Umstrittene Verfassungsänderungen Zoff mit Ungarn überschattet EU-Gipfel

Parlamentspräsident Schulz, Kanzlerin Merkel: "Frostige Stimmung"
Foto: JOHN THYS/ AFPMartin Schulz scheut keinen Schlagabtausch mit Europas Mächtigen. Das hat der Präsident des Europäischen Parlaments bereits mehrfach bewiesen. Am bekanntesten ist wohl sein Disput mit Silvio Berlusconi: 2003 reizte er Italiens damaligen Regierungschef so sehr, dass dieser ihn für eine Filmrolle als Kapo im Konzentrationslager vorschlug. Am Donnerstag könnte Schulz sich einen neuen Intimfeind geschaffen haben: Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán.
Der Grund für dessen Ärger: Parlamentspräsident Schulz forderte die Regierungschefs auf, präzise zu prüfen, ob Ungarns umstrittene Verfassungsänderungen den europäischen Werten widersprechen. Wenn ja, müsse das bestraft werden. "Daraufhin hat mich Orbán scharf attackiert", erzählt Schulz. Die Stimmung beim Treffen mit den Regierungschefs sei "sehr frostig" gewesen.
Der Streit zwischen Schulz und Orbán überschattet den Auftakt des EU-Gipfels. Eigentlich wollen die 27 Staats- und Regierungschefs bei ihrem zweitägigen Treffen in Brüssel über Wachstum und Beschäftigung reden - Dauerthemen angesichts der schwächelnden Konjunktur und den massiv gestiegenen Arbeitslosenzahlen in Südeuropa. Doch die Empörung über die Entwicklung in Ungarn ist groß - nicht nur im Parlament.
Schulz bringt Artikel 7 ins Spiel
Hintergrund des Ärgers sind mehrere Verfassungsänderungen, die Orbáns konservative Regierungsmehrheit im ungarischen Parlament am Montag beschlossen hatte. Zu den Kernpunkten zählt die weitgehende Entmachtung des Verfassungsgerichts. Die Richter sollen sich in ihren Entscheidungen nicht mehr auf Urteile berufen können, die sie vor Inkrafttreten der neuen Verfassung im Januar 2012 gefällt haben. Zudem darf sich das Gericht bei Gesetzen nur noch mit Verfahrensfragen und nicht mehr mit dem Inhalt beschäftigen.
Kritiker werfen Orbán vor, mit der Verfassungsänderung die Machtbasis seiner rechtskonservativen Regierungspartei Fidesz in öffentlichen Einrichtungen dauerhaft zu festigen. Die EU-Kommission fürchtet, dass durch die neue Verfassung unter anderem die Pressefreiheit, die Unabhängigkeit der Zentralbank und des Justizwesens sowie anderer staatlicher Institutionen eingeschränkt werden.
Schulz sagte, die EU-Kommission werde die Maßnahmen dahingehend prüfen, ob sie europäische Regeln verletzen. Wenn ja, müsse das Konsequenzen haben - auch ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags sei dann möglich. Das wäre ein bislang nie dagewesener Vorgang: Nach Artikel 7 des EU-Vertrags können einem Mitgliedstaat Hilfen gestrichen werden und Rechte wie das Stimmrecht entzogen werden. Die Voraussetzung: Alle anderen EU-Länder müssten einstimmig eine "schwerwiegende und anhaltende Verletzung" der EU-Werte feststellen.
Orbán: "Niemand hat Beweise vorgelegt"
Schulz versicherte, so weit sei es noch nicht. Dennoch empfand Orbán den Vorstoß des Parlamentspräsidenten offensichtlich als Affront. "Er hat mich gefragt, ob ich einzelne Mitgliedstaaten auffordern wolle, Ungarn zu bestrafen", erzählt Schulz. "Meine Antwort war: Sie haben mich offensichtlich falsch verstanden." Er fordere nur, die neuen Verfassungsregeln zu überprüfen. Wenn die Kommission einen Verstoß feststelle, sei ein Vorgehen nach Artikel 7 ein "mögliches Element einer langen Liste von Verfahren", die zur Verfügung stünden.
Orbán wehrte sich auch öffentlich vehement gegen die internationale Kritik. Die Verfassungsänderungen verstießen nicht gegen "europäische Werte", sagte der Ministerpräsident. Niemand habe Beweise dafür vorgelegt, dass die ungarischen Änderungen "der Demokratie zuwiderlaufen". Er sei aber bereit, darüber zu diskutieren. Eine politische Diskussion sei aber nur sinnvoll, wenn sie sich auf Fakten stütze.
Sorgen müssen dem ungarischen Regierungschef aber auch Äußerungen von Justizkommissarin Viviane Reding machen. Sie drohte Ungarn offen damit, europäische Mittel zu kappen. "Die Kommission ist Hüterin der Verträge und als solche sieht sie nicht tatenlos zu, wenn die Grundsätze dieser Verträge mit den Füßen getreten werden", sagte Reding in Berlin.
Mit Blick auf die verfassungsändernde Mehrheit der Orbán-Partei im Budapester Parlament sagte die Justizkommissarin: "Mit dem Grundgesetz spielt man nicht. Man kann nicht alle sechs Monate hingehen und das Grundgesetz ändern." Sie habe den Eindruck, dass in Ungarn die Rechtsstaatlichkeit in Gefahr sei.