»Autoverleih im Paradies«
Schulze, 49, ist Soziologie-Professor an der Universität Bamberg und Autor des Buches »Die Erlebnisgesellschaft«.
SPIEGEL: Weder die Rezession noch der Streß in Staus oder an überfüllten Ferienorten hält die Deutschen vom Reisen ab. Woran liegt das?
Schulze: Jeder will sein Alltagsdasein auf die Spitze treiben - in großem Stil. Denn schöne Gefühle sind der Sinn des Lebens, und Urlaub ist radikalisierte Sinnsuche, oft nach einem scheinbar rationalen Kalkül: planvolle Komposition der äußeren Umstände, um innere Wirkungen zu erzielen. Man hofft: Wenn das Gemisch aus Wetter, Landschaft, Partner und Kultur gelingt, so ist das Ergebnis Glück.
SPIEGEL: Die meisten Urlauber verlassen sich auf fremde Hilfe - von Veranstaltern, von Animateuren, von Prospekten und Ratgebern. Läßt sich Glück überhaupt organisieren?
Schulze: Natürlich nur begrenzt. Im Augenblick des Ankommens im Hotelzimmer, am Traumstrand, auf dem Luxusliner müßte eigentlich das Genießen anfangen. Aber auch optimale Umstände garantieren kein Glück. Plötzlich sind wir selbst gefordert. Den letzten Schritt vom Gegenstand des Erlebnisses zum Erlebnis selbst müssen wir ganz allein gehen.
SPIEGEL: Warum fällt der so schwer?
Schulze: Weil es bequem scheint, die Verantwortung für Erlebnisse an Produkte, Umgebungen und Partner zu delegieren. Aber kein Dienstleistungsunternehmen kann an unserer Stelle sehen, hören, schmecken, riechen, fasziniert sein, Lust empfinden. Erlebnisse verlangen uns etwas ab: Aufmerksamkeit, Phantasie, Geduld.
SPIEGEL: Die hochgeschraubten Erwartungen werden oft enttäuscht. Muß das so sein?
Schulze: Als Touristen setzen wir alles auf eine Karte, was wir sonst in kleinen Portionen investieren. Wir verheizen eine geballte Ladung Zeit, Geld und Energie. Spannung und Entspannung, Ekstase und Versenkung sollen durch den Einsatz technischer Intelligenz gezielt ausgelöst und gesteigert werden.
SPIEGEL: Das erklärt den Erfolg synthetischer Ferienwelten wie der »Center-Parcs«, in denen Genuß nach Schablone angeboten wird.
Schulze: Im Grunde weiß aber jeder, daß die schönsten Erlebnisse unbeabsichtigt kommen. Sie sind wesentlich Nebensache, und man muß ein hohes Mißerfolgsrisiko in Kauf nehmen, wenn man sie zur Hauptsache macht.
SPIEGEL: Wie kann man mit diesem Risiko umgehen?
Schulze: Wir haben zwei Möglichkeiten: uns darauf einzulassen oder alles für seine Verdrängung zu mobilisieren. Den ersten Weg kann nur beschreiten, wer die Fähigkeit besitzt, den ursprünglichen Zweck des Reisens, das schöne Leben, auch einmal zu vergessen - ohne den Erfolgsdruck planvoll anvisierter Gefühlswirkungen. Ich nenne das Erlebniskunst. Je weniger man sich anstrengt, desto weiter kommt man.
SPIEGEL: Der Trend geht in die andere Richtung. Man wird mit Angeboten, mit Animation und Spektakeln überhäuft.
Schulze: Dieser Dschungel von Möglichkeiten bestärkt nur die Unsicherheit, ob man richtig gewählt hat, denn immer ist noch eine Steigerung denkbar. Enttäuschungen werden durch Verdichtung von Unternehmungen pro Zeiteinheit ausgeglichen, das Weitersuchen wird zum Ersatz für das Finden. Und der Autoverleih im Paradies ist Ausdruck unserer Unfähigkeit, ans Ziel zu kommen.
SPIEGEL: Ist der Tourismus also in der falschen Richtung unterwegs?
Schulze: Daß mehr und mehr Menschen ihr eigenes Innenleben an die erste Stelle setzen und nicht irgendwelche politischen Systeme, Volksgemeinschaften oder Gespenster, halte ich zunächst für einen Anlaß zum Feiern. Was können wir Besseres mit unserem Leben anfangen, als uns, zusammen mit anderen, daran zu freuen? Es besteht allerdings die Gefahr, daß dieser Fortschritt wieder verspielt wird, indem wir uns selbst behandeln, als wären wir eine Sache. Das Effizienzdenken ist auf Erlebnisse nicht anwendbar.
SPIEGEL: Die Konsequenz wäre, im Urlaub möglichst auf Außensteuerung und Fremdbestimmung zu verzichten.
Schulze: Glück ist ein Zustand der Selbstvergessenheit. Wenn man ganz in eine Tätigkeit versunken ist und nicht mehr über das Glück nachdenkt, dann ist es auf einmal da. Die Lektion ist allerdings schwierig, die lernt man nicht in der Schule, leider.
SPIEGEL: Sondern?
Schulze: Eine Reise ist eigentlich eine ideale Trainingsmöglichkeit. Nur macht uns die Welt-Tourismus-Maschine, unser aller Produkt, das Ankommen so schwer. Deswegen sollte man sich darüber klar werden, daß man überall ankommen kann. Auch zu Hause.