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Außen GmbH und innen rot

Zehn Jahre nach dem Höhepunkt der Studenten-Rebellion, die in West-Berlin begann und Signale für die Linken setzte, markiert die halbe Stadt wieder den Kulminationspunkt einer neuen Jugendbewegung. Sie will nicht lange durch Institutionen marschieren, um wer weiß wo anzukommen: Anti ist passé, alternativ heißt die Parole.
aus DER SPIEGEL 11/1979

Die roten Fahnen flattern voran, in Zwölferreihen marschierten sie, Wasserwerfern und Polizeiketten trotzend, in entschlossenem Protest über die Boulevards von West-Berlin -- damals, vor zehn Jahren, als die studentischen Rebellen der Apo »Ho Ho Ho Tschi-Minh« verlangten und dem »US-Aggressor« die Scheiben seiner Amerika-Häuser zertrümmerten.

Nun, da die Amis längst zu Hause, die Vietnamesen als Aggressoren in Kambodscha sind und neuerdings die Chinesen als ebensolche im Land der Vietnamesen waren, ist es still in West-Berlin. Keine Massenkundgebung, keine Demo wie ehedem, kein megaphonverstärktes Für und Wider.

Demonstrative Militanz, Prügeleien mit der Staatsgewalt brachten Berlin kaum noch in die Schlagzeilen während der letzten Jahre.

Anders als im niedersächsischen Grohnde und im schleswig-holsteinischen Brokdorf blieben Tränengas und Gummiknüppel polizeilich so gut wie ungenutzt, »unfriedlich« stufte die Behörde von 164 Demonstrationen von Anfang bis Herbst letzten Jahres nur neune ein. West-Berlin, es ist unübersehbar, pflegt der inneren Ruhe. Selbst unmittelbar vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus ist von Wahlkampf, geschweige denn von den Linken nicht viel zu spüren, und fiele nicht allzuoft, 61mal im vergangenen Jahr, einem jungen Fixer die letzte Spritze aus der Hand, wär"s fast friedlich zu nennen.

Aber die Linke lebt. Nur ist an die Stelle der Straße »die Szene« getreten. Der Protest hat sich eingegraben -- in Wohngemeinschaften und Arbeiterkollektiven, in den Mietskasernen und Hinterhöfen der Arbeiterbezirke Kreuzberg, Neukölln und Wedding.

Die Bewegung ist größer denn je, nur eben anders, als die Seminar-Marxisten des SDS sich das zu Apo-Hoch-Zeiten vorstellten. Eingeweihte schätzen sie auf etwa 100 000 Köpfe -- ein Potential, das sich zerstritt und wieder zusammenraufte zwischen kurzschlüssiger Stadtguerilla und langem Marsch durch die Institutionen, kontinuierlich ergänzt durch Aussteiger aus dem deutschen Westen und durch die jährliche Bruchquote des Massenbetriebs von elf Berliner Hochschulen.

Die Szene reicht von der Subkultur der Stadtindianer bis hart an die Kader-Grenze der SED-Schwester SEW, vom »Lederbekleidungskollektiv Walde«, das Motorradmonturen schneidert nach dem Motto »Spaß muß sein, notfalls mit Gewalt«, bis zur rund fünfzig Klimakterien starken Frauengruppe »Offensives Altern«.

Unter all den Anti-Atom- und Pro-Ökologie-Zirkeln, unter abgetauchten Kaputtmachern und straff organisierten Stalinisten sind Undogmatische, Antiautoritäre, Spontaneisten die eigentlichen Herren und Damen der Szene. Ihr kräftiger Jargon mischt sieh immer stärker ins linke Theoretiker-Allerlei. An den Klotüren ihrer Kneipen verkünden sie, wie im Schöneberger »Cafe Jonas«, ihre Version von der Tendenzwende ("Die Schweine von heute sind die Schinken von morgen"), oder karikieren sie die blasse Phrasensprache der »Dogmatiks« -- mit Sprüchen wie »HSV/ML -- Sieg im Volkstanz« und »Nicht jammern und picheln -- hammern und sicheln«.

Auf »SEW und K-Typen«, bekräftigt ein Stammgast im Sponti-Lokal »Spektrum« den Wandel, »fährt hier längst keiner mehr ab«. Dem »autoritären Scheißer«, so erklärte unlängst dem TU-Assistenten Hans-Peter Rouette ein Student den »neuen Sozialisationstyp«, folge nun »der orale Flipper«.

Was so verwunderlich nicht wäre: Denn zwischen »Rumflippern« und »Ausflippen«, nach Sponti-Selbstdiagnose deren gängigste Verweigerungsformen, und dem gleichnamigen Kneipenspiel besteht weit mehr als nur ein sprachlicher Zusammenhang. Wer flippt oder flippert, lebt am Rande der Freizeitgesellschaft gleichsam spielerisch nach dem Satz des alten Eduard Bernstein, wonach das »Ziel ... gar nichts«, die »Bewegung alles« ist.

In der Bundesrepublik drang diese Bewegung des totalen Dagegen-Lebens erstmals 1977 breiter ins Bürgerbewußtsein, als der anonyme Göttinger Stadtindianer »Mescalero« am Buback-Beispiel in gewalttätiger Sprache seinen inneren Monolog gegen Gewalt memorierte, von dem in der Öffentlichkeit nur die »klammheimliche Freude« ankam und hängenblieb.

Seither grübelt eine gutgermanische Vätergeneration darüber nach, warum ausgerechnet sie mit Söhnen geschlagen wurde, die nicht nur Rote, sondern auch gleich Wilde sein wollen im Dickicht der großen Städte. »Wir wollen alles, und wir wollen es jetzt« -- es ist mehr als ein politisches Programm, was da die Veranstalter des »Tunix-Treffens« von 8000 Freaks, Freunden und Genossen in der Technischen Universität vor einem Jahr formulierten.

Das meint nichts Bescheideneres als »ein anderes Leben, eine andere Welt«, wie die. Zeitschrift »Traumstadt« in ihrer Nullnummer fordert: Denn das sei »die konkrete Gemeinsamkeit, auf die wir alle zusammen abfahren können«.

Wo die einen gerade abfahren wollen zum »Strand von Tunix«, der -- wer weiß -- vielleicht auch »unterm Pflaster in diesem Land« zu finden ist, da sind andere längst angekommen, beim alternativen Tun. Dreitausend Arbeitsplätze. schätzt Wissenschaftssenator Peter Glotz, existieren mittlerweile in der Berliner Gegengesellschaft.

Das verbreitete Jugendgefühl, es sei ökonomisch wie ökologisch ohnehin fünf Minuten vor zwölf, läßt täglich neue Aussteiger dazukommen. »Die Szene in dieser Stadt wird von Woche zu Woche enger -- bitte zusammenrücken«, beschreibt das Flugblatt einer »undogmatischen« Stadtteilgruppe diesen Konzentrationsprozeß.

Die von der jüngsten Geschichte am ärgsten gebeutelte deutsche Stadt, so prophezeit der amerikanische Architekt und Propagandist einer alternativen Lebensweise, Nikolaus H. Ritter, habe »langfristig gute Chancen, Dropout-City von Westeuropa und damit auf eine neue Weise politisch produktiv zu werden«.

Berlin ist für viele West- und Süddeutsche, die sich entschlossen haben, mal linksherum zu leben, stets in der engeren Wahl -- neben dem obligaten Traum von der Landkommune oder dem Trip nach Indien. Eine meist nur geflüsterte Spruchweisheit der Szene lautet, nirgendwo in Deutschland könne man so angenehm arbeitslos sein wie in West-Berlin.

Dagegen haben die Senatskampagnen zur Anwerbung westdeutscher Facharbeiter von Jahr zu Jahr weniger Erfolg. Kamen 1974, angelockt durch Hochglanzwerbung mit Ku?damm-Chic und Kneipen ohne Polizeistunde, noch 14 000 bundesdeutsche Nothelfer, so war es bis Ende September letzten Jahres gerade die Hälfte.

In die Stadt mit der Subventions-Mentalität, der jede zweite Etat-Mark aus Bonn zugeschossen wird, zieht es neue Firmen primär der hohen Abschreibung und Investitionsprämien, neue Arbeitnehmer der staatlichen Berlin-Zulage wegen. Das Schlüsselwort heißt »Bundeshilfe«, und »wo eben alle Hilfeempfänger sind«, schlußfolgert Jochen Zahm, ehemals Ingenieurstudent, jetzt Zapfer, »da muß der Konkurrenzdruck zwangsläufig geringer sein«.

Jochen, 26, steht hinter der Theke einer Charlottenburger Szenen-Kneipe. Seinen Nachnamen hat er beim Uni-Abbruch wie unzählige andere »Typen« draußen gelassen: Danach hat ihn »auch seit drei Jahren keiner mehr gefragt, ehrlich«. Mit 1200 Mark im Monat kommt er »satt« aus, obwohl er »leicht« mehr verdienen könnte: »Aber das will ich nicht, ich brauche »ne Menge Zeit -- für mich erst mal, klaro, und dann für politische Aktivitäten und so.« Jochen kommt aus Schwaben, doch vor dem sprichwörtlichen Gewerbefleiß dieses Landstrichs ist er nach Berlin »ausgewichen

Dennoch: Dagegen zu sein, reicht zum Akzeptiertwerden im Sub-Milieu längst nicht mehr aus. Nur anti ist passé, alternativ heißt die Parole. In nahezu allen Lebensbereichen haben sich linke einzelne zu eng miteinander verzahnten Kleingenossenschaften formiert, in denen Ärzte Kranke behandeln, Mechaniker Autos reparieren, Rechtsanwälte Kläger werden, Zapfer Bier ausschenken, Steuerberater Geld sparen helfen. »Und täglich«, weiß Klaus Röder, 31, »kommen neue Kisten und neue Kooperationsmöglichkeiten dazu!«

Röder, Betriebswirt und Publizist dazu, muß es wissen: Denn das Kollektiv, in dem er steckt, hat mittlerweile die zweite Auflage eines Kompendiums herausgebracht, das der bislang nur trübe ausgeleuchteten Szene Transparenz und Zuwachs verschaffen soll. Auf fast 600 Blatt wird im »Stattbuch 1« die 1,9-Millionen-Stadt gegen den Baedeker-Strich gebürstet -- statt Stadtführer »ein alternativer Wegweiser«.

Wo?s am alternatiefsten ist in Berlin-West, »Stattbuch« weiß es. Und wer vom » Plastikfressen« (Sponti-Jargon) genug hat, dem wird grundlegender Rat der »Kollektiwis« zuteil:

Beim Trinken: »Unsere durch Kaffee, Tee und Nikotin verhunzten Geschmacksnerven brauchen eine Zeitlang, um feine Geschmacksnuancen der Kräutertees genießen zu

Und beim Essen. »Gemeinsame gesunde Eßgelage (z. B. Schmalzstullen auf Festen durch Müsli ersetzen), Brot backen, Kefir ansetzen und weitergeben, Kochworkshops, was man/frau z. B. alles mit Körnern machen kann.«

Neben zahlreichen makrobiotischen Läden mit so gesunden Namen wie »Mutter Erde -- Naturkosthaus«, »Siebenkorn« und »Sesammühle« besorgen mittlerweile vier Nährmittel-Kooperativen für jeweils rund 150 Mitglieder gesunde Kost und Körner-Nachschub. Die älteste »Lebensmittel-Coop« in der selbstverwalteten »Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk«, zwei »Verteilabende« wöchentlich, tat sich bereits vor anderthalb Jahren zusammen, weil es laut Selbstdarstellung »viele Leute satt hatten, sich nur von Aldi-Fraß zu ernähren«.

Seither sind -- members only -- im vierten Stock eines Schöneberger Fabrik-Hinterhofs die Zutaten fürs Müsli um rund 20 Prozent billiger als draußen zu haben. Dazu Gemüse von der Landkommune Gorleben und biologisch-reines Backwerk von den Alternativbäckern des »Brotgarten«.

Zwar »blühen« in Berlin noch nicht jene »hundert alternativen Bäckereien«, von denen die »Stattbuch«-Autoren träumen, aber wenigstens zwei befinden sich auf dem Weg zurück zur Natur: Ein knappes Dutzend »abgehalfterter Studenten« (so ein Kunde) beispielsweise betreibt seit einem Jahr den »Brotgarten«, eine Laden-Bäckerei mit Oma-Interieur.

Der praktische Lebensreform-Beitrag der Laienbäcker beginnt beim »biologisch-dynamisch«, das heißt ohne chemische Nachhilfe angebauten Getreide. Vermahlen wird es auf einer Steinmühle, als Treibmittel dienen Natursauerteig und ein aus Honig und Kichererbsen destilliertes Backferment. Meersalz und Brunnenwasser lassen die Back-Werke inzwischen so gelingen, daß außer Reformköstlern sich auch Rentner aus dem Kiez nebenan gern mal eine Stulle davon abschneiden.

Ein ordentlicher Bäckermeister, der seinen weit besser bezahlten Job als Lebensmittelingenieur in der Industrie aufgab, verschafft der »Brotgarten«-Produktion für 2000 Mark monatlich den Segen deutscher Handwerksarbeit. Die übrigen, obwohl zum Teil Miteigentümer, schaffen derzeit für acht Mark Stundenlohn.

Daß sich aus dem Unternehmen (angestrebter Monatsumsatz: 20 000 Mark) allmählich und für den einzelnen unmerklich das Alternative fortstehlen könnte, will vorerst keinem wahrscheinlich dünken. Mehr als eine zur Verteilung freie Lohnsumme von 6000 bis 7000 Mark gebe der Markt, den freilich alle sorgsam beobachten, überhaupt nicht her.

»Stattbuch«-Stratege Röder freilich hält Alternativ-Projekte, die überhaupt einen Lohnfonds verfügbar haben, schon für die Ausnahme. In den meisten werde noch »für Null ouvert gearbeitet«. Bei einer Diskussion, die unlängst die linke Stadt-Zeitung »radikal« organisierte, rügte Röder die »Scheiße, daß man den Alternativen zumutet, im Hinterhof mit Außenklo zu wohnen und auf Dinge zu verzichten, die heute zu einem durchschnittlichen menschenwürdigen Leben gehören«.

Genau das -- und die von Röder kritisierte »Selbstausbeutung« obendrein -- muten sich die meisten Glieder der alternativen Gegengesellschaft allerdings bewußt und oft nicht ungern zu. Es erscheint ihnen der halbwegs angemessene Preis dafür, anders zu leben als die, von ihnen aus gesehen, unters Joch von Konsum und Leistung gebeugte Mehrheit.

»Alle assoziiert und alle frei« -- dieser Satz des französischen Frühsozialisten Pierre Joseph Proudhon taugte wohl als Credo für die Bewegung oder, wie »radikal« formulierte: »Sinnvolle Arbeit macht Spaß, da kann man auch ganz anders ranklotzen.«

Mitunter freilich heißt »alternativ« nichts anderes, als das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden -- und davon anständig leben zu können. Das gilt allemal für solche Kollektivbetriebe, die eine Konsumparzelle in persönliche Pflege genommen haben, ohne dadurch gleich das System aus den Angeln heben zu wollen.

So wirbt das Neuköllner »Kollektiv Kraftfahrzeugtechnik«, formal eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit drei Gesellschaftern. schlicht und ohne revolutionäres Tremolo mit dem Geschäfts-»Prinzip«, die »Kunden nicht zu bescheißen«. Nur in Fragen der »Zuverlässigkeit«, sagt Reiner, 35 und inzwischen Kfz-Meister, sei die fünfköpfige Arbeitsgruppe »dogmatisch«.

Pragmatismus, Liebe zum Handwerk, auch wenn sie mit der Innung »nix am Hut« haben, scheint ihnen unerläßlich, denn »die meisten Alternativ-Versuche scheitern, weil die Leute erst große theoretische Modelle machen und dann die Praxis nicht durchstehen«. Einen Alternativ-Anspruch mögen sie deshalb nicht erheben.

Die zahlreiche Kundschaft -- Voranmeldung: 14 Tage -- scheint trotzdem eine Alternative zu spüren. Denn die Kollektivisten bieten etwa dem Unfall-Fahrer neben der perfekten und teuren Reparatur stets eine billigere, »nur optisch unperfekte« Lösung an -- oder auch eine Mischung aus beidem.

Und dann, sagt Karl. 31 und Maurer von Beruf, »schrauben wir einfach billiger als die bürgerlichen Buden«. Vor fünf Jahren sei mal überlegt worden, »was jeder so brutto haben muß« und danach sind die Preise der Leistungen kalkuliert. Seitdem wird immer im Frühjahr die Inflationsrate »draufgepackt«; zur Zeit zahlen sich die besser Qualifizierten 2000 Mark monatlich aus, die anderen etwas weniger.

An dem, was -- selten genug -- übrigbleibt, am Profil, entzünden sieh traditionell die schärfsten Debatten. Denn nicht wenige Sozialisten im Nebenberuf erwarten von den Alternativ-Unternehmen vorweggenommenen Kommunismus und Nulltarif. Immer wieder, so Karl, kommen »Typen aus der Szene mit den letzten Schrippen angefahren, verlangen ganz komplizierte Sachen und möglichst noch fünfhundert Mark dazu«.

Zu solchen Verschlingungen von Solidität und Solidarität verleitet freilich auch der Werbe-Anreißer von den »Genossenpreisen«, mit dem vor allem viele der rund 80 West-Berliner Links-Lokale auf größere Genossengunst zielen. Und zur politischen Budiker-Pflicht gehört auch das Versprechen, etwaigen »Überschuß an andere alternative Projekte zu geben« -- so das »Cafe Cralle von Frauen für alle«.

Die Wirtshäuser, seit alters her zentrale Orte auch oppositioneller deutscher Geselligkeit, sind das Rückgrat der Szene. »Keine andere deutsche Stadt«, urteilt Rechtsanwalt Otto Schily, wie weiland Zeichner Zille immer im Milieu unterwegs, »hat, quantitativ und qualitativ, solch eine linke Kneipenkultur.«

Und nirgendwo sonst verbreiten sich Neuigkeiten und Gerüchte so rasch, als sei"s Familientratsch -- ganz gleich, ob der »dicke Uwe« als »Bullenspitzel« verdächtig ist, ob »eine Demo ansteht« oder einfach ein Film gut, ein Wohngemeinschaftszimmer frei, ein Job zu übernehmen ist.

Wegen ihres schier unersetzlichen Kommunikationswertes für die Generation, die das distanzierte »Sie« ersatzlos gestrichen und die Fertigzigarette durch die Selbstgedrehte ersetzt hat, sind Kneipen allemal die wirtschaftlich gesündesten Alternativ-Betriebe. Manche Gruppen haben sich inzwischen, der Existenzsicherung wegen, als zweites Bein ein Lokal zugelegt -- so das Kreuzberger Taxi-Kollektiv mit zwölf Leuten. zwei Droschken und der Kneipe »Objektiv«.

Das Startkapital ist oft durch persönliche Kleinkredite zusammengestoppelt, und wer in der Szene etwas verkaufen will, tut von Anfang an gut daran, eine »ganz miese Zahlungsmoral« (Röder) einzukalkulieren. Einschlägige Erfahrungen vor allem mit K-Gruppen machten beispielsweise die »Agit«-Drucker, derzeit mit die wichtigsten Multiplikatoren der Szene. »Grade die Dogmatischen glauben«, hat Druckerin Sabine im Umgang mit ihnen lernen müssen, »die könnten auf Kosten der linken Druckereien ihre Dinger durchziehen.«

Auch das »Agit-Druck-Kollektiv« geht demnächst, bei wechselnder Zusammensetzung, wie das Kfz-Kollektiv ins zehnte Jahr. Die Fluktuation ist gewollt: Keiner darf, so die Satzung, länger als vier Jahre im Kleinstbetrieb bleiben. Danach soll er wieder hinaus in einen normalen Betrieb.

Keiner der fünf Kollektivisten erwirbt jemals Eigentum an der Druckerei. Mit dem Ausscheiden erlischt ihr Stimmrecht. Bei häufig zwölfstündiger Arbeitszeit ist auch hier das Salär mehr als bescheiden: Jeder erhält 1000 Mark monatlich fürs Flugblatt- rind Broschürendrucken; wer Kinder hat, ein bißchen mehr. »Bei uns«, sagt einer von Agit«, ist »nichts mit tunix, lange schlafen -- aber alternativ«.

Organisationen und Initiativen innerhalb der Linken, so bestimmten es die »Agit«-Grundsätze, bekommen lediglich das Material, allenfalls die halben Lohnkosten berechnet. Profite werden nicht gemacht. Wenn eine schrottreife Druckmaschine ersetzt werden muß, sind die 64 000 Mark Anschaffungskosten nur durch Spenden aufzubringen.

Doch »Agit« ist zugleich das aktuellste Beispiel dafür, wie weit die Solidarität in und mit der Szene reicht: Als von April 1977 bis zum Sommer vergangenen Jahres drei Kollektiv-Mitglieder in U-Haft saßen, weil sie neben vielem anderen auch die immer mal wieder beschlagnahmte Anarcho-Gazette »info-Bug« gedruckt hatten, wurde kein einziger Auftrag storniert.

Umgekehrt verordnen sich zahlreiche Alternativ-Projekte eine politische und finanzielle Rechenschaftspflicht -- weniger dem Finanzamt gegenüber als der gleichgesinnten Gegen-Öffentlichkeit. So legte etwa der »Kinderbuchladen Kreuzberg«, genossenschaftlich von vier Frauen geführt, eine detaillierte Bilanz über zwei Jahre Arbeit vor.

Da wird der Kindschaft auf die Mark genau vorgerechnet, was 9885 im vergangenen Jahr produzierte Kinderkalender gekostet haben und was ihr Verkauf einbrachte. Zugleich erfährt die linke Großfamilie, daß der riskante Versuch geglückt ist, ausgerechnet im kulturell unterversorgten Arbeiterbezirk Kreuzberg mit guter Kinderliteratur zu handeln, daß sich »Dagi, Christine, Bärbel und Heike« wohlbefinden und »Konflikte« bislang »nicht aufgetreten« sind.

Der neue 79er Kalender ist nicht nur ein gelungenes Beispiel dafür, wie Marktlücken mit politischer Pädagogik gestopft werden können, sondern zugleich für jenes immer dichtere Kooperations-Netz, das die Szene überdeckt: Geschrieben und redaktionell betreut wurde der Kalender von den vier Laien-Buchhändlerinnen. Illustrationen lieferte das Zeichner- und Photographen-Kollektiv »Sehstern«. Gedruckt wurde beim »Contrast Satz und Druck Kollektiv«, und die Auslieferung besorgt der Kreuzberger »Maulwurf«-Buchvertrieb -- allesamt nach ihrem Selbstverständnis linke Unternehmen, außen GmbH und innen rot.

Rund 60 solcher Projekte haben sich -- neben 1500 West-Berliner Einzelkämpfern -- inzwischen zusätzlich in ein »Netzwerk Selbsthilfe« eingebunden (SPIEGEL 46/1978). An ihren Laden- und Lokaltüren klebt, groß wie Diners Club, das grüne »Netzwerk«-Signal mit einem rasenden Sparschwein und bedeutet dem Kollegen Kunden, daß hier ein Stückchen Gewinn in den gemeinsamen Fonds zugunsten derjenigen fließt, die dem Extremistenerlaß zum Opfer fielen.

Mit monatlich 1500 »Netzwerk«-Mark werden derzeit die Personalkosten des zweiten Berliner »Frauenhauses und einer »therapeutischen Tagesstätte« im ehemals roten Wedding beglichen. Kommt mehr zusammen, sind weitere Projekte mit solchen Mitarbeitern geplant, die vom Staat als für die beamtete Mehrheits-Gesellschaft untragbar aussortiert worden sind.

Die zu vernetzende Szene der Ausgegrenzten und Ausgestiegenen eint in West-Berlin Realistisches und Utopisches, linke Radikale und makrobiotische Lebensreformer, Homos und Heteros, Ökologen und Alternativ-Ökonomen, Reste der alten Apo und neue Streß-Opfer, Rote und Grüne.

Die nie rentierlichen, mit Senatsgeldern versorgten Kinderläden, Sozial- und Selbsthilfeprojekte für arbeitslose Jugendliche zählen sich ebenso dazu wie zwei Dutzend linke Verlage, Stadt- und Stadtteil-Zeitungen ebenso wie freie Theater-, Musikgruppen und fast zwanzig Off-Kinos. Ein Übersetzungsbüro ("Babylon GmbH") bietet seine polyglotte Hilfe für Texte aller »Arten und Unarten« an.

Das »Lesbische Aktionszentrum« und das »Schwulen-Zentrum«, das eine im ersten, das andere im dritten Hinterhof desselben Hauses, rechnen sich ebenso zur Szene wie etwa die Geburtshilfegruppe für Schwangere »Im 13. Mond« und sogar einträgliche Unternehmen wie zwei »Peace Food«-Lüden.

Von Anhängern der Ananda-Marga-Meditation betrieben, sollen sie sowohl »eine vollwertige biologische Ernährungsweise verbreiten« als auch gleich »eine nicht profitorientierte Ökonomie« herbeiexperimentieren helfen. Für dieses Jahrhundert-Unternehmen, eben mehr nach Marga als nach Marx, braucht es freilich den nicht konsumorientierten Konsumenten. Einen, der beim Tee-Einkauf noch rasch zum Sonderangebot »Norwater« greift, zwölf Liter norwegisches Quellwasser zu 10,50 Mark. Oder der plötzlich gewahr wird, daß ihm zum Haarewaschen eigentlich schon immer »nichtentfettete Lavaerde« gefehlt hat, das Pfund bei »Peace Food« um 2,80 Mark feil.

Die West-Berliner Alternativ-Szene, zwischen Skurrilität und Ernsthaftigkeit derzeit noch am festesten durch den Aufkleber mit der freundlichen Sonne und dem Spruch »Atomkraft? -Nein danke« zusammengehalten, ist denn auch ständig der Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert.

Vor allem die Verwalter des Apo-Erbes, gruppiert um die Zeitschrift »Langer Marsch«, werfen den »Sceneasten« den Rückzug auf eine larmoyante Innerlichkeit vor. Vor lauter Nabelschau sei den jungen Verweigerern von heute die gesellschaftliche Perspektive verlorengegangen.

In der Tat läßt die politische Ahnungs- und Orientierungslosigkeit mancher Alternativ-Puristen befürchten, daß sie eines nicht allzu fernen Tages dort enden, wo sich schon Teile der deutschen Reform- und Jugendbewegung der Jahrhundertwende in Wohlgefallen auflösten: in kleinbürgerlichem Romantizismus oder esoterischer Naturbeflissenheit -- beides wenig später vom Nationalsozialismus fast mühelos integriert.

Am bislang schärfsten und spöttischsten haben die Politologen Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker den Tagesablauf der »Klammheimlichen im Getto« charakterisiert. Danach wacht

der Durchschnitts-Stadtteilindianer ... in einer Wohngemeinschaft auf, kauft sich Brötchen in der Stadtbäckerei um die Ecke, dazu ein Müsli aus dem makrobiotischen Tante-Emma-Laden, liest zum Frühstück »Pflasterstrand«, »Info-Bug«, »Zitty«, geht -- falls er nicht zero-work-Anhänger ist -- zur Arbeit in einem selbstorganisierten Kleinbetrieb oder in ein »Alternativ-Projekt«, alle fünf Tage hat er Aufsicht in einem Kinderladen, seine Ente läßt er in einer linken Autoreparaturwerkstatt zusammenflicken.

Ob die West-Berliner Mehrheitsgesellschaft sich eine solche selbstgenügsame Subkultur unbesorgt leisten kann oder ob dort unter der Oberfläche tatsächlich eine politische Gegenkultur entsteht, aus der eines Tages die nächste Rebellion heranbrandet -- darüber gehen die Meinungen auseinander.

Für Wissenschaftssenator Glotz sind die »zwei Kulturen« inner- und außerhalb der Hochschulen bereits Fakt. Für Eberhard Lämmert, den Präsidenten der Freien Universität, sind es »zwei Seiten ein und derselben Kultur«, zwei Positionen im Streit zwischen denen, »die das Ideal des freien Bürgers verwirklichen, nämlich nicht etabliert zu sein«, und jenen, die »sich im Establishment engagiert, beengt und eingeschränkt haben«.

Der Politologe Johannes Agnoli schließlich hält die Glotzsche Definition von der kulturellen Dualität zwar für »korrekt«, befürchtet aber, daß damit das Getto-Schicksal der sich verweigernden Minderheit für lange Zeit besiegelt sein könnte. Agnolis Sorge ist, daß »nicht etwa ein konfliktuales Kommunikationssystem entsteht, sondern im Gegenteil die restlose Isolation in einem geschlossenen System«.

Ein erster Aufbruch, die Konflikte wieder über die innere Front hinaus ins Zentrum der Stadt zu tragen, scheint bereits im Ansatz gescheitert: Die »Alternative Liste«, mit der Rote und Grüne bei den kommenden Wahlen ins Berliner Abgeordnetenhaus vorstoßen wollen, gilt vielen schon jetzt als paralysiert, seit die zusammengeschmolzene KPD sich bei den Alternativen aufs Trittbrett geschwungen hat, ihnen ausgerechnet in Berlin Entspannungsfeindlichkeit als kluge Politik aufredet und sie im Bündnis zu ersticken droht.

Derweil bemüht sich Senator Glotz, Chef-Merker der West-Berliner Sozialdemokratie, wenigstens Teile der mit dem Staat und der SPD, aber auch mit sich selbst hadernden Sponti-Linken in einen Dialog einzubinden: Auf ihrem Tunix-Kongreß hielt er ihnen tapfer ihre latente Neigung zur Gewalt vor und versuchte gleichzeitig, sie auf »neue und menschliche Reformen des Zusammenlebens« zu verpflichten. Zwischenruf: »Wir durchschauen deine Tricks, uns zu umarmen.«

Ob Glotz« Versöhnungsversuch von Mehrheits- und Minderheitskultur nicht schon zu spät kommt, ist weder aus der einen noch aus der anderen Sicht eindeutig zu beantworten. Eines ist dem Sozialdemokraten (siehe Seite 62) allerdings klar: »Der Versuch, mit Hilfe der Mehrheitskultur die Minderheiten in die Löcher zurückzuscheuchen -- das wird auf die Dauer nicht mehr funktionieren.« Was dann?

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