurückkamen, wurden zu lebenden Legenden, ihre Abenteuer zu Pophits. Aber das ist ein halbes Jahrhundert her.
In diesem Jahr schaffte es die junge Frau nur bis ins erste Dorf, dort wurde sie festgenommen.

Wanderlust in der Wüste: Trips ins Feindesland waren besonders in den Gründerjahren bei linken Israelis beliebt
Foto: Cavan Images / imago imagesLieber im israelischen Knast als in den Händen Assads
Syrien wandte sich alsbald an seine Schutzmacht Russland, um mit Moskaus Hilfe einen Austausch zu verhandeln. Das Kuriose: Diab Kahmuz und Nihal al-Malka, die ursprünglichen Austauschkandidaten, die den Syrern zurückgegeben werden sollten, wollten gar nicht. Sie ruinierten den Mythos von den opferbereiten Widerstandskämpfern der Hisbollah. Diab Kahmuz aus einem alawitischen Dorf nahe der israelischen Grenze zum Libanon war vor fünf Jahren erwischt worden, als er Sprengstoff für die Hisbollah ins Land schmuggeln wollte. Der Druse Nihal al-Malka von den Golanhöhen wurde als Mittelsmann verhaftet. Nun sollten sie als freie Männer nach Damaskus gebracht werden.
Doch sie wollten eben gar nicht, Kahmuz auf keinen Fall, bei Malka gibt es unterschiedliche Aussagen. Offenbar bleiben sie lieber in geheizten Zellen mit warmen Mahlzeiten im israelischen Gefängnis. So fiel das Los auf die beiden Schäfer, die immerhin zur freiwilligen Rückreise bereit waren.
1,2 Millionen Dollar für 50.000 Impfdosen
Dann kam auch noch heraus, dass Moskau sich seine Vermittlung mit einem pikanten Zusatzdeal für 1,2 Millionen Dollar hatte bezahlen lassen: Für diese Summe kauft Israel den russischen Corona-Impfstoff Sputnik V, genug Dosen für etwa 50.000 Menschen. Lieferadresse: Damaskus. Das nun rief die Palästinenser auf den Plan, denen Israel Impfungen bislang weitgehend vorenthalten hat, während es bei der Impfung der eigenen Bevölkerung weltweit vorn liegt.
Ahmad Tibi etwa schrieb auf Twitter: »Müssen wir darauf warten, bis ein Jude/eine Jüdin die Grenze zum Gazastreifen überquert, bis die Palästinenser dort geimpft werden?« Tibi ist ein prominenter arabischer Politiker, der in der israelischen Knesset sitzt. Er setzte seinen Tweet an dem Tag ab, an dem die junge Israelin aus Russland zurückkehrte.
In normalen Zeiten wäre der Geiselaustausch zwischen Israel und Syrien für Netanyahu ein glänzender Erfolg. Er hätte sein Image als Weltpolitiker pflegen können. Doch aus dem avisierten außenpolitischen Punktsieg wird für ihn nun ein innenpolitisches Problem. Die Debatte darüber, wie Israel in der Impfstofffrage die Palästinenser behandelt, wird nicht einfach verschwinden.
In Israel ist Wahlkampf. Und auch die Hamas im Gazastreifen wird den Deal aufmerksam verfolgt haben. Sie hält gegenwärtig zwei lebende israelische Zivilisten gefangen und die Leichen zweier Soldaten zurück. Der Vakzine-Deal mit Syrien werde Netanyahu in den Verhandlungen mit der palästinensischen Terrorgruppe verfolgen, prophezeit bereits die Tageszeitung »Haaretz«.
Israels Regierung wollte wohl auch deshalb den Impfstoffdeal geheim halten, Moskau dementierte ihn, denn auch für Russland ist es peinlich: Noch am Donnerstag hatte Wladimir Putins Sondergesandter für Syrien, Alexander Lavrentiev, im Interview gönnerhaft angedeutet, dass man seinem treuen Verbündeten Syrien den Impfstoff liefern werde. Davon, dass dies nur gegen Vorkasse und dann noch aus israelischen Quellen geschehen werde, sagte er nichts.
Ein syrischer Geschäftsmann in Damaskus
Es bestätigte aber den immer wieder genährten Eindruck der Syrer, dass aus Russland nichts umsonst zu bekommen sei. Von der Ankunft der Impfdosen ist selbst in der Damaszener Oberschicht noch nichts bekannt geworden.
Aber selbst wenn die Vakzine geliefert werde, vermutete am Montagabend ein Geschäftsmann in Syriens Hauptstadt, würde nur ein sehr spezieller Kreis profitieren: »All die Oligarchen, die Milizchefs, Geheimdienstgeneräle, die überhaupt nicht mehr ins Ausland reisen können, werden sich, ihre Familien, ihre Schergen impfen lassen.« Dann erst werde Sputnik V auf dem Schwarzmarkt landen. Die Vorstellung, dass zuerst Alte und Menschen mit Vorerkrankungen geimpft werden sollten, quittiert er nur mit heiserem Lachen.