Reaktion auf Hoodbhoy-Thesen "Demokratie, Freiheit und Vielfalt gehören zum Islam"

Islamische Gesellschaften sind kollektiv gescheitert? Stimmt nicht, entgegnet der türkische Journalist Yavuz Baydar auf die Thesen des pakistanischen Physikers Pervez Hoodbhoy. Der Islam und davon inspirierte politische Bewegungen sind vieles: fundamentalistisch - aber auch modernistisch.
Verschleierte Frau in Dubai: Statement zur Gruppenidentität

Verschleierte Frau in Dubai: Statement zur Gruppenidentität

Foto: ? Tamara Abdul Hadi / Reuters/ REUTERS

Islamische Gesellschaften seien "kollektiv gescheitert", sagt der pakistanische Nuklearphysiker Pervez Hoodbhoy, 62, im Interview mit SPIEGEL ONLINE. Sie könnten "in keinem Bereich eine substantielle Errungenschaft" vorweisen - "nicht im politischen Bereich, nicht in gesellschaftlicher Hinsicht, weder in den Naturwissenschaften noch in der Kunst oder in der Literatur", urteilt Hoodbhoy, selbst in eine islamische Familie geboren.

Das Interview provoziert und bewegt. Allein auf Facebook wurde es bald zehntausendmal empfohlen. Viele Muslime äußern in Internetforen, endlich sage mal einer, was sie an ihrer eigenen Gesellschaft störe. Andere werfen Hoodbhoy vor, dem Islam die Schuld für anderweitiges Versagen zuschieben zu wollen.

Der türkische Kolumnist Yavuz Baydar, 56, aus Istanbul antwortet Hoodbhoy, er mache es sich mit seiner Kritik zu einfach. "Demokratie, Freiheit und Vielfalt haben in der islamischen Welt ihren Platz", sagt Baydar, Journalist bei der türkischen Tageszeitung "Today's Zaman" und Moderator der Talkshow "Open View" auf Channel 24. Gerade die Türkei, aber auch Bosnien, Malaysia und Indonesien seien Beispiele für positive Entwicklungen von islamisch geprägten Gesellschaften. Außerdem habe der Islam sehr wohl Errungenschaften vorzuweisen - und sei dem Christentum in manchen Belangen weit voraus.

Lesen Sie hier das vollständige Meinungsstück von Yavuz Baydar, welche wichtigen Errungenschaften aus islamischen Gesellschaften kommen und warum Islam und Fortschritt durchaus zusammenpassen:

Kritik am Islam kommt oft in Form von Schlagworten und Klischees, wie auch die Argumente des pakistanischen Nuklearphysikers Pervez Hoodbhoy zeigen. Sie dominieren dann die Debatte, anstatt eine breitere Analyse zuzulassen, die die unterschiedlichen Aspekte beleuchtet.

Die erste Reaktion auf seine grob vereinfachenden Argumente ist ganz einfach: So wie es kein einheitliches, monolithisches Christentum gibt, existiert auch kein Islam aus einem Guss. Alle monotheistischen Religionen sind vielfältig, mit sehr unterschiedlichen Glaubensausübungen und Lebensstilen innerhalb dieser Religion und mit innerem Antrieb zu Modernisierung.

In all diesen Religionen gibt es Gruppen, die sich einer Modernisierung widersetzen oder dagegen arbeiten, aber immer wieder fallen sie in Bedeutungslosigkeit zurück. Das Problem mit der Kritik, wie Hoodbhoy sie übt, ist: Sie ist eine Momentaufnahme, die so tut, als gäbe es keinen Fortschritt, sondern nur Stillstand. Sie geht davon aus, als würden kurzzeitige negative Elemente die Religion definieren und auf ewig Gültigkeit haben.

Es stimmt, dass immer mehr Frauen sich verhüllen und Hidschab oder Burka tragen, wie Hoodbhoy diesen konservativen Trend beobachtet. Aber dafür gibt es nicht nur rein religiöse Erklärungen. Manche Frauen sagen, "sie tragen Burka oder Hidschab, weil die meisten Frauen es tun. Wieder andere sagen, sie fühlten sich auf diese Weise sicherer, wenn sie an der Bushaltestelle stünden, dann belästige sie niemand", berichtet Hoodbhoy. Man kann noch weiter gehen: Manche Frauen würden behaupten, dass sie sich verhüllen, weil es ihnen ermöglicht, am öffentlichen Leben teilzunehmen, zu studieren, zu arbeiten, zu reisen. Viele, viele junge Frauen geben mit der Wahl ihrer Bekleidung außerdem ein Statement zu ihrer Gruppenidentität ab, so wie es zum Beispiel einst die Hippies taten.

Jede islamische Gesellschaft ist einzigartig

Die Begründungen variieren also, und sie verändern sich mit der Entwicklung von Gesellschaften. Im Christentum könnte man ähnliche Dinge beobachten.

Zwar räumt Hoodbhoy ein, dass sich alles in islamischen Gesellschaften verändere, aber er übersieht, dass es auch über längere Sicht eine kontinuierliche Entwicklung gibt. Ich stimme mit ihm überein, dass Gesellschaften ihre eigenen blutigen Erfahrungen machen müssen. Er sagt: "Auf diese Weise ist Europa säkular geworden. Früher gab es ständig Kriege zwischen Katholiken und Protestanten, und erst als das Blutvergießen lange genug andauerte, kamen die Menschen zu Sinnen. Ich befürchte, dass wir diese schrecklichen Erfahrungen gerade machen." Wenn man diese Erkenntnis verinnerlicht, ist es ratsam, die langen Zeiträume zu berücksichtigen und geduldig zu sein.

Man darf auch nicht vergessen, dass jede islamische Gesellschaft einzigartig ist und für sich steht, in Bezug auf Geografie, Geschichte, Kultur, Regierungssystem und Beziehungen zu anderen Gesellschaften. Aus pakistanischer Sicht mag man es vielleicht so sehen, dass früher oder später auch in Syrien nur noch verhüllte Frauen zu sehen sein werden. Aus türkischer oder libanesischer Perspektive klingt das eher nach einer maßlosen Übertreibung.

Außenstehende mögen die Behauptung interessant finden, Muslime hätten in keinem Bereich etwas Substantielles erreicht. Aber sie stimmt nicht. Historisch gesehen, haben zum Beispiel nordafrikanische Muslime in der Zeit des Mittelalters von Spanien aus die Grundlagen für einige Wissenschaften - Arithmetik, Chemie - gelegt.

Kreative und effiziente Sozialsysteme im Islam

In der heutigen Zeit mögen muslimische Teile der Welt in ihrer Entwicklung weit hinter den christlichen liegen. Aber in vielen islamischen Gesellschaften sind die Solidarsysteme und Wohltätigkeitsnetzwerke kreativ und effizient - in vielen Teilen der christlichen Welt gibt es das in dieser Form nicht. Ich widerspreche auch entschieden der Aussage von Hoodbhoy, es gebe "keine Bemühungen, die Lebensbedingungen innerhalb islamischer Gesellschaften zu verbessern". Ich rate ihm, mal in die Türkei zu reisen oder auch nach Bosnien, Malaysia oder nach Indonesien. Dort würde er seine Behauptung widerlegt sehen.

Die Bemühungen mögen in manchen Ländern kurzlebig und halbherzig erscheinen. Aber die generelle Regel, dass der soziale Wandel vorankommt und Weltanschauungen sich verändern, je stärker und erfolgreicher die Mittelklasse ist, hat in der Türkei Gültigkeit.

Wenn ein System der freien Marktwirtschaft vernünftig umgesetzt und reguliert wird, erzeugt es ein wettbewerbsfähiges Umfeld, das alte Lebensweisen und Angewohnheiten wie Faulheit und Fatalismus in Frage stellt. In der Türkei oder in Malaysia gehen die Menschen nach dem Morgengebet zur Arbeit. Sie arbeiten bis kurz vor dem letzten Gebet am Tag. Das mag der Grund dafür sein, dass Außenminister Guido Westerwelle die Menschen in der Türkei als sehr fleißig gelobt hat, als er sie mit einigen anderen europäischen - christlichen - Gesellschaften verglich.

Es gibt in der Tat etwa 1,5 Milliarden Muslime, aber die überwältigende Mehrheit ist nicht fanatisch, respektiert Frauen oder pflegt einen eher säkularen Lebensstil, so dass man sie eher als religiös im kulturell geprägten Sinne bezeichnen kann. Für sie gehören al-Qaida und andere destruktive Organisationen nicht in das Konzept des Islam, sondern sind Terrororganisationen. Demokratie, Freiheit und Vielfalt sind in der islamischen Welt keineswegs verloren, sondern waren Schlüsselelemente der Unruhen in der arabischen Welt.

Rachid al-Ghannoushi, Führer der islamischen Nahda-Bewegung in Tunesien, sagte kürzlich, durch das Fehlen einer kirchlichen Organisation im Islam seien Muslime sehr viel freier, unterschiedliche religiöse, philosophische und politische Richtungen zu verfolgen. Fundamentalisten wollten ihr Islamkonzept mit Gewalt durchsetzen, auf staatlicher Ebene. "Der Islam jedoch hat es nicht nötig, sich den Menschen auf staatlicher Ebene aufzunötigen, weil er in den Gewissen der Menschen ruht. Sobald der Staat sich in die Religion einmischt, wird sie zwangsläufig zu einer Art Mafia."

Im Islam gebe es keine Regelung für die Rechte und Freiheiten von Individuen, denn Gott habe Menschen als freie Individuen erschaffen, argumentiert Ghannoushi weiter. Der höchste Wert im Islam sei deshalb die Freiheit. Nötigung und Zwang bringe nur Heuchler hervor. Der Staat gehöre seinen Bürgern, unabhängig von deren religiösen Überzeugungen. Es sei seine Aufgabe, Respekt zwischen den Menschen unterschiedlichen Glaubens sicherzustellen. Die Bürger sind frei, nach den Richtlinien ihrer Überzeugungen zu handeln, in Übereinstimmung mit den von Parlamenten beschlossenen Gesetzen.

Hoodbhoy argumentiert in der Annahme, dass der radikale Islam überall Auftrieb habe, dass er die definierende Kraft über Grenzen hinweg sei. Das ist schlicht Panikmache. Es stärkt Vorurteile gegen eine Religion. Die im Westen weit verbreitete Tendenz, Islam und Islamismus als identisch und monolithisch zu betrachten, ist ein schwerer Fehler. Der Islam ist äußerst pluralistisch, von fundamentalistisch bis modernistisch. Politische Bewegungen, die vom Islam inspiriert werden, sind ebenso unterschiedlich, von totalitär bis liberal.

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