Ukrainischer Präsident Selenskyj über Putin und Trump "Ich will nicht, dass wir wie Bettler wirken"

Sein Land sei keine "Figur auf dem Schachbrett der Großmächte": Der ukrainische Präsident Selenskyj spricht über sein geplantes Treffen mit Putin - und über die Auswirkungen des Impeachment-Verfahrens in den USA.
Präsident Selenskyj bei Gespräch in Kiew: "Ich bin ein Mensch, der auf Tatsachen reagiert"

Präsident Selenskyj bei Gespräch in Kiew: "Ich bin ein Mensch, der auf Tatsachen reagiert"

Foto: Alexey Furman/ DER SPIEGEL

Am 9. Dezember treffen sich in Paris die Staats- und Regierungschefs von Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland. Der Gipfel im "Normandie-Format" soll helfen, den Krieg im Donbass beizulegen. Der schwelt weiter, trotz eines 2015 in Minsk ausgehandelten Abkommens.

Für Wolodymyr Selenskyj, den Präsidenten der Ukraine, wird es das erste Treffen mit Wladimir Putin. Selenskyj hat im Wahlkampf Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden geweckt und versöhnliche Töne angeschlagen. Als Präsident hat er einen Austausch ukrainischer und russischer Gefangener erreicht.

Deshalb sind auch die Erwartungen an den Gipfel - den ersten seit 2016 - gewachsen. Aber bisher erwies sich das Minsker Abkommen als schwer umsetzbar. Es sieht Zugeständnisse Kiews vor, darunter einen "Sonderstatus" für jene Gebiete, die von prorussischen Separatisten kontrolliert werden. Faktisch hat Moskau dort das Sagen.

Im Gespräch in Kiew versucht Selenskyj, die Erwartungen zu dämpfen. Das Gespräch wurde am Samstag mit Vertretern von SPIEGEL, "TIME", "Le Monde" und "Gazeta Wyborcza" geführt.

Frage: Dass es überhaupt ein Normandie-Treffen gibt, ist schon eine Seltenheit geworden, so wenig Bewegung gibt es im Konflikt. Mit welchen Erwartungen kommen Sie?

Wolodymyr Selenskyj: Die vorangehenden Treffen dauerten viele Stunden und waren unterschiedlich, aber meistens sagten die Teilnehmer einander reihum immer wieder dieselben Dinge. Ich habe diese Treffen studiert. Alle reisten so an, dass am Ende nichts herauskam. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Frankreich und Deutschland haben viel getan, damit diese Treffen überhaupt stattfinden. Für mich ist allein das schon ein Sieg. Ich denke, es ist ein Sieg, wenn statt Waffen Menschen sprechen können.

Frage: Was wollen Sie konkret erreichen?

Selenskyj: Sie müssen verstehen, dass für mich Menschenleben an oberster Stelle stehen. Damit habe ich meinen Wahlkampf geführt, und das entspricht meinem moralischen Empfinden. Und deshalb verstehe ich nicht, warum wir alle bloß über einen Sonderstatus diskutieren und über Gebiete und Straßen und humanitäre Konvois. Wenn das alles kein Spiel ist und wir es ernst meinen, dann lasst uns beim Menschen anfangen.

Das Erste ist ein Gefangenenaustausch, mit absehbaren Fristen. Ich bin sicher, Frankreich und Deutschland sind dafür, und ich sehe vorerst nicht, warum Russland dagegen sein kann. Aber es gibt da sehr heikle Fragen. Die Kämpfer im Donbass bestätigen zum Beispiel eine Liste mit Gefangenen, aber wir haben Angaben über eine ganz andere Zahl.

Die zweite Geschichte - und die ist sehr kompliziert - ist die Waffenruhe. Bei allen Minsker Treffen, bei allen Abmachungen und Erklärungen war sie unter den ersten, wichtigsten Punkten. Aber auch wenn das Schießen seltener und die Zahl der Opfer deutlich kleiner geworden ist - aufgehört hat es nicht. Und der dritte Punkt, bevor man zu Wahlen schreitet, ist der vollständige Abzug aller illegalen militärischen Einheiten - egal welcher Art, in welcher Uniform, mit welchen Waffen.

Wenn diese drei Punkte gelöst werden, dann wird man sehen, ob wir alle den Krieg beenden wollen. Wir selbst wollen das mit Sicherheit. Aber wir werden dann sehen, ob auch Russland das wirklich will.

Frage: Das Minsker Abkommen sieht Lokalwahlen in den umstrittenen Gebieten vor. Sie sagen: Die Ukraine wird sich nicht auf Wahlen ohne einen vorherigen Abzug einlassen?

Selenskyj: Niemals. Die Wahlen finden nach ukrainischem Recht statt. Und das ukrainische Gesetz schließt die Anwesenheit Bewaffneter aus. Alle ukrainischen Parteien müssen Zugang haben, Beobachter, Journalisten, die OSZE, die Zentrale Wahlkommission. Wenn da bewaffnete Gruppen sind, wird keine Partei hinfahren.

Ehemaliger TV-Komiker Selenskyj: "Putin hat unsere Position zur Kenntnis genommen"

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Foto:

Alexey Furman/ DER SPIEGEL

Frage: Werden Sie denn die Grenze zu Russland kontrollieren können?

Selenskyj: Das wird die schwierigste Frage von allen - wenn wir denn überhaupt dazu kommen, sie zu erörtern. Ich sage ihnen ehrlich: Ich bin nicht einverstanden damit, wie diese Frage in Minsk gelöst wurde. Laut Minsker Abkommen kommen erst die Wahlen, dann kommt die Kontrolle über die Grenze.

Frage: Sie wollen erst die Grenze, dann die Wahlen?

Selenskyj: Das ist ganz allgemein die Position der Ukrainer. Aber es ist nicht die des Minsker Abkommens. Leider haben wir da einen Widerspruch. Und selbstverständlich muss man das ansprechen.

"Ich möchte nicht, dass die Ukraine eine Figur auf dem Schachbrett der Großmächte ist"

Wolodymyr Selenskyj

Frage: Was machen Sie, wenn bei den Verhandlungen am Ende wieder nichts herauskommt?

Selenskyj: Ich werde jedenfalls keinen Krieg im Donbass anfangen. Ich weiß allerdings, dass es viele Hitzköpfe gibt, gerade unter denen, die derzeit auf die Straße gehen, die sagen: Los, wir erobern den Donbass zurück! Aber zu welchem Preis? Ich glaube, dass diese Leute von den bisherigen Machthabern angetrieben werden. Und offen gesagt, das wundert mich. Und nicht nur mich - fragen Sie mal die Politiker im Ausland dazu. Es wundert alle, dass solche Leute unterstützt und angeheizt werden, die sagen: Das ist unser Land, morgen holen wir's uns.

Frage: Sie werden Putin das erste Mal persönlich treffen. Wie ist Ihr Verhältnis bisher?

Selenskyj: Ich hatte drei Telefongespräche, und die waren produktiv. Immerhin haben wir unsere in Russland festgenommenen Seeleute zurückgeholt, außerdem politische Häftlinge. Darum ging es in den ersten zwei Gesprächen. Und im dritten haben wir über Energiesicherheit Europas gesprochen.

Bisher erhalten wir für den Transit russischen Gases durch die Ukraine zwischen zweieinhalb und drei Milliarden Dollar im Jahr. Natürlich führen wir darüber Verhandlungen mit drei Seiten: Ukraine, Russland, EU.

Frage: Ein auf zehn Jahre geschlossener Vertrag zum Gastransit läuft am 31. Dezember aus - und es ist unklar, ob Russland überhaupt noch Gas durch die Ukraine leiten will. Denn bald wird die Unterwasserpipeline Nord Stream 2 fertig, mit der es die Ukraine umgehen kann.

Selenskyj: Nord Stream 2 hat unsere Verhandlungsposition deutlich geschwächt. Unsere europäischen Partner behaupten zwar, das sei kein politisches, sondern ein ökonomisches Projekt, aber da erlaube ich mir, nicht einverstanden zu sein. Wenn wir es allerdings schaffen, einen neuen Transit-Vertrag auf bis zu zehn Jahre zu schließen, wenn die Europäer uns dabei helfen und Russland nicht dagegen ist, dann bekommt dieses Argument sozusagen Beine, dass Nord Stream 2 kein politisches Projekt sei. Bisher ist es eine Behauptung ohne jede Grundlage.

Frage: Und was hat Ihnen Putin signalisiert?

Selenskyj: Er hat unsere Position zur Kenntnis genommen. Für mich ist es wichtig, dass die Gasfrage eine Frage für sich ist. Egal, welche Wünsche beide Seiten haben, sie dürfen auf keine Weise mit dem Donbass verbunden werden. Wobei ich nicht ausschließe, dass der Gastransit auch im Normandie-Format angesprochen wird.

Frage: Die Vereinigten Staaten fehlen im Normandie-Format. Die Ukraine besteht seit Längerem darauf, dass sie eine aktivere Rolle spielen, und es gab ja einen Sonderbeauftragten, Kurt Volker, der sich darum bemüht hat...

Selenskyj: Er hat sich sehr bemüht, und auch vieles erreicht. Die Male, die ich ihn getroffen habe, habe ich gesehen, dass er sehr aktiv war und unsere Positionen verteidigte.

Frage: Jetzt ist Kurt Volker im Zuge des Impeachment-Verfahrens gegen US-Präsident Trump zurückgetreten. Wie sehen Sie die Rolle der USA in Zukunft?

Selenskyj: Ich möchte nicht, dass die Ukraine eine Figur auf dem Schachbrett der Großmächte ist, dass man uns herumschubsen, uns vorschieben oder verschachern kann. Ich will, dass die Ukraine ein Subjekt wird. Sie ist schon eines, aber dass sie auch in der Welt so wahrgenommen wird, unter den großen Spielern, den Imperien wie Vereinigten Staaten, Russland, China.

Ich wünsche mir von den USA - und ich spüre es auch -, dass sie uns helfen und dass sie verstehen, dass wir Subjekt sind, dass sie nicht hinter unserem Rücken irgendwelche Absprachen mit anderen treffen. Die Vereinigten Staaten senden so etwas wie ein Signal an die Welt, an den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, an Europa. Und wenn sie sagen: Die Ukraine ist ein korruptes Land, dann ist das ein sehr hartes Signal. Ich möchte, dass die Vereinigten Staaten verstehen: Das hier ist jetzt ein anderes Land, wir sind völlig andere Leute. Natürlich, die Behörden wurden lange korrumpiert, aber wir räumen damit auf.

Frage: "Die sind korrupt und stehlen Geld", hat Trump persönlich erst vor Kurzem pauschal über die Ukrainer gesagt. Was wollen Sie tun, um ihn zu überzeugen?

Selenskyj: Ich muss ihn nicht überzeugen. Ich habe ihm auf unserem Treffen gesagt, dass ich nicht will, dass er so ein Bild von unserem Land hat. Und dass er dafür einfach herkommen und sehen soll, wie wir leben, und vor allem, was wir für Leute sind. Mir schien, dass er mich gehört hat. Wenigstens sagte er auf dem Treffen: Ja, ich sehe, es sind junge, neue Leute. Wir hatten eine große Delegation auf dem Treffen.

Frage: In Washington wird diskutiert, wie die Blockade von US-Militärhilfe mit jenen Ermittlungen zusammenhängt, um die Trump Sie in einem Telefongespräch im Juli bat. Wann haben Sie gespürt, dass es da einen Zusammenhang gab?

Selenskyj: Ich habe mit US-Präsident Trump gar nicht in dieser Haltung gesprochen - ich geb' dir dies, du gibst mir das. So etwas geht mir völlig ab. Auf so eine Weise habe ich mit Präsident Putin gesprochen - du lässt diese Leute frei, wir lassen jene Leute frei. Was die Vereinigten Staaten betrifft: Ich will nicht, dass wir wie Bettler wirken. Aber man muss sich klar machen, dass wir uns im Krieg befinden. Und wenn ihr unser strategischer Partner seid, dann solltet ihr keine Hilfe blockieren. Da geht es für mich um Fairness. Da geht es nicht um ein Quidproquo, das ist einfach eine Geschichte für sich.

Frage: Auch aus Europa haben Sie in letzter Zeit widersprüchliche Signale erhalten. Präsident Macron spricht vom "Hirntod" der Nato und will die Beziehung zu Moskau verbessern - er warnt davor, in Russland einen gemeinsamen Feind zu sehen.

Selenskyj: Ich weiß nicht, wie er es genau formuliert hat. Und zur Nato kann ich mich schlecht äußern, wir sind kein Mitglied. Ich habe die ukrainische Position mit ihm angesprochen, und er sagte, selbstverständlich unterstützen wir die territoriale Unversehrtheit und Souveränität der Ukraine. Die führenden Politiker Europas haben mir garantiert, dass die Sanktionspolitik bleibt, solange wir nicht alle unsere verlorenen Gebiete zurückerhalten.

Selenskyj mit SPIEGEL-Korrespondent Christian Esch: "Ukraine nicht verschachern"

Selenskyj mit SPIEGEL-Korrespondent Christian Esch: "Ukraine nicht verschachern"

Foto:

Alexey Furman/ DER SPIEGEL

Frage: Haben Sie nicht doch ein wenig Angst, dass Sie bei dem Gipfel in Paris allein gelassen werden mit Putin?

Selenskyj: Ich bin ein Mensch, der auf Tatsachen reagiert. Ich glaube, die europäischen Politiker müssen und werden uns helfen. Aber ich werde es ja in der ersten halben Stunde merken, ob das so ist, und das Besondere an mir ist, wenn ich es am Verhandlungstisch merke, dann werde ich es auch in der Öffentlichkeit sagen.

Frage: Und wie sieht es mit der Unterstützung in den Separatistengebieten selbst aus?

Selenskyj: Derzeit wird eine Umfrage herumgereicht, wonach die Mehrheit der Menschen dort in Russland leben will. Das ist nicht wahr. Ich glaube und weiß, dass es dort Leute gibt, die für die Ukraine sind. Dann gibt es die Verirrten. Und schließlich gibt es jene, die für Russland sind. Diejenigen, die für Russland sind, können wegziehen, Russland verteilt ja derzeit illegal russische Pässe. Jeder Mensch hat das Recht auszusuchen, wo er leben will.

Aber auf dem Territorium der Ukraine zu sagen, ich bin Bürger Russlands und dies ist mein Boden, das halte ich für falsch und unfair. Das geht nicht. Was die Verirrten angeht: Wenn jemand einen ukrainischen Pass hat und dann zusätzlich noch einen russischen Pass annimmt, und soziale Unterstützung von hier wie von dort kriegt, dann ist er in die Irre gegangen. Ich habe kein moralisches Recht, 'Pfui' zu rufen. Diese Leute muss man zurückholen, um sie kämpfen. Aber um die Leute, die sich selbst nur für Russen halten, würde ich nicht kämpfen.

Frage: Angenommen, es geht bei den Verhandlungen keinen Schritt vorwärts, weil Russland alles blockiert. Haben Sie einen Plan B?

Selenskyj: Ich will derzeit nicht über meinen Plan B reden - deshalb heißt er ja Plan B, weil ich an den Plan A glaube. Aber es gibt ihn, natürlich. Und eines möchte ich klarstellen: Mein Plan B besteht nicht darin, dass alles so bleibt, wie es jetzt ist.

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