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»Avanti Dilettanti«

SOS in Bonn: Die Koalition bekommt die Finanzen nicht in den Griff, die Schulden explodieren. Eine Verschlankung des Staatsapparats ist überfällig. Im engsten Führungszirkel der Regierung wird eine Verschiebung der europäischen Währungsunion nicht mehr ausgeschlossen.
Von Winfried Didzoleit, Susanne Schäfer und Hans-Jürgen Schlamp
aus DER SPIEGEL 24/1997

Mißmutig blickte der Kanzler über den Rhein. »Auch für mich gibt es Grenzen des Zumutbaren«, warnte Helmut Kohl mit belegter Stimme die Partei- und Fraktionschefs seiner konservativ-liberalen Koalition, »das sollte hier

jedem bewußt sein.« Endzeitstimmung kam auf beim Krisengipfel im Kanzlerbungalow am vorvergangenen Sonntag abend. In mehrstündiger Sitzung hatten Unionisten und Liberale erneut ihre Unfähigkeit demonstriert, sich zusammenzuraufen.

Alles Wesentliche blieb ungeklärt: Wie soll der Haushalt 1997 finanziert werden? Wie lassen sich die strengen Maastricht-Kriterien für die Währungsunion einhalten? Was wird eigentlich aus der als »Jahrhundertwerk« angekündigten Steuerreform?

Als dann auch noch die Nachricht vom Wahlsieg des französischen Sozialisten Lionel Jospin eintraf, war die Stimmung im Kanzlerbungalow restlos dahin. Mit Ausnahme von Spanien und Deutschland sind nun überall in der Europäischen Union Sozialdemokraten mit an der Macht.

Ein genervter Kanzler verbat sich jegliche Euro-Ausstiegsdiskussion, wie sie in den Reihen der CSU bereits geführt wird: »Das wäre tödlich für Deutschland.« Jetzt komme es in Europa noch mehr auf die Deutschen an.

»Damit das ganz klar ist«, warnte Kohl: Er werde Mitte Juni nicht am Amsterdamer EU-Gipfel teilnehmen, ohne seinen Amtskollegen mit Blick auf die Maastricht-Defizitkriterien klipp und klar sagen zu können: »Wir Deutschen haben unsere Hausaufgaben gemacht und schaffen es.«

Aber wie? Der Regierung fehlt beides - das Geld im Staatshaushalt und ein für CDU, CSU und FDP gleichermaßen akzeptables Konzept, wie die fehlenden Milliarden zu beschaffen sind. Die Koalition im Juni: verschuldet, verkracht, ratlos.

Mit den üblichen Notoperationen kommt Theo Waigel, der dienstälteste Kassenwart der Republik, nicht mehr weiter.

Steuererhöhungen wären bequem - doch die FDP will ihr Wort halten, keine zuzulassen. Wenn erneut an der Steuerschraube gedreht wird, sagt FDP-Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch, »ist Schluß«. Schon wenn die Union an der geplanten Absenkung des Soli-Zuschlags rüttele, drohte FDP-Wirtschaftssprecher Paul Friedhoff, »stellt sich die Koalitionsfrage«.

Gegen die Neubewertung des Goldschatzes und eine Ausschüttung der so gewonnenen Milliarden setzte sich die Bundesbank (siehe Kasten Seite 34) erfolgreich zur Wehr. Sparen durch weiteren Sozialabbau ist selbst in der Union für viele tabu.

Bleiben die Gutverdiener und die Konzernkassen: Doch die sind kaum mehr für den deutschen Fiskus erreichbar. Schon jede Ankündigung einer Mehrbelastung treibt Privatvermögen und Unternehmen ins Ausland.

Neue Schulden auftürmen und auf bessere Zeiten hoffen, auch dieser Weg ist verbaut. Waigel hat sich, gedrängt von seinem CSU-Rivalen, Bayerns Premier Edmund Stoiber, auf eine punktgenaue Erfüllung der Maastricht-Kriterien festgelegt.

Stoiber bleibt auch nach Bekanntwerden der neuen Haushaltslücken stur, er will seinem Parteichef keinen zusätzlichen Verschuldensspielraum einräumen: Die Maastricht-Kriterien aufweichen? fragt die WIRTSCHAFTSWOCHE. »Auf keinen Fall!« sagt Stoiber.

Die Schuldenfalle, so scheint es, ist zugeschnappt, die Regierung zappelt nur noch. Mit ihrer fragilen Zwölf-Stimmen-Mehrheit im Bundestag und gegen einen SPD-dominierten Bundesrat ist eine Selbstbefreiung kaum mehr möglich.

Sieben Jahre nach der deutschen Einheit mündet die seit Jahren latente Finanzmisere in einer Regierungskrise. Die Kohl-Mannschaft wirkt nervös, die Abgeordneten von Union und FDP, die in der vergangenen Woche im Bundestag knapp die Abwahl ihres Finanzministers verhinderten, taumeln von Haushaltsloch zu Haushaltsloch.

Aufmerksam registriert die Regierungsmannschaft, daß sich im europäischen Ausland das konservative Zeitalter dem Ende neigt. Die Bürger in Frankreich, Italien und Großbritannien haben sich, genervt durch jahrelangen Sparzwang, den Linken anvertraut.

In Frankreich regiert nun der Traditions-Sozialist Lionel Jospin, der die Wirtschaft mit staatlichen Programmen ankurbeln will. In Großbritannien verspricht Labour-Premier Tony Blair eine »neue soziale Gerechtigkeit« und Geld für die in der Thatcher-Ära Gebeutelten.

Die große Gemeinschaftsaktion der Europäer, die neue Einheitswährung, wackelt. Selbst die Franzosen, die nun wieder staatliche Wohltaten verteilen wollen, verabschieden sich mit ihrer neuen Spendierfreudigkeit vom Euro - freilich ohne schon offiziell adieu zu sagen.

In den deutschen Parteien wächst der Zweifel, ob der Weg nach Maastricht überhaupt noch zu schaffen ist. In der vergangenen Woche forderten erneut namhafte Ökonomen die Verschiebung der ehrgeizigen Währungspläne.

Der letzte Versuch der Regierung, mit Hilfe des Bundesbank-Goldes die Krise zu lösen, hat alles nur noch schlimmer gemacht. Noch nie hat eine Bundesregierung gleichsam über Nacht dermaßen an internationalem Renommee verloren.

Verstrickt in Verträge und Versprechungen, gab der Kanzler unmittelbar vor seinem Washington-Trip am Mittwoch vergangener Woche im Parlament eine Vorstellung ohne Wegweisung oder gar Vision. Scheinbar blind für die Umbrüche in Europa, wo nun überall das Thema Sozial- und Beschäftigungspolitik auf der Tagesordnung steht, beharrte Kohl auf seinem Kurs: »Unsere Politik hat sich nicht verändert.«

Mausgraue Gesichter auf den Regierungsbänken. Der grüne Fraktionschef Joschka Fischer schmetterte dem Kanzler fröhlich ein »Avanti Dilettanti« entgegen.

Zwar schaffte es die Koalition, den Ablösungsantrag gegen Waigel abzuwehren. Aber die Schlacht um Haushaltslöcher und Euro - damit das Schicksal der christliberalen Allianz - ist noch keineswegs entschieden.

Nur zu gern würden führende Politiker der Kohl-Koalition inzwischen den Maastricht-Zug bremsen oder ihn zumindest für ein Weilchen stoppen. Doch »wir dürfen darüber nicht reden«, waren sich Kohl und Waigel spontan einig, »von uns darf es nicht kommen«. Denn die Nachbarstaaten, die auf deutschen Druck ein Sparpaket nach dem anderen schultern mußten, würden »sich reingelegt fühlen«. Der politische Schaden wäre immens.

Doch Waigel will versuchen, das schier Aussichtslose noch zu schaffen und das deutsche Staatsdefizit in diesem Jahr bei 3,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu halten. Er hofft: »Wir kommen spitz hin.«

Dafür will der Bonner Finanzchef jetzt auf die Schnelle ein neues Sparpaket schnüren, mit einem Volumen von sechs bis acht Milliarden Mark. Entschieden ist nichts. An den Details wird noch gearbeitet. Gesucht sind »Aktionen, die wir selber machen können«, gab Waigel seinen Fachleuten Order. Also Maßnahmen, die nicht der Zustimmung des SPD-dominierten Bundesrates bedürfen. Politisch heikel sind sie gleichwohl.

So soll noch einmal die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit kräftig kürzen. Ob man denn nicht auf die mehr als zwei Milliarden Mark verzichten könne, mit denen die Arbeitsämter im zweiten Halbjahr 1997 Arbeitsbeschaffungs- und Ausbildungsmaßnahmen bezahlen wollen, erkundigten sich Waigel-Helfer bei den Fachleuten des Arbeitsministeriums.

Die Beamten im Arbeitsministerium waren entsetzt. Zwei Drittel der eingesparten Mittel würden an anderer Stelle sofort wieder fällig - um die bis zu 200 000 zusätzlichen Arbeitslosen zu bezuschussen, die Bonn auf diese Weise produzierte. »Das wird auf keinen Fall laufen«, kün-

digt CDU-Haushälter und Ostlobbyist Manfred Kolbe vorsorglich Widerstand aus der Fraktion an.

Auch andere neue Sparideen aus dem Hause Waigel dürften heftige Proteste auslösen. So könnte etwa den Beamten das Weihnachtsgeld noch in diesem Jahr kräftig gekürzt oder gar gestrichen werden. Die FDP-Führung, der Waigel seine Vorhaben noch recht vage ankündigte, ist skeptisch: Damit werde der Christsoziale in seiner Union wohl nicht durchkommen.

»In den nächsten Tagen«, ermahnte Waigel Unionsfreunde und Koalitionspartner, »müssen die Entscheidungen fallen - wir halten das nicht mehr lange durch.« In dieser Woche schon sollen sich die Partei- und Fraktionschefs deshalb auf die Grundlinien für den Haushalt 1998, den Nachtragshaushalt 1997 und zusätzliche Sparaktionen festlegen.

Ende Mai hatte der Finanzminister rund 90 Prozent seiner Kreditlinie fürs ganze Jahr ausgeschöpft. Die üblichen Reservekassen des trickreichen CSU-Chefs - sogenannte Personalverstärkungsmittel zum Beispiel oder überhöhte Posten für bestimmte Osthilfen - sind längst geleert. Seine Beamten verzögern jede Auszahlung, nutzen jede Mark für ihr »cash management": Sie kassieren Zinsen für Geld, das anderen zusteht.

Damit sind die gigantischen Haushaltslöcher allerdings nicht zu stopfen. Was Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble, mit leichtem Weichzeichner, als »objektiv schwierige Situation« beschreibt, definiert der Haushaltsfachmann der SPD, Karl Diller, klarer: »Waigel ist finanziell am Ende.«

FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms informierte seine Parteifreunde vorige Woche über die neueste Addition der Fehlbeträge: 20 Milliarden Mark in diesem Jahr, 30 Milliarden im nächsten »und noch mehr« - rund 40 Milliarden Mark - für 1999. »Es ist möglich, daß wir das hinkriegen«, so Solms vor der Fraktion, »aber es kann auch sein, daß alles platzt.«

Die Staatsfinanzen seien »noch viel fundamentaler in Unordnung« als an diesen Zahlen ablesbar, warnte der CDU-Haushaltsexperte Aldolf Roth. Die Menschen stöhnten unter einer immer drückender empfundenen Steuerlast, aber in die Staatskassen komme immer weniger, und auf der Ausgabenseite explodierten die Kosten des sozialen Netzes. Ohne grundlegende Reformen, so Roth, gehe es »immer weiter in die falsche Richtung«.

Dabei hatte die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg als Staat ohne große Defizite begonnen. Fritz Schäffer, CSU-Politiker und erster Finanzminister der Republik, hatte ganz andere Probleme: nicht zuwenig Geld, sondern zuviel; kein Minus, sondern ein Plus in der Kasse.

Bis Mitte der fünfziger Jahre häufte der knauserige Jurist mit spitzem Bleistift und eiserner Sparsamkeit den legendären »Juliusturm« auf: 1,6 Milliarden Mark Plus im Jahr 1953, rund 2,8 Milliarden im Jahr 1954 und gar 3,6 Milliarden 1955. Schließlich hatte Schäffer überschüssige liquide Mittel von 7 Milliarden Mark in der Kasse.

Paradox genug: Ausgerechnet diese Überschüsse brachten dem spröden Münchner damals ständig Ärger ein. Er sei ein kleinlicher »Fiskalist«, mäkelten Freunde und Gegner; und selbst Konrad Adenauer sagte über seinen Sparminister: »Ich wetze mich an ihm wie ein Messer an einem Schleifstein.«

Immer wieder malte Schäffer die Gefahr eines Bankrotts an die Wand, während er Million über Million anhäufte, immer wieder drohte er, um sich Gehör zu verschaffen, mit Rücktritt - ehe er schließlich 1957 ins Justizministerium wechselte. Von dort mußte er mit ansehen, wie der »Juliusturm« schnell wieder zertrümmert wurde.

So begann der Weg in die Schuldenrepublik Deutschland. Schäffers Nachfolger Franz Etzel verließ das Finanzministerium 1961 mit einer Gesamtverschuldung von 57 Milliarden Mark. Schon Wirtschaftswundermann Ludwig Erhard mußte als Kanzler 1966 ein Haushaltssicherungsgesetz einbringen - über das seine Koalition und seine Kanzlerschaft schließlich zerbrachen (siehe Seite 26).

Allzugern schöpften die Regierenden in Bonn, vor allem die Sozialdemokraten, die von 1969 an mit Willy Brandt den Regierungschef stellten, in den nächsten Jahren aus dem vollen - und liehen sich für ihre stetig wachsenden Haushalte das Geld, das sie nicht besaßen. Der wirtschaftstheoretische Zeitgeist sorgte für Rückenwind: »Deficit spending« war schick in den sechziger und siebziger Jahren. Die Lehre, die dahinter stand, hatte ein Brite in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts entwickelt: John Maynard Keynes (1883 bis 1946).

Der Ökonom und Diplomat zog damit seine Lehren aus der Weltwirtschaftskrise, aus den verheerenden Folgen der Massenarbeitslosigkeit. Der Markt allein, so urteilte Keynes, könne es nicht richten; der Staat müsse korrigierend eingreifen.

Gerade wenn die Wirtschaft in der Rezession steckt, sei die Regierung gefordert, mit zusätzlichen Ausgaben die Konjunktur anzukurbeln. Schulden, so der Tenor des Keynesianismus, sind nicht per se schlecht.

Die Politiker in Europa, aber auch in den USA hörten diese Doktrin nur allzugern. »Wir sind jetzt alle Keynesianer«, urteilte US-Präsident Richard Nixon Anfang der Siebziger.

Doch die Mächtigen vergaßen dabei die zweite Hälfte der Keynes-Lehre: In guten Zeiten nämlich, wenn die Wirtschaft wieder boomt, sollte der Staat seine Ausgaben zurückfahren, ja sogar Überschuß erwirtschaften, um die aufgenommenen Schulden abzutragen. Die Fiskalpolitiker sollten sich »antizyklisch« verhalten.

Daraus wurde nichts: Den Regierenden fiel es, mit Blick auf die nächsten Wahlen, stets schwer, bei ihrer Klientel einmal gewährte Leistungen wieder einzukassieren.

Das mußte schon Karl Schiller erleben, der von 1966 an wie kein anderer in Deutschland die Thesen von Keynes verbreitete. Der sozialdemokratische Wirtschaftsminister schuf zwar das immer noch gültige Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und verankerte dort die Regel von der antizyklischen Fiskalpolitik.

Doch als Schiller im Frühjahr 1972, inzwischen zum Superminister für Wirtschaft und Finanzen aufgestiegen, gegensteuern wollte und Ausgabenkürzungen von 2,5 Milliarden Mark anmahnte, ließ ihn das Kabinett der sozialliberalen Koalition im Stich. Resigniert trat Schiller am 7. Juli 1972 zurück. Zuvor hatte er auf dem SPD-Steuer-Parteitag in Bonn noch einmal getobt: »Genossen, laßt die Tassen im Schrank.«

Die Regierungsparteien waren nicht bereit, die Ansprüche der Wähler zurückzuschrauben. Die Folgen der Ausgabenfreude zeigten sich erstmals nach der Ölkrise 1973/74, als die Scheichs die Energiepreise (und damit die Produktionskosten in den Industrieländern) radikal verteuerten: Die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an, die Steuern blieben hinter den Erwartungen zurück, die Schulden explodierten.

Erst erreichte die Staatsverschuldung 168 Milliarden Mark (1973) , dann 192 Milliarden (1974), schließlich 256 Milliarden Mark (1975) - SPD-Kanzler Helmut Schmidt und sein Finanzminister Hans Apel kamen Mitte der siebziger Jahre schließlich mit dem Aufstellen neuer Kalkulationen kaum nach. »Ich glaube«, so urteilte damals FDP-Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs, »wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.« Der Koalitionsbruch deutete sich an.

Die sozial-liberale Regierung, angetreten, um alles zu verbessern - mehr Gesundheit, bessere Ausbildung, weniger Armut, höheres Kindergeld, mehr Renten - mußte erkennen, daß sie in der Schuldenfalle steckte. Im schlimmen Krisenjahr 1975 fehlten Bund, Ländern und Gemeinden insgesamt 60 Milliarden Mark.

Doch große Teile der SPD mochten sich der Sparsamkeit nicht verschreiben. Zu stark war ihr Glaube an staatliche Konjunkturprogramme, zu mächtig der Druck der Gewerkschaften. Die Funktionäre wünschten sich einen Staat, der anschiebt, eingreift, selbst macht. Insgesamt beschlossen die SPD-geführten Regierungen Brandt und Schmidt (1969 bis 1982) neun große Konjunkturprogramme mit einem Finanzvolumen von 59,5 Milliarden Mark.

Die Arbeitslosigkeit wurde dadurch nicht nennenswert verringert, die Staatsschuld aber wuchs und wuchs. Letztlich stürzte die sozial-liberale Koalition 1982, wie schon die christliberale 1966, über die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Am 10. September 1982 griff die sozial-liberale Koalition zum letzten verbliebenen Mittel und brachte im Bundestag ein Haushaltssicherungsgesetz ein, das Sozialleistungen kürzte. Eine Woche später war sie am Ende.

Die neue, konservativ-liberale Regierung versprach eine Korrektur der Finanzpolitik. Unter Kanzler Helmut Kohl galten die Theorien von Keynes nicht mehr.

Statt einer Nachfrage- war nun eine deutsche Variante der klassischen Angebotspolitik angesagt: weniger Staat, statt dessen mehr Freiraum für die private Wirtschaft.

Es galten nun eher die ökonomischen Lehren des Monetarismus: Milton Friedman, Nobelpreisträger aus Chicago, und seine Mitstreiter hielten nichts von Konjunkturprogrammen, sie propagierten vielmehr Liberalisierung, Deregulierung und weniger Wohlfahrtsstaat - Losungen, die vor allem von Ronald Reagan und Maggie Thatcher willig aufgenommen wurden. Und dieser ökonomischen Zeitwende folgten in abgeschwächter Form auch die neuen Machthaber in Bonn.

Staatliche Leistungen wurden zurückgeschnitten, Schüler-Bafög gestrichen, Wohngeld und Mutterschaftsgeld gekürzt. Die ersten Erfolge der Kohl-Regierung stellten sich ein: Christdemokraten und Liberale schafften es, bis 1989 die Staatsquote, den Anteil aller öffentlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt, von 50,1 auf 45,8 Prozent zu senken. Auch die Nettoneuverschuldung des Bundes drückten sie zeitweise von 37,2 Milliarden Mark (1982) auf 22,9 Milliarden Mark (1986).

Finanzminister Gerhard Stoltenberg sah die Ordnung der Staatsfinanzen als »eine zutiefst sittliche Frage« an, träumte gar vom Ende jeglicher Kreditaufnahme ("wie zu Fritz Schäffers Zeiten"). Die Medien lobten, etwa die ZEIT, seine »gußeiserne Souveränität« - und in Popularitätsumfragen rangierte Stoltenberg ganz weit oben.

Mit seiner Sparpolitik drängte er sogar die Inflation auf eine »negative Zuwachsrate« von minus 0,2 Prozent zurück - erstmals seit 1953. Mit einer dreistufigen Steuerreform wollte Stoltenberg sein Meisterstück abliefern, senkte die Abgaben und führte einen linear-progressiven Tarif ein.

Doch schon vor der deutschen Einheit geriet die Finanzpolitik aus dem Tritt. Auf die Kalkulationen der Koalition war spätestens 1988 kein Verlaß mehr, auch wenn der Kanzler unverdrossen verkündete: »Das Gütesiegel bleibt unsere Haushaltssolidität.« Denn kaum hatte das Jahr 1988 angefangen, fehlten plötzlich zehn Milliarden Mark im Haushalt: weil der Dollar gesunken war; weil die Subventionen zu üppig angesetzt waren; und weil die Regierung sich bei den Steuereinnahmen schlicht verrechnet hatte.

So schlug sich Stoltenberg mit immer neuen Finanzlöchern herum, auch damals schon wurde im Frühsommer ein Nachtragshaushalt fällig. FDP-Wirtschaftssprecher Graf Lambsdorff wetterte: »Wir haben uns benommen wie jemand, der in einem fürstlichen Restaurant ein opulentes Mal zu sich nimmt und nachher erstaunt ist, wenn er die Rechnung sieht.«

Sieben Jahre CDU/FDP-Regierung hatten ausgereicht, um die Schulden des Bundes um mehr als die Hälfte zu erhöhen. Der so erfolgreich gestartete Stoltenberg mußte im April 1989, sieben Monate vor dem Mauerfall, zurücktreten. Vom britischen Magazin EUROMONEY wurde er zum »schlechtesten Finanzminister« des Jahres gekürt. Der Jurist Theo Waigel begann seinen Dienst als Kassenwart.

Exakt 497 Milliarden Mark Schulden erbte der CSU-Mann, mitsamt den Defiziten von Ländern und Gemeinden waren es sogar 929 Milliarden Mark. Doch die vergleichsweise glücklichen Tage waren gezählt.

Das Ende des real existierenden Sozialismus wurde für Waigel zum real existierenden Debakel. Es war eine Mischung aus falschen Entscheidungen, falschen Hoffnungen und falschen Rechnungen, die das Milliardenminus in neue Dimensionen trieb.

Der Umtauschkurs für die DDR-Bürger war mit 1:1 beziehungsweise 1:2 für höhere Sparguthaben zu großzügig angesetzt. Die Bundesrepublik mußte nun auch die Staatsschulden der DDR übernehmen, den volkseigenen Betrieben raubte die gigantische Aufwertung die Absatzmärkte im Osten.

Ein Milliardentransfer an Subventionen begann, der auch heute noch mit 130 Milliarden Mark jährlich zu Buche schlägt. Weil der Westen zum Verzicht nicht bereit war, wurde der Aufbau Ost weitgehend auf Pump finanziert.

Bonn glaubte, daß »der ganze Salat« (Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder) der DDR-Wirtschaft womöglich 600 Milliarden Mark wert sei - doch die VEB und LPG waren völlig marode.

Waigel und Kohl hofften noch immer, daß wie von selbst zusammenwachse, was plötzlich zusammengehörte. Steuern, so versicherten sie, würden nicht erhöht. Die Milliardentransfers wurden mit immer neuem Leihgeld bestritten, allein 1990 wurden drei Nachtragshaushalte fällig.

Helmut Kohl, der vor der Wahl versprochen hatte: »Wenn ich sage, wir machen keine Steuererhöhung, dann machen wir keine«, mußte schließlich 1991 doch die Steuern raufsetzen - für Benzin, Tabak und Versicherungen - und den Solidaritätszuschlag einführen. Selbst BILD kanzelte den »Steuerlügner Kohl« (SPD), mit einem Foto quer über die volle Breite der Titelseite gelegt, als »Umfaller« ab.

Doch die Annahmen waren noch immer zu positiv. Die zusätzlichen Steuern, die Waigel eintrieb, reichten nicht, die Löcher zu stopfen. Binnen kurzem hatte sich der Oberkassierer zum Oberschuldner entwickelt - allein 1990 nahm der Bund 46,7 Milliarden Mark Kredit auf und 1991 gar 52 Milliarden.

Irritiert nahm die Europäische Gemeinschaft »das Ausmaß und die Plötzlichkeit des Umschwungs« im Haushalt der Bundesrepublik zur Kenntnis. Ende 1989 entsprach das gesamte öffentliche Defizit noch knapp 42 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Ende 1996 dagegen schon über 60 Prozent.

Waigel nahm es bei der »Kostenstelle Vaterland« (WELT) nicht sonderlich genau: »Wer täglich nur nach den Kosten fragt«, wehrte er 1990 seine Kritiker ab, »stellt die nationale Einheit Deutschlands in Frage.«

Wer dennoch fragte, der mußte sich durch eine ganz neue Haushaltsarithmetik kämpfen, durch Schatten- und Nebenetats, die erst heute, wo sie unter die Schuldenkriterien der Europäischen Währungsunion fallen, vielen bewußt werden.

Noch bis zum Mauerfall flossen die Kredite vorwiegend in den offiziellen Bundeshaushalt. Seither ist angesichts etlicher Sondertöpfe erst auf den zweiten Blick erkennbar, wie ungeniert die Bundesregierung auf Pump lebt:

* So verbergen sich im Erblastentilgungsfonds, den Waigel mit dem Gewinn aus den neubewerteten Goldreserven der Bundesbank reduzieren möchte, die Staatsschulden der DDR (28 Milliarden), die Verluste der Treuhandanstalt (205 Milliarden), die Kosten der Währungsumstellung (30 Milliarden) oder die Verbindlichkeiten der DDR-Wohnungsbauunternehmen (29 Milliarden) - Ende 1996 alles in allem 332 Milliarden Mark.

*So versteckte der Finanzminister 84 Milliarden Mark im Fonds »Deutsche Einheit«; dahinter verbergen sich Kredite, mit denen bis 1994 Zuweisungen für die ostdeutschen Länder finanziert wurden.

*So schlummern im ERP-Sondervermögen größtenteils die Hilfen für ostdeutsche Existenzgründer und Unternehmer - nochmals 34 Milliarden Mark.

Wieviel von den 1,2 Billionen Mark, die Bund, Länder und Gemeinden seit 1989 zusätzlich aufgetürmt haben, dabei indirekt oder direkt dem Mauerfall zuzurechnen sind, können selbst Experten nicht exakt beziffern. Die Bundesbank schätzt: mehr als die Hälfte. Das Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft glaubt: etwa ein Drittel.

Fest steht: Der Westen des Landes hat versucht, die neue Aufgabe zusätzlich zu schultern. Obwohl die Republik unter den Lasten der Einheit ächzt, stiegen die Zuwendungen für die Klientel im Westen weiter an. Niemand wollte verzichten - die Regierung schon gar nicht. Selbst die Einführung der Pflegeversicherung, die erneut die Lohnnebenkosten erhöhte, wurde noch durchgesetzt, als das Debakel längst in Sicht war.

Auch bei den direkten Subventionen gab es kein wirkliches Zurück: Die Kohlekumpel wurden bedient, die Landwirte sowieso, auch die Industriesubventionen flossen ungemindert weiter.

Deutschland, so bemängelt EU-Wettbewerbshüter Karel van Miert, ist mit Staatszuwendungen von 32 Milliarden Mark jährlich allein an die Industrie inzwischen »Europameister« - noch vor Italien (23 Milliarden Mark) und Frankreich (13 Milliarden Mark). Dabei seien die Bonner Geldgeber, so kritisiert der Bundesrechnungshof in seinem jüngsten Bericht, oft »nicht in der Lage, die Zielerreichung, Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit von Subventionen einzuschätzen«.

Die muntere Ausgabenpolitik der Regierenden schlägt bis nach unten durch - in die Länder, Landkreise und Gemeinden. Eine Kultur der Sparsamkeit und der ökonomischen Effizienz hatte in Deutschland bisher keine Chance, am wenigsten in sozialdemokratischen Spitzenschuldenländern wie Nordrhein-Westfalen, Bremen oder dem Saarland. Selbst Hamburg, die angeblich wohlhabendste Stadt Europas, ist mit über 18 000 Mark pro Einwohner verschuldet. In den Amtsstuben herrscht - allen Sparrunden zum Trotz - eine zum Teil unbekümmerte Ausgabenfreude.

Rund 60 bis 70 Milliarden Mark, so schätzt der Bund der Steuerzahler, werden durch die vielen kleinen und großen Verfehlungen jährlich verschleudert. In seinem neuen »Schwarzbuch«, das im Oktober erscheint, rügt der Steuerzahlerbund erneut unzählige unfaßbare Fälle von Steuerverschwendung.

Im Keller des Nürnberger Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sollen 500 Telefone, 78 Arbeitsplatzcomputer, 250 Terminals und 84 Laserdrucker zum Teil seit Jahren unbenutzt und originalverpackt verstauben - Gesamtwert: 1,4 Millionen Mark.

Im Saarland soll das Büro des Umweltministers für rund 34 000 Mark renoviert worden sein, obwohl der Umzug in ein anderes Gebäude längst feststand und das neue Büro acht Monate später ebenfalls renoviert wurde. Kosten: 10 000 Mark.

Doch es sind nicht allein die Ausgaben des Staates, die für das Milliardendefizit sorgen. Auch die Einnahmen lassen sich in den neunziger Jahren immer schwerer kalkulieren. Denn Steuervermeidung ist zum Volkssport geworden.

Waigel macht dabei ein Phänomen immer stärker zu schaffen, um das sich ein Fritz Schäffer noch nicht kümmern mußte: die Globalisierung. »Das Elend der deutschen Finanzpolitik«, urteilte bereits 1993 Konrad Littmann, langjähriger Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bonner Finanzministerium, erkläre sich »aus der anhaltenden Unfähigkeit der Politik und der Bürokratie, notwendige Antworten auf eine sich ändernde Welt zu geben«.

In Zeiten des freien Waren- und Kapitalverkehrs lassen die globalen Konzerne ihre Steuern immer mehr dort anfallen, wo die Sätze niedrig sind: in Irland, in Belgien und in den Niederlanden oder in Steueroasen wie auf den Kanalinseln oder in Gibraltar. Mittels firmeninterner Verrechnungspreise und anderer Tricks können die Steuerspar-Trupps der Multis Gewinne an fast jeden beliebigen Ort der Erde transferieren.

»Die Ära, in der der Staat den Unternehmen Regeln vorgeben konnte, ist vorbei«, glaubt auch der amerikanische Ökonom Lester Thurow. Seine Prognose: »Es wird sich als zunehmend schwierig erweisen, unmittelbar für den Bürger bestimmte Konsumleistungen über die Besteuerung der Unternehmen zu finanzieren.«

Notfalls siedeln selbst urdeutsche Konzerne ihre Zentrale einfach im Ausland an. So residiert die Holding des Handelsriesen Metro (Kaufhof, Horten, Vobis) ebenso in der Schweiz wie die des niederrheinischen Getränkeherstellers Underberg.

Und das Kapital des Pharmakonzerns Boehringer Mannheim, vor 138 Jahren am Rhein gegründet, wurde zuletzt durch eine Firma auf den Bermudas gesteuert, bis vor zwei Wochen der Schweizer Konzern Roche einstieg. Folge: Der deutsche Finanzminister bekommt vom höchsten Kaufpreis, der je für ein hiesiges Unternehmen bezahlt wurde - von 19 Milliarden Mark -, keinen Pfennig. »Waigel«, sagt der bisherige Boehringer-Chef Curt Engelhorn, »wird sich ärgern.«

Die Gewichte haben sich verschoben: Noch 1960 zahlten die Unternehmen doppelt soviel in die Staatskasse ein wie das gemeine Steuervolk, ohne daß das Wirtschaftswunder Schaden nahm. Heute tragen die Unternehmen nur noch mit rund acht Prozent zum gesamten Steueraufkommen der Republik bei, während der Anteil der Lohnsteuer etwa viermal so hoch liegt.

Egal, ob Siemens, Daimler, MAN oder BMW - fast alle Konzerne bemühen sich, ihre Steuerlast im Inland zu senken und beschäftigen ganze Heerscharen von Finanzexperten, die die Last der Abgaben weltweit optimieren. Auch deshalb entwickelten sich Waigels Einnahmen, wie die Bundesbank nüchtern anmerkt, »in den letzten beiden Jahren deutlich schwächer, als nach der gesamtwirtschaftlichen Datenlage anzunehmen war«.

Mit einfachen Sparmaßnahmen - ein paar Kürzungen hier, eine Einschränkung da - ist dem Bonner Etat nicht mehr zu helfen. Allein die Zinsen für bereits bestehende Kredite treiben die Schulden immer weiter nach oben. Schon 1996 gingen rund 25 Prozent aller Steuereinnahmen des Bundes für Zinsen drauf, im Jahr 2000, so prognostiziert der Bundesrechnungshof, muß die Regierung erstmals mehr als 100 Milliarden Mark im Jahr für Zinsen zahlen.

Mit vielen kleinen und großen Einsparungen will die Regierung doch noch der Schuldenfalle entkommen. Auch Immobilien und Firmen in Staatsbesitz sollen nun verhökert werden wie bei einem Totalausverkauf wegen Geschäftsaufgabe.

Zehn bis allenfalls zwölf Milliarden könnten dadurch noch in diesem Jahr eingenommen werden, ein etwa gleicher Batzen im nächsten. Doch auch das, rechnete Christdemokrat Armin Laschet nach, »wird nicht reichen«.

Alle Ressorts sollen noch einmal ausgekämmt, alle Zahlungen - die nicht rechtlich zwingend sind - gekürzt werden: Von den Sprachkursen der Goethe-Institute in aller Welt bis hin zum Zuschuß für Inter Nationes in Bonn. Jede Ausgabe über eine Million muß künftig über Waigels Schreibtisch.

Keine Idee ist zu abwegig, alles wird versucht. Nach den Gold- und Devisenreserven der Bundesbank fiel der Blick der Bonner Schuldenmanager auf die nationale Rohölreserve für Krisenzeiten: Für 1,5 Milliarden Mark wollen sie nun Öl verkaufen. »Leider haben wir als strategische Reserve keine Butterberge mehr«, spöttelt FDP- Altvater Hans-Dietrich Genscher.

Tiefdeprimiert verfolgt das Fußvolk der Koalition die plan- und glücklosen Aktionen ihrer VIPs. Der Bundestagsneuling Peter Altmeier (CDU), bei der Führung gelegentlich durch Aufsässigkeit aufgefallen, monierte in der Fraktionssitzung vorige Woche: »Das Elend« habe man doch bereits vor Monaten erkennen müssen.

Nötig wären ohnehin grundlegende Reformen. Vor allem die jungen CDU-Chefs in den Ländern wünschen sich einen »schlanken Staat«, eine »Effizienzrevolution in den Amtsstuben«, wie sie von Experten seit Jahren gefordert wird.

Nur so läßt sich die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben auf Dauer schließen. Nur so kann der Staat wieder mehr Freiraum für Investitionen schaffen - und für eine spürbare Entlastung der Steuerzahler sorgen.

Selbst die Grünen des Joschka Fischer wollen das Problem der Staatsverschuldung grundsätzlich angehen. Sie wissen: Eine Ökosteuer, zusätzlich zur bisherigen Staatsfinanzierung, hat keine Chance. Der Staat muß vorher schlanker werden.

Deutschland ist in Europa das Land mit dem geringsten Anteil an Selbständigen und dem höchsten Prozentsatz von Staatsdienern. Auf 1000 Einwohner kommen hierzulande 40 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst. In Italien sind es nur 27, in Irland 19.

Gemessen am Standard vergleichbarer europäischer Länder, ermittelte das Institut der deutschen Wirtschaft, leistet sich die Bundesrepublik einen Überhang von mehr als einer halben Million öffentlich Beschäftigter.

Den Unternehmen hat die aufgeblähte Bürokratie nicht weniger, sondern mehr Arbeit gebracht. Mit ihren langwierigen Genehmigungsverfahren und den komplizierten Steuergesetzen kostet sie die Wirtschaft jährlich 58 Milliarden Mark, errechnete das Bonner Institut für Mittelstandsforschung.

Um das Mehrwertsteuergesetz befolgen zu können, müssen sich die Firmen heute mit rund 580 Erlassen, Verfügungen und Schreiben vertraut machen. In der Sozialversicherung sind bis zu 80 Meldepflichten zu beachten.

Experten aus der Wirtschaft fordern eine durchgreifende Rationalisierung des Staatsapparates. Der verkrustete und unwirtschaftlich arbeitende Öffentliche Dienst müsse sich einer ähnlichen Roßkur unterziehen, wie sie die meisten deutschen Großkonzerne hinter sich haben.

Die Unternehmensberatung Arthur D. Little hat den deutschen Staat wie eine Firma untersucht und dabei ein Sparpotential von 260 Milliarden Mark errechnet. Innerhalb von vier Jahren könnte es ausgeschöpft werden.

Nach den Erfahrungen, die die Experten durch ihre langjährige Beratungspraxis für den Öffentlichen Dienst gewannen, werden sich in diesem Zeitraum 25 bis 40 Prozent der heutigen Aufgaben erledigen - durch den Abbau dadurch überflüssig gewordener Stellen ließen sich 30 Milliarden Mark sparen.

Der Umzug nach Berlin böte eine einmalige Chance, die aufgeblähte Bonner Ministerialbürokratie zu verkleinern. Allenfalls 40 Prozent der dort verrichteten Arbeit sind noch politischer Natur, die meisten Ministerialen beschäftigen sich inzwischen mit Verwaltungstätigkeiten, die ebensogut von nachgeordneten Behörden erledigt werden könnten.

Für überbesetzt halten die Unternehmensberater vor allem die sogenannten Zentraldienste in den Ministerien und Behörden. Durchschnittlich 35 Prozent der Beschäftigten kümmern sich dort um Dinge wie Personal, Organisation und Haushalt. Etwa zwei Millionen Staatsdiener arbeiten nicht für die Bürger, sondern verwalten die Verwaltung.

Eine Quelle der Verschwendung von Steuergeldern ist die mangelnde Transparenz bei den öffentlichen Ausgaben. »Hundert Jahre Betriebswirtschaftslehre sind scheinbar spurlos an der öffentlichen Verwaltung vorübergegangen«, klagt Michael Endres, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank.

Das größte Einsparpotential mit weit über hundert Milliarden Mark orteten die Unternehmensberater von Arthur D. Little bei den antiquierten Arbeitsabläufen in den Amtsstuben. »Einfachste Grundsätze unternehmerischer Organisation sind bisher nicht beachtet worden«, kritisieren sie.

Auch ein Abbau der staatlichen Subventionen würde dem Staat Milliarden sparen. Nach dem offiziellen Bericht der Bundesregierung summierten sich die Finanzspritzen 1995 auf 116 Milliarden Mark.

Der Betrag ist gewaltig, doch bei der Rechnung sind viele Posten wie Wohngeld, Krankenhauszuschüsse oder die Hilfen für die Bahn gar nicht berücksichtigt.

Das wahre Ausmaß ermittelten jüngst Forscher vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. Sie kamen bei der Auswertung der Haushaltsbücher auf nicht weniger als 303 Milliarden Mark an »Vergünstigungen, die der Staat ausgewählten Produktionszweigen gewährt«.

Die Masse der Steuerzahler wird geschröpft, damit eine Minderheit in den Genuß staatlicher Wohltaten kommt. Dabei weiß keiner so recht, ob der Geldsegen wenigstens den Begünstigten nutzt. »Meist werden keine überprüfbaren Ziele sowie Maßstäbe vorgegeben, an denen der Erfolg einer Maßnahme gemessen werden könnte«, kritisiert der Bundesrechnungshof.

Ökonomen sind sicher, daß die Hilfen letztlich ihr Ziel verfehlen. Marode Branchen wie der Steinkohlebergbau, mit 120 000 Mark pro Kumpel und Jahr einer der größten Geldfresser, werden über Jahrzehnte künstlich am Leben gehalten. Der Strukturwandel in den betroffenen Regionen verzögert sich. Für zukunftsweisende Investitionen fehlt das Geld.

Doch zu einer grundlegenden Staatsreform fehlt der Regierung jede Vorarbeit - und oft auch die Macht, weil sie durch ein kraftvolles System von Gegenmächten eingeschränkt wird: durch den Bundesrat, das Bundesverfassungsgericht oder das Bundeswahlgesetz, das fast zwangsläufig zu Koalitionsregierungen führt. Und auch der politische Wille fehlt: Die Spitzenpolitiker von CSU, CDU und FDP glauben, daß sie den Wahltag auch so erreichen werden.

Die SPD soll dabei helfen. Schäuble präsentierte der Öffentlichkeit am Montag die verblüffende Idee, schon 1998 wesentliche Teile der Steuerreform vorzuziehen. Ganz schnell soll es nun neue Gespräche mit den Sozialdemokraten geben. Schäuble gibt sich offen »für alles, was gemeinsam geht«.

Er will die Sozis dafür gewinnen, belastende Teile des Steuerpakets - etwa das Streichen von Vergünstigungen - sofort, die entlastenden Steuersenkungen aber erst mit Verzögerung in Kraft zu setzen. Das fülle zunächst den SPD-Ländern ebenso die Kassen wie dem nahezu bankrotten Bundesfinanzminister.

Der Clou des Plans: Die Liberalen könnten Steuererhöhungen zustimmen, ohne das Gesicht zu verlieren. Denn das Paket würde selbstverständlich die Aufschrift »Steuerreform« tragen.

Pech nur für Schäuble, daß die Freidemokraten sogleich abwinken. Solms kategorisch: »Mit uns läuft das nicht.«

Einen großen Brocken, mit dem eigentlich die Steuerentlastungen einer großen Reform finanziert werden sollen, hat ohnehin schon Waigel im Auge: den sogenannten Verlustrücktrag.

Der Finanzminister klagt mit Recht darüber, daß die Unternehmen und Großverdiener trotz prächtiger Profite kaum Steuern zahlen. Einer der Gründe dafür ist: Verluste eines Jahres können nachträglich mit den Gewinnen der beiden Vorjahre verrechnet werden.

Nun will Waigel den Verlustrücktrag schleunigst kappen, möglichst sogar noch in diesem Jahr. Das würde 1998 rund 500 Millionen Mark bringen. Doch er mußte sich belehren lassen, daß der gebotene Vertrauensschutz ihn an raschem Handeln hindert.

Unternehmen, die 1997 einen maroden Konkurrenten vor allem deshalb für ein paar Mark übernommen haben, weil dessen Verluste mit eigenen, sonst steuerpflichtigen Gewinnen aus 1996 und 1995 verrechnet werden, müssen nicht um ihre Steuerprofite bangen. Das Fallbeil saust erst 1998 nieder, Geld gibt es dann für den Fiskus 1999.

Zum Durchwursteln gehört auch, daß die Liegenschaftsabteilung schon seit Monaten jedes Grundstück, jedes nicht benötigte Haus des Bundes verkauft, für das sich ein Käufer findet. Nach den undurchsichtigen Maastricht-Spielregeln darf Waigel Erträge aus dem Verkauf von Anteilen an Wohnungsbaugesellschaften nicht auf das Defizitkriterium anrechnen. Der Verkaufserlös für einzelne Häuser dagegen hilft bei der Neuverschuldung.

Eine bombastische Aufstellung aus freidemokratischer Feder, was der Bund alles verkaufen könne, um damit den Haushalt zu sanieren, schrumpfte bei etwas genauerer Prüfung durch das Finanzressort schnell auf ein bescheidenes Niveau. Eingeleitet und damit für die nächste Zukunft relevant sind, neben der Zehn-Milliarden-Aktion mit Telekom-Anteilen, gerade mal neun Privatisierungsvorhaben.

Neben einer Restzahlung aus dem Lufthansa-Verkauf und einem hübschen Batzen, den Bonn für 75 Prozent der Postbank-Anteile erwartet, hat Waigel dabei freilich auch Ladenhüter im Angebot. So wird ihm der Käufer etwa der Saarbergwerke allenfalls einen symbolischen Preis zahlen.

Wie groß die Kluft zwischen den Haushaltsannahmen über die Privatisierungserlöse und der Realität liegen kann, zeigt das Beispiel zweier Wohnungsgesellschaften. Für 38 700 Wohnungen der Deutschbau und weiterer knapp 10 000 der Frankfurter Siedlungsgesellschaft kalkulierte Bonn schon 1996 vier Milliarden Mark an Einnahmen ein. Herein kam gar nichts.

In diesem Jahr, immerhin, fließen für den 58,8-Prozent-Anteil des Bundes an der Deutschbau 1,2 Milliarden in die Waigel-Kasse. Aber das ist nicht einmal halb soviel wie erhofft. Für 52 000 Mark pro Wohnung - in rechnerischem Durchschnitt - wurde der Immobilienbesitz verschleudert.

Beamte des Finanzministeriums glauben inzwischen sogar, daß der Chef das Ausmaß seines Haushaltselends noch gar nicht kennt, weil er vor schlechten Nachrichten abgeschottet wird.

Indiz: Kritische Vermerke von Referatsleitern bleiben auf der Abteilungsleiterebene hängen. Sie kommen mit der Notiz zurück, dem Minister sei mündlich vorgetragen worden.

Der Ausverkauf von Telekom, Postbank oder Lufthansa hilft den Deutschen nicht in ihrem Ringen, unter dem Kreditlimit des Maastricht-Vertrages zu bleiben. Da der Staat dabei etwa Aktien gegen Bargeld tauscht, wird er in der Logik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen dadurch nicht reicher. Die Erlöse gelten folglich nicht als Einnahmen. Gibt der Finanzminister sie aus, um seine Beamten zu entlohnen oder Straßen zu asphaltieren, muß er sich das Geld auf dem Kreditkonto anrechnen lassen.

Sparen oder Steuern erhöhen, anders kann Bonn die Euro-Hürden nicht nehmen. Wenn nichts geschieht, so eine FDP-Kalkulation, summieren sich die neuen Schulden im laufenden Jahr auf 3,2 bis 3,5 Milliarden Mark.

Für die Liberalen kein großes Problem: Wir haben uns auf eine buchhalterisch exakte Zielerfüllung von 3,0 »nie festgelegt«, sagt das FDP-Führungstrio Wolfgang Gerhardt, Guido Westerwelle und Hermann Otto Solms. Das sei »allein Waigels Problem«.

Für den CSU-Finanzminister ist der Weg »eines erkennbar weichen Euro«, so sein Parteifreund Michael Glos, versperrt: »Kommen wir selber auf 3,2 oder 3,3, liegen die Franzosen dann bei 3,8 und deren Spezis, die Italiener, bei 4,1. Wir kommen zu keiner ordentlichen Grenzziehung mehr.« Für Waigel gibt es keine Alternative: »Wir müssen die Kriterien punktgenau erfüllen.«

Noch würgt Kanzler Kohl jede Euro-Diskussion in der Koalition ab. Dabei denkt auch er in engstem Kreise über Alternativtermine nach. »Eine geordnete Verschiebung des Euro-Starts im Zeitrahmen bis 2002«, so ein Kabinettsmitglied, wurde intern für »machbar« gehalten - wenn auch, für Kohl, nicht »wünschbar«.

Eisern hält der Kanzler am Verdikt fest: Öffentlich darf es kein Zaudern geben. Kritische Fragensteller spüren die ganze Wucht seines Unmuts.

Dennoch wuchert der Zweifel in beiden Fraktionen, ob die Opfer für die Währungsunion gerechtfertigt sind. »Der Euro-Skeptizismus hat sich eindeutig verstärkt«, analysiert der sächsische CDU-Parlamentarier Kolbe die Gemütslage der Union.

Waigel verfolgt die Trendumkehr verbittert: Kaum ein anderer in Bonn stand der Euro-Idee einst so skeptisch gegenüber. Er wollte anfangs nicht einmal ein verbindliches Datum für den Euro-Start akzeptieren. Aus Loyalität zu seinem Kanzler muß er nun täglich ein Maastricht-Hurra rufen. Und mit jedem Tag wird er dabei unglaubwürdiger, vor allem in den eigenen Reihen.

Manchem in Bayern ist er schon eine Bürde. Waigel sei »der teuerste Bundesgenosse« des Kanzlers, lästert ein einflußreicher CSU-Bezirksvorsitzender. Unter Franz Josef Strauß sei das anders gewesen, »der war Kohls härtester Kritiker«.

»Eine merkwürdige, ja gespenstische Stimmung« habe geherrscht, berichtete ein Teilnehmer, als Waigel vorigen Montag in München vor dem CSU-Vorstand seinen Streit mit der Bundesbank zu rechtfertigen versuchte und unverändert strenge Euro-Kriterien anmahnte: »Wir schaffen beides.«

In Ton und Wortwahl vorsichtig, dafür in der Substanz um so kritischer, nahm die weiß-blaue Führungsriege ihren glücklosen Vorsitzenden an. Waigel solle gefälligst einmal »die Stimmung in den Bierzelten« aufnehmen, klagte Kultusminister Hans Zehetmair. Die Währungsunion müsse notfalls verschoben werden, verlangte Stoiber, wohl wissend, daß er damit von Waigel die Kapitulation verlangte.

Allerdings: Auch Stoiber weiß, an Kohls Männerfreund Waigel hängt die Statik der Bonner Koalition. Ein Rücktritt des Finanzministers wäre wohl wirklich »das Ende der Ära Kohl« (Fischer) und damit einer bürgerlichen Regentschaft am Rhein.

Auf eine Große Koalition, das hat Oskar Lafontaine klargemacht, läßt sich die SPD in diesem Stadium nicht mehr ein. Und vorgezogene Neuwahlen wären bei dem gegenwärtigen demoskopischen Hoch von Rot-Grün für Kohl ein Husarenritt. »Dann würden wir wohl wie die Konservativen in England und Frankreich abgewählt«, glaubt Waigel-Freund Glos.

Bleibt der Koalition die Hoffnung auf Zeitgewinn, auf das Wunder einer wirtschaftlichen Wende. Doch zunächst muß sie sich in die Sommerpause retten. »Nach dem Urlaub auf Mallorca«, sucht Euro-Fighter Kohl seine aufgescheuchten Koalitionäre zu beruhigen, »kommen die Leute immer mit besserer Laune heim.«

[Grafiktext]

Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden seit Gründung der BRD

Regierung der EU-Länder

Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt an parteinahe Stiftungen

Subventionen 1970 und 1995

Beamte und Richter: Bezüge und Versorgung

Steueraufkommen nach den wichtigsten Steuerarten

Sozialausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden

[GrafiktextEnde]

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Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden seit Gründung der BRD

Regierung der EU-Länder

Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt an parteinahe Stiftungen

Subventionen 1970 und 1995

Beamte und Richter: Bezüge und Versorgung

Steueraufkommen nach den wichtigsten Steuerarten

Sozialausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden

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* Am Mittwoch vergangener Woche während der Finanzdebatte imBundestag.* Am Freitag vergangener Woche beim Besuch des britischenPremierministers in Bonn.

jungbl.
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