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Historischer Wahlsieg in der Ukraine Sensation Selensky

Wolodymyr Selensky wird Präsident der Ukraine, die Wähler wollten Amtsinhaber Petro Poroschenko loswerden. Die politische Agenda seines Nachfolgers kennt aber kaum jemand. Und nun?

Als Wolodymyr Selensky die Bühne betritt, winkt er fröhlich in die Kameras. Im Hintergrund spielt das Lied "Ich liebe mein Land", jener Song aus seiner TV-Serie "Sluga Naroda" ("Diener des Volkes"). Dort gibt er den anständigen Präsidenten Holoborodko, der in der Ukraine gegen die Oligarchen und die Korruption kämpft. Das wirkt alles viel zu schön, um wahr zu sein - und soll nun doch Realität werden. So hat es Selensky versprochen.

"Sieben, sechs, fünf", zählt der Schauspieler etwas zu früh runter auf der Bühne in einer Sportsbar in Kiew. Er muss ein zweites Mal ansetzen: "Drei, zwei, eins". Auf dem Bildschirm erscheint die erste Prognose. Der Balken für Selensky schnellt in die Höhe: 73,2 Prozent Zustimmung. Amtsinhaber Petro Poroschenko liegt mit 25,3 Prozent weit zurück. Ein historischer Sieg. Selensky jubelt, herzt seine Frau, umarmt die Mitglieder seines Teams, Konfetti fliegt.

Für Selensky ist es ein Triumph, ist er doch ein Politneuling - von seinen Witzen über die Führung des Landes einmal abgesehen. Anders als Poroschenko, der noch vor fünf Jahren mit 54,7 Prozent den ersten Wahlgang gewann, war der TV-Produzent Selensky nie politisch aktiv. Bis er seine Kandidatur verkündete.

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Ukraine: So verlief der Wahltag

Foto: Vadim Ghirda/ AP/ DPA

"Ich werde Euch nicht enttäuschen", sagt Selensky in seiner kurzen Ansprache an die Ukrainer. Sie haben ihm mit ihrem Votum einen enormen Vertrauensvorschuss gegeben - und wollen nun den großen Umbruch in ihrem Land.

Der 41-jährige Selensky, der aus einer russischsprachigen jüdischen Familie in der Industriestadt Krywyj Rih in der Südukraine stammt, machte sich einen Namen als Schauspieler und Komiker. Nun muss er zeigen, ob er auch das Land führen kann und ob ihm dieser Rollenwechsel vom Comedian zum Politiker gelingen wird.

Politischer Plan noch in Arbeit

Im Wahlkampf, den er fast ausschließlich über die sozialen Medien führte, setzte er von Anfang an den Ton. Es war eine Show. Es war die Vorstellung eines einfachen Menschen, der gekommen ist, um das verkrustete Machtsystem seines Landes aufzubrechen. Allerdings entzog er sich jeder politischen Auseinandersetzung und Debatte, um stattdessen jeden Tag aufs Neue eine bessere Ukraine zu versprechen. Als er dann am Ende mit Poroschenko ausgerechnet im Stadion aufeinandertraf, beschimpften sich beide aber nur. Eine politische Debatte sieht anders aus.

Bisher sind allenfalls allgemeine Punkte von Selenskys politischer Agenda bekannt. Auch in einer ersten Pressekonferenz wurde er nicht konkreter. Obwohl es mit 13 Minuten die längste Konferenz war, die er bisher gegeben hat.

Zuvor schon hatte er versprochen, die Ukraine enger an EU und Nato anzunähern, den Krieg in der Ostukraine zu beenden, die Korruption und die Oligarchen zu bekämpfen, den Lebensstandard der Menschen - gemessen am Bruttosozialprodukt ist die Ukraine das ärmste Land Europas - zu verbessern. Auf die Frage, wie er das alles umsetzen will, verweist er auch am Sonntag auf seine Experten. In einer Woche werde er seine genaue Mannschaft mit Zuständigkeiten präsentieren. Die Berater sind nach Angaben seines Vertrauten und Wahlleiters Iwan Bakanow aber noch dabei, das Programm für eine bessere Ukraine zu erstellen.

Poroschenko abgestraft

In Kiew warnten Intellektuelle wie die Schriftstellerin Oksana Sabuschko, aber auch ehemalige Maidan-Aktivisten und Mitglieder der NGO-Szene bereits vor unruhigen Zeiten. Schließlich befindet sich die Ukraine im Krieg. Im Donbass, den von Moskau unterstützte Kämpfer besetzen, wird nach fünf Jahren immer noch geschossen. Gerade in Kiew wurden kurz vor der Stichwahl noch Rufe laut, man solle Poroschenko noch eine Chance geben. Schließlich sei er ein Politprofi, wisse, was er tue.

Seine Abwahl kommt einer Abstrafung gleich. Sie ist Ausdruck eines tiefen Überdrusses. Die Ukrainer, die an einer demokratischen Wahl teilnahmen, was für postsowjetische Staaten alles andere als üblich ist, zeigten per Wahlzettel, wie müde sie der Politiker sind, die nur ihre eigenen Interessen und Seilschaften sehen.

Petro Poroschenko

Petro Poroschenko

Foto: Efrem Lukatsky/ DPA

Obwohl Poroschenko einiges für sein Land erreicht hat, etwa Reformen bei Armee, Schulen und Gesundheit, wird er als Teil dieses alten Machtsystems gesehen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der 53-Jährige, Gründer des Süßwarenkonzerns "Roschen", in den Augen vieler Menschen nie richtig die Korruption bekämpfte, sondern sich im Zweifelsfall lieber für die Interessen seiner Freunde und Leute einsetzte.

Poroschenko zeigte sich am Sonntagabend niedergeschlagen. Er kündigte an, die Entscheidung der Wähler zu akzeptieren, seinen Nachfolger in den Wochen bis zur Amtsübergabe zu unterstützen - ein versöhnliches Zeichen, er sagte aber auch: "Ich verlasse das Amt, bleibe aber in der Politik." Selensky bedankte sich bei dem jetzigen Präsidenten, er werde dessen Angebot annehmen.

Politisch beeinflusste Gerichte

Selensky wird auf großen Widerstand treffen, sollte er die versprochenen einschneidenden Reformen umsetzen. So gelten die Gerichte in der Ukraine immer noch als politisch kontrolliert, bisher wurde kein Topbeamter wegen Korruption verurteilt, obwohl die Antikorruptionsbehörde Nabu gegen etliche ermittelte.

Zuletzt machte ein Gericht in Kiew Schlagzeilen, weil es just vor der Stichwahl die Entscheidung, die Privatbank des Oligarchen Ihor Kolomojsky zu verstaatlichen, als nicht rechtens bezeichnete. Dies wurde von Beobachtern als Störmanöver für Selenskys Kampagne gewertet, der beteuert, nur geschäftliche Beziehungen über seine Produktionsfirma "Kwartal 95" mit Kolomojsky zu unterhalten. Allerdings ist die Frage, wie weit diese Beziehungen reichen und was sich der Oligarch von ihnen noch verspricht.

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Ukraine: Stadiondebatte zum Wahlkampfabschluss in der Ukraine

Foto: Brendan Hoffman/Getty Images

Kolomojsky, einer der reichsten Männer der Ukraine und Gegner von Poroschenko, unterstützte Selensky bei dieser Wahl intensiv. Sein Sender "1+1" zeigte live, wie der Schauspieler seinen Erfolg am Sonntag feierte. Zudem nutzte der Stab von Selensky Sicherheitsleute und Fahrzeuge des Oligarchen, der inzwischen in Israel lebt. Einer der Kolomojsky-Anwälte tritt ständig mit Selensky auf, so stand er mit ihm auf der Bühne beim TV-Duell.

Bis zum Juni Amtseinführung

Das scheint den künftigen Präsidenten bisher nicht zu stören, Selensky reagierte auf Fragen nach dem Oligarchen zuletzt immer trotziger. Sie werden aber weiter gestellt werden - wie auch die Fragen nach seinem Programm für die Ukraine.

Was Selensky in den ersten 100 Tagen umsetzen will, wurde er im Februar von einem Diplomaten gefragt. Die Antwort ist er bisher schuldig geblieben. Bis zur Amtseinführung bleiben Selensky nur wenige Wochen. Laut Verfassung muss er bis zum 3. Juni vereidigt werden.

Mitarbeit: Katja Lutska
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