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NACHRUF AVERELL HARRIMAN †

aus DER SPIEGEL 32/1986

Der sprichwörtliche goldene Löffel, mit dem dieser Amerikaner 1891 zur Welt kam, war 100 Millionen Dollar wert. Die hatte sein Vater mit Eisenbahnen verdient, weshalb US-Präsident Franklin Roosevelt ihn den »Übeltätern des großen Reichtums« zurechnete.

Seinem Stande gemäß schätze der Erbe Averell Harriman Polo und Bridge, sammelte impressionistische Gemälde und Ehefrauen (die letzte die er mit 79 heiratete, war früher verehelicht mit seinem Mitarbeiter Randolph Churchill). Er gründete seine eigene Bank, lieh dem Studenten Henry Luce das Startkapital für das erste Nachrichtenmagazin ("Time") und kaufte sich bei der Konkurrenz »Newsweek« ein.

Dieser Moneymaker baute auch den ersten Skilift, erwarb Zinkhütten in Oberschlesien und steigerte mit seinen modernisierten Eisenbahnen mitten in der Weltwirtschaftskrise seine Einnahmen um 66 Prozent.

Das alles war nicht genug: Harriman wurde auch noch Amerikas maßgeblicher Rußlandexperte. Von ihm beraten, ließen die Amerikaner es zu, daß die Hälfte des ihm unbekannten, fernen Kontinents Europa an die Sowjet-Union fiel.

Präsident Roosevelt beauftragte ihn 1941, die Pacht- und Leihhilfe für England zu organisieren, dann der UdSSR Waffen im Wert von 15 Milliarden Dollar zu liefern.

Der Tycoon und der Tyrann gefielen einander: Stalin nannte den Dollar-König seinen »Freund« und schenkte ihm Rassepferde. Harriman pries Stalins »hohe Intelligenz, sein phantastisches Verständnis für Details seinen Scharfsinn und die überraschende menschliche Einfühlsamkeit«, er sei »besser informiert als Roosevelt, realistischer als Churchill«, wenn auch »natürlich ein mörderischer Tyrann«.

Der gestand dem US-Freund, das russische Volk kämpfe »für seine Heimat, nicht für uns«, die KPdSU. Seit 1943 Botschafter in Moskau, setzte Harriman die polnische Exilregierung unter Druck, Ostpolen freiwillig an die UdSSR abzutreten. Mit den Nachkriegsregelungen von Jalta und Potsdam, an denen er teilnahm, war er zufrieden. Er meinte, die Sowjets verstünden unter »Demokratie«, »Selbstbestimmung« und »befreundeter Nachbar« dasselbe wie die Amerikaner. Daß dem nicht so war, »sollte sich später herausstellen«, sagte er einige Zeit danach. Naivität? Andernfalls, entschuldigte sich Harriman, »wäre der Welt nicht klargeworden, daß die kommunistische Aggression die Ursache des kalten Krieges war«.

Ihm selbst wurde im Januar 1945 klar, daß Moskau in Osteuropa Regierungen installierte, »die allen Kreml-Vorschlägen positiv gegenüberstehen«. Erst nach Roosevelts Tod im April meldete er nach Washington, der Drang des Kommunismus ins Ausland sei nicht tot, man müsse mit einem ideologischen Krieg rechnen, ebenso hart wie der Kampf gegen den Faschismus.

Den Roosevelt-Nachfolger Truman warnte er nun, eine »barbarische Invasion« sei im Gang; in den besetzten Staaten werde die Redefreiheit ausgelöscht. Einen Moskauer Befehl dazu hielt er aber für »absurd«. Es seien die örtlichen Kommunisten, die zur Diktatur drängten.

Richtig mißtrauisch wurde der Ostpolitiker, als Außenminister Molotow ihn um einen Kredit nach dem Krieg anging: 6 Milliarden Dollar auf 30 Jahre zu 2 Prozent Zinsen. Bankier Harriman: »Das seltsamste Ersuchen, das mir je vorgetragen wurde.«

Harriman übernahm die Organisation des Marshall-Plans - weil er glaubte, daß ohne diese US-Hilfe Stalin auch Paris beherrschen würde. Zweimal bewarb er sich erfolglos um die Präsidentschaftskandidatur; kurze Zeit war er Gouverneur von New York. Präsident Kennedy übertrug ihm, der einst Stalins Gebietsansprüche gegenüber Japan gebilligt hatte, die Ostasienabteilung des US-Außenministeriums. Gleich nach der Kuba-Krise handelte er den (oberirdischen) Atomteststopp aus. 1968 führte er die ersten Verhandlungen mit Nordvietnam, Präsident Carter schickte ihn 1978 zu Breschnew.

Zum Nachfolger Andropow fuhr Harriman 1982 ohne Mandat des Präsidenten, der nun Reagan hieß. Vor seinem Tod mit 94 am vorletzten Samstag stiftete er der Columbia-Universität zehn Millionen Dollar - für eine bessere Erforschung der Sowjet-Union.

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