Autobahnbau: Schlechte Zeiten für Dübodo
Im Frankfurter Nordosten luden evangelische Kirchengemeinden zu einem »Osterspaziergang« auf zwei schon abgesteckten Schnellstraßentrassen ein, um, so der Name der Protestaktion, den »Moloch Autobahn« vorzuführen.
Der Landesverband Hessen im »Bund Umwelt- und Naturschutz Deutschland« will den Moloch im Nordhessischen durch den gezielten Ankauf von »Sperrgrundstücken« bändigen. Und für den »Bundesverband Bürgerinitiative Umweltschutz« ist Autobahnprotest neben der Anti-Kernkraft-Bewegung unterdessen zum »zweiten Bein« geworden -- nach »Atomkraft? Nein danke!« nun auch der Slogan »Statt Autobahnen«.
Allein 35 Bürgerinitiativen mit 150 000 Mitgliedern bekämpfen im Ruhrgebiet den »Friesenspieß«, die vom Rheinischen bei Bonn bis ins Ostfriesische nach Emden geplante Autobahn A 31. Die Vollendung der »Dübodo«, der A 44 Düsseldorf-Bochum -- Dortmund, wurde durch Bürgerinitiativen, aber auch Vetos betroffener Kommunen schon jetzt um zehn Jahre verzögert. »Bei Autobahnen bewegt sich«, wie ein Sprecher des Düsseldorfer Wirtschaftsministeriums sagt, »kaum noch was.«
Da brachten im deutschen Südwesten 3500 Einsprüche und 35 000 Bürgerunterschriften das Autobahnprojekt Singen -- Konstanz vorerst zum Stillstand. Der Bund Naturschutz legte gegen einen wiederaufgehobenen Baustopp der A 93, der bayrischen Regental-Autobahn, Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein.
Nach Berechnungen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe hat sich die Zahl der Klagen bei sogenannten Planfeststellungsverfahren für Autobahnen binnen zehn Jahren mehr als verdoppelt: 1968 waren es pro 100 Kilometer Trasse 27, letztes Jahr schon 59. Und wegen einer Autobahn, die er nicht will, nahm in Düsseldorf ein Minister seinen Abschied, der für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zuständige Sozialdemokrat Diether Deneke.
Wenn schon nicht im Einvernehmen mit den motorisierten Massen, so doch im Einklang mit der zurück zur Natur schäumenden Protestwelle der Bürgerinitiativler geht es nun voll gegen die Autobahnen -- jahrzehntelang ein Glanzstück deutschen Aufbaus, neue Dimension für den mobil gewordenen Bürger wie für die auf Mobilität angewiesene Wirtschaft. Unbestritten verfügt die Bundesrepublik Deutschland derzeit über das beste und dichteste Netz kreuzungsfreier Rollbahnen in der Welt.
Mittlerweile 7215 Kilometer Autobahn brachten ein Höchstmaß an Freizügigkeit und Zeitgewinn, auf der Urlaubsreise wie beim Pendeln zwischen den Wohnorten und den Arbeitsplätzen in Städten und Ballungsgebieten. Autobahnen erschlossen abgelegene Regionen für den Fremdenverkehr, schufen in wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten oftmals die Voraussetzungen für Industrieansiedlungen und Arbeitsplätze.
Vor allem aber fährt es sich auf Autobahnen sicherer als auf allen anderen Straßen. So machen die Autobahnkilometer nur 1,5 Prozent des gesamten westdeutschen Straßennetzes aus, aber annähernd 25 Prozent der in der Bundesrepublik mit dem Kraftfahrzeug gefahrenen Kilometer, der »Gesamtfahrleistungen«, werden auf Autobahnen zurückgelegt -- und doch ereignen sich dort nur fünf Prozent aller Unfälle.
Bezogen auf die zurückgelegten Kilometer, ist zum Beispiel das Risiko, tödlich zu verunglücken, auf Land- und Stadtstraßen gut fünfmal höher als auf Autobahnen. In Nordrhein-Westfalen etwa, einem Flächenland mit relativ dichtem Autobahnnetz, ging die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle je 100 000 Einwohner von 1969 bis 1978 um 6,6 auf 18,4 zurück, während sie in der gleichen Zeit im autobahnarmen Bayern sogar noch um 1,6 auf 30,7 anstieg.
Und in einer Studie zum »Straßenverkehr 2000«, einer von Bonn in Auftrag gegebenen Analyse der Verkehrsentwicklung bis zur Jahrtausendwende, belegt der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC), »daß jeder zusätzlich gebaute Autobahnkilometer jährlich etwa 60 Unfälle vermeiden kann und jeweils drei zusätzliche Kilometer einen Unfalltoten »einsparen« helfen«.
Heißt: Je mehr Autobahnkilometer gebaut werden, je größer der Anteil der Gesamtfahrleistung ist, der sich so auf Autobahnen verlagert, desto geringer werden die Unfallgefahren -- ein gewichtiges Argument in einem Land, in dem etwa 80 Prozent aller Beförderungsleistungen mit dem Personenwagen bewältigt werden und wo die Bevölkerung, so folgert der ADAC daraus, »ihre Entscheidung für das Auto als Verkehrsmittel Nr. 1 längst gefällt hat«.
Doch mit den Straßenkilometern wuchs in der Bundesrepublik auch Umweltbewußtsein, nicht nur bei Käfersammlern oder bei Grundstücksbesitzern, denen die Planer die Fernsicht verbauten. Immerhin kostet jeder Autobahnkilometer bei Vollausbau inklusive Mittelstreifen, Standspur und Böschung sechs bis sieben Hektar Land, Kreuzungsbauwerke, Auf- und Zufahrten nicht mitgerechnet. Zuweilen ohne Rücksicht auf ökologische Belange schlugen und schlagen die Straßenbauer ihre Breschen durch Vorstädte und Naherholungsgebiete der Ballungszentren, durch Wald und gesetzlich geschützte Landschaft, hinein in letzte Moore und seltene Feuchtgebiete.
War noch bis vor kurzem das von Autobahnen und Schnellstraßen zerklüftete Rhein-Ruhr-Gebiet im westdeutschen Straßenbauwesen »an Chaotik« (der Münchner Städtebau-Professor Gerd Albers) durch nichts zu überbieten, so ist nun der Frankfurter Raum drauf und dran, »deutsches Negativ-Beispiel Nummer eins zu werden« (der Bonner Stadt- und Regionalplaner Heiner Monheim). Durch ein dichtes sechsspuriges Geflecht sollen dort mehrere Fernautobahnen miteinander verwoben werden -- auf Kosten einiger Millionen Quadratmeter Wald und Naturschutzgebiet, streckenweise vorbei an Schulen, Altersheimen und Krankenhäusern.
Durch sechs Wasserschutzgebiete, zwei Landschaftsschutzgebiete und unmittelbar an zwei Naturschutzgebieten entlang soll die Trasse Singen -- Konstanz führen. Die geplante Hochschwarzwald-Autobahn A 86 von Freiburg nach Donaueschingen, seit Jahren heftig umstrittenes Projekt und in der Sicht des sensiblen baden-württembergischen SPD-Vorsitzenden Erhard Eppler »eine mittlere Barbarei«, würde eine Schneise quer durch eine der schönsten deutschen Landschaften schlagen.
»Verheerend« wären nach einem Gutachten der Professoren Martin Einsele und Hans Jürgen d"Alleux die Folgen des Friesenspießes für die Umwelt des Ruhrtales: 25 000 Menschen müßten danach mit zusätzlichen gesundheitlichen Belastungen leben -- zu schweigen von 1050 Ruhrtalbewohnern, deren Häuser der Trasse im Wege stehen. Am Beispiel Friesenspieß aber erweist sich auch, wie problematisch der pauschale Protest gegen die Autobahn sein kann, wie geboten allemal eine sorgsame Güterabwägung erscheint.
Das Schweizer Prognos-Institut gutachtete mit einer Kosten-Nutzen-Analyse gegen Einsele an: Im Vergleich mit einer zum Friesenspieß-Abschnitt angebotenen Alternative, dem Ausbau der vorhandenen Autobahn Duisburg -- Hilden -- Leverkusen auf acht Spuren, würde die neue Strecke unter anderem jährlichen Zeitgewinn für 176 Millionen Mark einbringen, die Alternative aber nur für 19,6 Millionen. Für das wirtschaftliche Wachstum der Region würde der Friesenspieß laut Prognos im Jahr mit 34,7 Millionen zu Buche schlagen, die Alternative dagegen mit 0,0.
Bei der A 4 von Olpe nach Bad Hersfeld durchs Rothaargebirge, derentwegen der Düsseldorfer Minister und gelernte Gärtner Diether Deneke vor drei Wochen ging, stehen gegen erhofftes wirtschaftliches Wachstum und 11 000 zusätzliche Arbeitsplätze im dünnbesiedelten Wittgensteiner Land 30 000 Festmeter Holz, 450 Hektar
* Oben: Naturpark Rothaargebirge; unten: bei
Hamburg
Wald, Waldwege und Wildwechsel, einer »der letzten ökologischen Großzellen« (Deneke) der Bundesrepublik zur Disposition.
Gegen Deneke wiederum wendet sich Joachim Grünewald, 45, Oberkreisdirektor in Olpe: Die 34 Kilometer Autobahn, die durch den Naturpark gingen, machten gerade 0,07 Prozent dieses Areals aus, und zudem sei »die Bilanz der notwendigen Abholzung und Neubepflanzung sogar positiv, nämlich 324 zu 372 Hektar«. Und »weder der Naturpark Ebbegebirge«, den Grünewald als Vorsteher eines Park-Verbands betreut, »noch die Naturparks Altmühltal und Spessart sind durch Autobahnen zerstört worden; die verkehrliche Erschließung hat sie vielmehr erreichbar und damit wertvoller gemacht«.
Eines so spektakulären Zeichens, wie es Minister Deneke für den bundesweiten Autobahnprotest setzte, hätte es indessen wohl gar nicht mehr bedurft: weil ein großer Teil der heftig befehdeten Autobahntrassen sowieso nicht mehr gebraucht und gebaut werden wird.
Die einst von Georg Leber, dem Amtsvorgänger des derzeitigen Bonner Verkehrsministers Kurt Gscheidle, ausgegebene Losung, kein Autofahrer in der Bundesrepublik solle es von seiner Wohnung aus weiter als »25 bis 30 Kilometer« bis zur nächsten Autobahnauffahrt haben, ist längst passe. Nun wird sich auch die von Gscheidle noch vor zwei Jahren für 1995 angepeilte »Zielvorgabe von 12 000 Autobahnkilometern« verändern. Hinweise auf die künftigen Dimensionen des »Bedarfsplanes« für die Bundesfernstraßen, dessen Überprüfung im nächsten Jahr ansteht, enthält ein Schreiben, das Gscheidle im April seinen Länderkollegen zukommen ließ.
Danach soll in Zukunft beim Straßenbau, eigentlich selbstverständlich, »Qualität« vor »Kilometerleistung« Vorrang haben, soll zum Beispiel »Trassenbündelung« dort vorgenommen werden, wo der »Ausbau bestehender Verkehrswege einen Neubau ersetzen kann«, sollen vorhandene Kapazitäten »durch verkehrslenkende und verkehrsführende Maßnahmen« besser genutzt werden.
Auf den Autobahnbau bezogen, heißt das: Statt völlig neue Schneisen in die Landschaft zu schlagen, sollen die Straßenbauer möglichst Bundesstraßen zu Autobahnen ausbauen -- was den Geländebedarf je Kilometer um etwa die Hälfte reduzieren würde; statt zu einer überlasteten Autobahn gleich eine parallel verlaufende neue Piste zu betonieren, sollen sie die vorhandene verbreitern oder etwa durch verbesserte Stau-Warnsysteme chronische Engpässe abbauen.
Eine »Qualitätsverbesserung« des Netzes etwa durch komplette Ausstattung mit Standspuren und weitgehenden Ausbau auf sechs Fahrspuren vorausgesetzt, reicht auch nach der ADAC-Analyse eine »Minimalausstattung« von rund 9000 BAB-Kilometern aus, »bei Wahrung des Status quo der Verkehrsabläufe, aber gleichzeitiger Verringerung der Unfallhäufigkeit den Verkehr bis zum Jahre 2000 zu bewältigen« -- so Studien-Mitautor Hans-Joachim Vorholz. Denn die ADAC-Prognose geht unter anderem davon aus, daß
* der Pkw-Bestand in der Bundesrepublik bis zur Jahrtausendwende mit 25,1 Millionen (heute: 21,6) zwar sein Maximum erreicht,
* die Bevölkerung in der Bundesrepublik aber gleichzeitig von jetzt 60,8 auf 56,3 Millionen abnimmt und deshalb die Fahrleistungen allmählich stagnieren,
* sich schließlich auch bei Beschränkung auf das Minimalprogramm ein immer größerer Anteil der Fahrleistungen von Stadt- und Landstraßen auf die sicheren Autobahnen verlagert und die Unfallquoten damit weiter fallen.
Da heute bereits 7215 Autobahnkilometer fertig und weitere 850 im Bau sind, blieben unter diesen Voraussetzungen nur noch knapp 1000 Kilometer neu anzulegen -- darunter, nach Auffassung der ADAC-Gutachter, allerdings auch so bekämpfte Trassen wie die Verbindung von München über Memmingen, Lindau und Singen an die Schweizer Grenze und die Hochschwarzwald-Autobahn.
Keine Chance dagegen hätten nach dieser Studie die Küstenautobahn, die auf der amtlichen Karte »Netz der Bundesautobahnen und Bundesstraßen« mit zwei roten gestrichelten Parallelen ("Linienführung liegt vielfach noch nicht fest") über Unterelbe und Unterweser hinweg die Lübecker Bucht mit der Ems-Mündung verbindet, oder die A 5 von Bremen bis ins Hessische und schließlich die Rothaargebirge-Autobahn. Der überregionale Zweck, den die Planer der Rothaartrasse zugedacht haben (Anbindung des Rhein- und Siegerlandes an die Nord-Süd-Magistrale Dänemark -- Hamburg -- Süddeutschland -- Südeuropa), könnte auch von schon vorhandenen Rollbahnen und weniger aufwendigen Ergänzungen im Streckennetz erfüllt werden.
Über die Jahrtausendwende hinaus mögen die ADAC-Analytiker nicht spekulieren. Weil aber die Bevölkerungsentwicklung wohl rückläufig sein wird, dürften Autobahnen, die man zu Ende des 20. Jahrhunderts über die 9000 Kilometer-Marke hinaus baute, nach Einschätzung des Gutachters Vorholz »dann vermutlich leer sein«.