BAYERN Außer Betracht
Zwei Jahrzehnte nach dem Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) durch das Bundesverfassungsgericht sah sich Ex-Bundesverfassungsrichter Martin Drath zu einer nachträglichen Erläuterung der Entscheidung veranlaßt. »Das Verbotsurteil«, so der Jurist, habe »weder die Theorie des Marxismus-Leninismus noch den Kommunismus schlechthin für verfassungswidrig erklärt«.
Es war ihm deshalb »unerfindlich«, wie Gerichte und Behörden »aus unserem damaligen Urteil« nachträglich das Recht ableiten könnten, »jede Form und jeden Bestandteil der kommunistischen Idee zu diskriminieren« und »mit dieser Diskriminierung engagierten Berufsanfängern das Tor zur gewählten Laufbahn zuzuschlagen«.
Das Nachwort stammt aus einer sechsseitigen Expertise, die Drath vor Jahren schon zugunsten der Münchner Lehramtsanwärterin Inge Bierlein, 34, angefertigt hat. Die Münchner Germanistin hatte sich bei ihrer Bewerbung für den Schuldienst in einem 14-Seiten-Brief an das bayrische Kultusministerium freimütig zu ihrer DKP-Mitgliedschaft bekannt - aber auch zu wesentlichen Grundsätzen der bundesdeutschen Verfassung wie Volkssouveränität, Wahlfreiheit, Mehrparteienprinzip und Gewaltenteilung.
Die Offenheit nutzte der Bewerberin nichts, auch die Drath-Depesche machte auf die Einstellungsbehörde keinen Eindruck. Inge Bierlein, die ihr erstes Staatsexamen mit »ausgezeichnet« bestanden hatte, blieb der Zugang zum staatlichen Schuldienst versperrt, und das seit nunmehr fast zehn Jahren.
In Bayern, wo es schon immer etwas schwierig war, Beamter zu werden, wenn politische Jugendsünden oder fehlende Abscheu vor Kommunisten den Bewerber belasteten, ist es bei der Abwehr von Extremisten vom öffentlichen Dienst im Fall Bierlein nach dem Eindruck von Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schmitt-Lermann zu einem »Offenbarungseid der Berufsverbots-Rechtsprechung« gekommen.
Insgesamt 22 deutsche Professoren und hohe Richter haben sich für die bedrängte Kommunistin eingesetzt, die »Persilscheine der anerkannten Autoritäten« (Schmitt-Lermann) wurden als Privatgutachten in den Prozeß eingeführt.
Der Marxismus-Experte Iring Fetscher ordnete Inge Bierleins Bekenntnisse »durchaus im Rahmen der von Verfassungsrechtlern der Bundesrepublik abgesteckten Bandbreite« ein, Professor Jürgen Habermas »könnte sich die Substanz dieser Ansichten zu eigen machen« und äußerte Zweifel, »ob die Richter der FDGO-Interpretation der Antragstellerin gewachsen sind«.
»Keinen Schluß auf mangelnde Treue oder Distanz zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung« mochte auch der CDU-Mitbegründer und einstige hessische Kultusminister Erwin Stein ziehen. Stein ist in Fragen des Extremismus gewiß kompetent: Wie Drath wirkte er 1956 als Bundesverfassungsrichter beim Verbot der KPD mit.
Mit gleicher Entschiedenheit stützten zwei andere ehemalige Bundesverfassungsrichter, deren Namen unter dem KPD-Urteil stehen, als Gutachter die Auffassung Inge Bierleins. Herbert Scholtissek lobte ihre »ehrenwerten Ansichten« und sorgte sich, daß der Radikalenerlaß »gerade intelligente Menschen notwendig in den Untergrund drängt«.
Konrad Zweigert, im KPD-Verfahren als Berichterstatter tätig, bescheinigte der Münchnerin, sie vertrete »in sehr engagierter Weise Positionen unseres demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens«.
Die hochmögenden juristischen Gutachten, mittlerweile unter dem Titel »Bierleins Beichte« als Broschüre gedruckt, vermochten freilich die bayrische Praxis der Radikalenabwehr nicht zu beeinflussen. Die Münchner Verwaltungsrichter, die Bierleins Beichte als »polemische Abschweifung« einer Kommunistin abtaten, waren nach Kräften bemüht, die juristischen Expertisen zu ignorieren.
Mal schrieben sie beiläufig in eine Entscheidung, daß die »vorgelegten Gutachten außer Betracht bleiben können«, mal entbanden sie sich ohne Begründung von der »Aufgabe, sich mit den von der Klägerin eingeholten Stellungnahmen bekannter Juristen auseinanderzusetzen«.
Die bundesdeutschen Verwaltungsgerichte halten sich penibel und wortgetreu an zwei Grundsatzentscheidungen des Berliner Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1975, die gegen zwei kommunistische Lehramtsanwärterinnen ergangen waren.
Mitwirkende an beiden Grundsatzverfahren waren Rudolf Weber-Lortsch, im Dritten Reich Justiz- und Verwaltungschef beim Höheren SS- und Polizeiführer im Reichskommissariat Ukraine, sowie Edmund de Chapeaurouge, der vor 1945 den jüdischen Kaufmann Leon Abel wegen des »Verbrechens der Rassenschande« zum »minderwertigen Menschen« gestempelt und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt hatte (SPIEGEL 32/ 1975). Bierlein-Anwalt Schmitt-Lermann: »Es ist wohl kein Zufall, wenn im Ausland die deutsche Arbeiterbewegung einen höheren demokratischen Kredit genießt als die deutsche Justiz.«
Daß ausgerechnet zwei in bezug auf Minderheiten derart belastete Juristen die Urväter der neueren deutschen Radikalenrechtsprechung sein sollen, weisen die bayrischen Verwaltungsrichter zurück. Im Urteil des Verwaltungsgerichts München in Sachen Bierlein heißt es fast beschwörend, die »einheitliche Rechtsauffassung der Verwaltungsgerichte« beruhe auf eigener »kritischer Überprüfung« und auf »Kollegialentscheidungen« - und sei »nicht etwa auf die Meinung zweier Richter am Bundesverwaltungsgericht zurückzuführen«.
Um einer weiteren Ausuferung des Falles Bierlein zu begegnen, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof letzte Woche die Novelle »zur Entlastung der Gerichte« angewandt und ohne mündliche Verhandlung und neuerliche Beweiserhebung die Berufung kurzerhand verworfen. Die 22 Spitzengutachten waren auch diesmal »kein für die Entscheidung erheblicher Umstand«.
Wie das Kultusministerium baute auch der Gerichtshof auf die »Erkenntnisse« des bayrischen Verfassungsschutzes - für die im Fall Bierlein der inzwischen dienstenthobene und verhaftete Ministerialdirigent Hans Langemann verantwortlich war. »Statt auf Hippokrates und Paracelsus«, so sieht es Bierlein-Anwalt Schmitt-Lermann, »hat man sich mit der Diagnose des Sanitätsgefreiten Neumann begnügt«.
So hat Inge Bierlein in der Zeit, in der sie an der Ausübung ihres Berufes gehindert wurde, etwas gemacht, was auch im Freistaat Bayern noch nicht unter Strafe steht: Sie hat geheiratet, zwei Kinder bekommen und nebenbei über den »Grünen Heinrich« promoviert.