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SEUCHEN Bakterien im Ei

aus DER SPIEGEL 13/1956

Seit dem Frühsommer 1955 wiederholte sich mehrmals das gleiche Spiel: Ein Frachter aus Ostasien machte im Londoner Hafen fest, um Gefrierei oder Eipulver aus Rotchina zu löschen. Die britischen Gesundheitsbehörden entnahmen der Ladung eine Probe, ließen sie bakteriologisch untersuchen und stellten fest, daß das eingefrorene oder pulverisierte Ei Salmonella-Keime enthielt, Erreger typhusähnlicher Krankheiten*. Daraufhin wurde die Einfuhr der Eiprodukte verboten.

Aber die verseuchte Ladung wurde keineswegs vernichtet. Ein anderer Frachter nahm sie an Bord und dampfte mit dem von den britischen Importeuren weiterverkauften Pulver nach Hamburg. Dort wurde die gesundheitsschädliche Ladung ohne Schwierigkeiten gelöscht und ins bundesdeutsche Binnenland verfrachtet. Denn in der Bundesrepublik ist eine bakteriologische Untersuchung importierter Eiprodukte gesetzlich nicht vorgeschrieben. So wurde Hamburg seit dem Frühsommer 1955 zum Nothafen für verseuchte Lebensmittel. Später liefen die Dampfer mit den für London deklarierten Eiprodukten englische Häfen gar nicht mehr an, sondern fuhren direkt nach Hamburg.

Sowohl die Hamburger Gesundheitsbehörde als auch das Bundesinnenministerium wußten bald, daß die Gefriereiladungen gefährliche Bakterien enthielten. Die Hamburger Gesundheitswächter hatten bei einer Probe die Verseuchung entdeckt, aber merkwürdigerweise nur diejenigen Kanister beschlagnahmt, denen die Proben entnommen worden waren. Alle übrigen Kanister mit je 50 Kilo Eiprodukten wurden für den Verbrauch im Inland freigegeben, obgleich der Verdacht nahelag, daß auch sie verseuchte Ware enthielten.

Im Februar 1956 erkrankte in einer Hamburger Bäckerei ein Angestellter und mußte mit Leibschmerzen, Fieber und heftigem Brechdurchfall ins Krankenhaus eingewiesen werden. Eine bakteriologische Untersuchung der Bäckerei-Belegschaft ergab schließlich, daß sich zwölf Personen mit dem Bakterium Salmonella thompson infiziert hatten, dem gleichen Erreger, den man in den Kanistern mit chinesischen Eiprodukten gefunden hatte.

Zwar ließ sich die Indizienkette nicht schließen, denn das in der Bäckerei verwandte Gefrierei war einwandfrei. Aber die Infektion hatte bewiesen, daß der aus den Tropen stammende Erreger Salmonella thompson auch in kühleren, Breitengraden Krankheiten auslösen kann.

Die Hamburger Gesundheitsbehörde handelte, erst, als zwei Hamburger Zeitungen das Loch im Netz der Lebensmittelüberwachung aufdeckten. Die Schlagzeile »Krankheit und Tod durch unheimliches Gift« schreckte die Gesundheitswächter aus ihrer Lethargie; sie trafen sich noch am Nachmittag des Tages, an dem die Zeitungsberichte erschienen waren, zu einer Sondersitzung, um über Maßnahmen gegen die Einfuhr der gesundheitsschädlichen Eiprodukte zu beraten.

Just in den Stunden, da der Hamburger Senator Ewald Samsche und seine Gesundheitsbeamten in ihrer Sondersitzung nach einem Paragraphen gegen die Einfuhr der verseuchten Eiprodukte suchten, wurden beim Hafenschuppen 45 die letzten Stückgut-Kisten aus dem britischen Küstenfrachter »Groningen« an Land gehievt. Ein Teil der Ladung: Eiweiß aus Rotchina, dessen Abnahme die britischen Gesundheitsbehörden verweigert hatten:

Gerade noch rechtzeitig ehe die gefährliche Ladung ins Binnenland weiterrollte, beschlagnahmte Amtmann Polchow vom Ordnungsamt der Gesundheitsbehörde die Kanister. Die Gesundheitsbeamten hatten in dem Paragraphen 3 des Lebensmittelgesetzes eine Formulierung entdeckt, die sie mit der nötigen Vollmacht ausstattete. Dort heißt es: »Es ist verboten, Gegenstände, deren Genuß die menschliche Gesundheit zu schädigen geeignet ist, als Lebensmittel anzubieten, zum Verkauf vorrätig zu halten, feilzuhalten, zu verkaufen oder sonst in den Verkehr zu bringen.«

Mittlerweile waren auch aus den Hamburger Abwässer-Sielen Salmonella -Bakterien vom Typ thompson herausgefischt worden. Daraus ließ sich schließen, daß sich in Hamburg bereits zahlreiche Menschen infiziert haben und die Keime ausscheiden. Das besagt allerdings nicht, daß diese Bakterienträger sämtlich erkrankt sind oder krank waren: Es ist kennzeichnend für alle typhusähnlichen Krankheiten, daß, manche Menschen nach einer Infektion nicht erkranken, trotzdem aber längere Zeit die Keime ausscheiden. Auch Genesene, die ein langes Krankenlager hinter sich haben, können oft über Monate und Jahre Keimträger bleiben und andere Menschen anstecken.

Im Hintergrund zeichnet sich aber eine noch viel ernstere Gefahr ab: Ähnliche Keime werden seit Jahren auch mit Fisch - und Fleischmehlen aus dem Ausland eingeschleppt.

Kurz vor dem Höhepunkt der Eipulver -Affäre hatten zwei Ärzte, Dr. Bischoff, der Leiter der Hamburger Veterinär -Untersuchungsanstalt, und Dr. Rohde vom Hygienischen Staatsinstitut, einen alarmierenden Bericht über den Import bakterienverseuchter Fischmehle veröffentlicht. Er erschien in der »Berliner und Münchener Tierärztlichen Wochenschrift« und wurde von den zuständigen Behörden kaum beachtet.

Was dieser nüchterne Bericht aussagt, läßt die Gefahren ahnen, die bei weiterer Einfuhr von Eipulver und Fischmehl drohen. Aus 275 Fisch- und Fleischmehl -Importen, die über Hamburg ins Binnenland geschleust wurden, holten die beiden Forscher 22 verschiedene Typen von Salmonella-Bakterien heraus. Die meisten dieser Typen waren vorher in Deutschland noch nie festgestellt worden.

Der Bedarf an Fisch- und Fleischmehlen, die von vielen Bauern, die sich auf Schweinezucht umgestellt haben, als Futtermittel verwendet werden, ist seit 1948 sprunghaft gestiegen: 1949 wurden nur 5000 Tonnen Fischmehl und ähnliche Futtermittel über den Hamburger Hafen importiert, 1954 dagegen schon 50 000 Tonnen.

Alle diese Schiffsladungen kamen ohne bakteriologische Kontrolle ins Inland. Die Gesundheitshüter begnügten sich mit der alten Erfahrung, daß Schweine nur äußerst selten an Salmonella-Infektionen erkranken. Insofern hatten sich die Ernährungsbehörden auch nicht getäuscht.

Aber seit 1952 wurden nun bei kranken Menschen die gleichen Salmonella-Typen gefunden, die von den Doktoren Bischoff und Rohde in Fischmehlproben entdeckt worden waren. Zum Beispiel:

- Salmonella anatum, das im Hamburger Hafen dreimal in gemischten Fischmehlen gefunden wurde, verursachte 1952 schwere Lebensmittelvergiftungen in Ludwigshafen.

- Salmonella kirkee*, aus Südsee-Trockenfischen isoliert, war Ursache einer Massen-Erkrankung von 1000 Menschen in einem Hamburger Großbetrieb im Dezember 1954. Die Erkrankten hatten ein Essen in der Werkskantine eingenommen.

- Salmonella blockley, ein Erreger, der unter anderem auch in zwei Fischmehlproben im Hamburger Hafen entdeckt wurde, löste im Juni 1955 eine Massenvergiftung in Brackwede bei Bielefeld aus. 500 Menschen erkrankten nach dem Genuß von grober Braunschweiger Wurst, drei starben.

- Salmonella montevideo, in chilenischem Walmehl gefunden, tauchte seit August 1955 sechsmal in Hamburger Kinderkrankenhäusern auf. Zehn Kinder und eine Frau starben an der Infektion, über 100 Menschen litten an schweren Vergiftungserscheinungen.

Das ist nur ein Teil der Statistik, die von den beiden Hamburger Bakteriologen zusammengestellt wurde. Ungezählte weitere Fälle in der Kette der Lebensmittelvergiftungen seit 1952 konnten anderen Erregertypen aus den Tropen zugeordnet werden. Die beiden Hamburger Wissenschaftler folgern: »Die Tatsache, daß die von uns in den Fisch- und Fleischmehlen gefundenen verschiedensten Salmonella-Typen bei unseren Schlachttieren

- gesunden wie notgeschlachteten - und beim Menschen anzutreffen sind; läßt ohne Zweifel eine Infektkette Futtermittel -Tier-Mensch erkennen.«

Salmonella-Bakterien im Fleisch werden zwar beim Kochen und Braten abgetötet. Sind sie aber erst in Großküchen oder Lebensmittelbetriebe eingedrungen, dann können sie sich auf eiweißhaltigen Speiseresten schnell vermehren und mit den Lebensmitteln auf den Eßtisch gelangen.

Die Bonner Behörden sind über die Gefahren unterrichtet. Dr. Bischoff und Dr. Rohde forderten dringlich, für Futtermittel tierischen Ursprungs, die aus dem Ausland eingeführt werden sollen, die bakteriologische Untersuchung anzuordnen.

Diese Forderung erscheint dem Fachverband Fischmehl, in dem die deutschen Fischmehl-Importeure zusammengeschlossen sind, nicht gerechtfertigt. Die Importeure weisen darauf hin, daß Salmonella-Bakterien auch in den deutschen Gewässern und in einheimischen Nahrungsmitteln gefunden werden, daß es also unsinnig sei, eingeführte Futtermittel aus der großen Gruppe von möglichen Gefahrenquellen herauszugreifen.

Die Doktoren Bischoff und Rohde begründen nun in einem zweiten, noch ausführlicheren Aufsatz im »Zentralblatt für Bakteriologie, Parasitenkunde, Infektionskrankheiten und Hygiene«, warum gerade die importierten Futtermittel unter die Lupe genommen werden sollten: Alle von ihnen zitierten Infektionen wurden von Erregertypen verursacht, die früher in Deutschland nie oder nur selten festgestellt wurden und in den Futtermitteln immer häufiger nachgewiesen werden. Die gleichen Erregertypen wurden auch aus Schlachttieren isoliert. Der Weg dieser für Deutschland neuen Bakterien läßt sich also, wie die beiden Hamburger Forscher behaupten, verfolgen.

Aber bisher geschah nichts. Der Paragraph 3 des Lebensmittelgesetzes, mit dem die Einfuhr von infizierten Eiprodukten vorläufig blockiert werden konnte, läßt sich auf das Fischmehl nicht anwenden. Fischmehl ist kein Lebensmittel.

Die Bakterien-Einfuhr wird also fortgesetzt, bis die beamteten Gesundheitswächter in Bonn und den Ländern, die für die Kontrolle der Eiprodukte und des Fischmehls zuständig sind, neue Verordnungen durch ihre Verwaltungsmühlen gedreht haben.

Hamburgs Gesundheits-Senator Samsche

Die Ei-Ladung wurde beschlagnahmt

* Salmonella-Bakterien, genannt nach dem Bakteriologen Salmon: Eine Gruppe von etwa 300 Krankheitserregern, die typhusähnliche Erscheinungen auslösen können. Seit 1933 wird der Begriff Salmonella als Gattungsname für alle Typen der Typhus-, Paratyphus- und Enteritis-Bakterien (Enteritis: Darmentzündung) benutzt.

* Die Bakteriologen bezeichnen viele Salmonella-Typen mit Städtenamen, meistens mit den Ortsnamen der ersten Entdeckung.

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