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RECHTSPRECHUNG Barbarischer Brauch

Ein amerikanischer Richter stellte Sexualtäter vor eine ungewöhnliche Wahl - Kastration oder 30 Jahre Haft. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Der Staatsanwalt glaubte an einen makabren Scherz. Die Angeklagten verstanden zunächst gar nichts. Roscoe Brown, 27, Mark Vaughn, 21, und Michael Braxton, 19, sollen wegen Vergewaltigung einer 23jährigen Frau für 30 Jahre ins Gefängnis. Sie können aber auch nach Hause gehen und sich über fünf Jahre in Freiheit bewähren - wenn sie sich nur kastrieren lassen.

Zuhörer im Gerichtssaal von Anderson, im US-Bundesstaat South Carolina, murmelten beifällig. Später erhielt Richter C. Victor Pyle Glückwünsche aus aller Welt. Sein Urteil war offenbar populär - kein Wunder. Denn wie »Rübe runter« für Mörder fordert sogenanntes gesundes Volksempfinden über Landesgrenzen hinweg für Notzucht-Unholde die Kastration.

Dabei ist nicht einmal sicher, ob Entmannung erneute Notzucht ausschließt. »Die einzige Auswirkung der Kastration, die wirklich 'überschaubar' ist«, weiß der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, »ist die Fortpflanzungsunfähigkeit.« Der amerikanische Autor und Therapeut von Sexualtätern, A. Nicholas Groth, urteilte: »Vergewaltigung ist der sexuelle Ausdruck von Aggressivität und nicht ein aggressiver Ausdruck von Sexualität.«

Der Richterspruch von Anderson erinnert denn auch vor allem an barbarische Bräuche in Amerika vor dem Bürgerkrieg, an Nazi-Deutschland und an die Verstümmelungsjustiz in einigen islamischen Staaten. »Weshalb sollte man nicht Taschendieben die Wahl lassen zwischen Gefängnis und Amputation (der Hand)«, mokierte sich die »New York Times« über den Richter Pyle, »weshalb nicht Spannern damit drohen, daß sie geblendet werden?«

Die Alternative Knast oder Kastration ist freilich so außergewöhnlich nicht - nur daß sie in einem Urteil selten so brutal ausgesprochen wurde wie jüngst in South Carolina. Sexualtäter haben in vielen Ländern Aussicht auf mildere Urteile, wenn sie sich vor der Hauptverhandlung dem Eingriff unterziehen.

1973 verurteilte ein Hamburger Gericht den wegen versuchter oder vollendeter Notzucht in zehn Fällen, des Diebstahls, der Erpressung und der Nötigung angeklagten Hans Günther Kock zu einer Freiheitsstrafe von nur drei Jahren. Der Richter, der zudem noch den Haftbefehl gegen Kock aufhob, begründete sein mildes Urteil unter anderem mit der »vom Angeklagten selbst gewählten Kastration«.

Verurteilte Sexualtäter hoffen, nach einem solchen Eingriff früher in die Freiheit entlassen zu werden. Der Triebmörder Jürgen Bartsch ließ sich 1976 kastrieren. Er starb bei der Operation im Landeskrankenhaus Eickelborn. Klaus Grabowski, wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes zu Haft und Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik verurteilt, ließ sich ebenfalls entmannen. Er wurde daraufhin freigelassen - und tötete die siebenjährige Anna Bachmeier.

»Chemisch kastriert«, das heißt mit Hormonen behandelt, die den Sexualtrieb ausschalten sollen, werden Straftäter zum Beispiel in England. Es gab schlimme Nebenwirkungen: Einem William Pate wuchs eine Frauenbrust, die operativ entfernt werden mußte. Aber offenbar lohnt sich die Prozedur. Von 70 Männern, die sich innerhalb von zehn Jahren im Zuchthaus Dartmoor der Behandlung unterzogen, wurden 69 entlassen.

»Solange ... Übereinstimmung besteht«, verteidigt Dr. John Nicholson, von der British Psychological Society, die Eingriffe, »bietet die Hormonbehandlung womöglich die einzige Alternative zu lebenslanger Haft. So gesehen scheint sie ethisch akzeptabel.«

Der fragwürdigen freiwilligen Entmannung mit Medikament oder Messer waren in mehreren Ländern Zwangskastrationen vorausgegangen. So wurden in den Vereinigten Staaten vor dem Bürgerkrieg Tausende von schwarzen Sklaven kastriert, oft nur auf den Verdacht hin, daß sie weiße Herrinnen begehren könnten.

In Nazi-Deutschland konnten Gerichte aufgrund des »Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« vom 24. November 1933 neben der Freiheitsstrafe eine Kastration anordnen und zwangsweise durchführen lassen. Experten schätzen, daß zwischen 1934 und 1945 etwa 2800 Kastrationen an »effektiven und potentiellen« Sexualdelinquenten vorgenommen wurden.

Heute ermöglicht die Eingriffe in der Bundesrepublik das »Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden« von 1969. Voraussetzung der Kastration ist, daß der Betroffene das 25. Lebensjahr vollendet hat. »Prinzipiell«, so kritisiert Professor Sigusch, »gehen wir davon aus, daß die freie Willensentscheidung eines Inhaftierten, Verwahrten oder Untergebrachten ... zumindest stark eingeschränkt ist.«

Die drei in South Carolina zur Wahl zwischen Kastration oder Kerker Verdammten - sie sind schwarz wie ihr Opfer, ihr Richter Pyle aber ist weiß - hatten zunächst gegen das Urteil Berufung

eingelegt. Nun entschied sich Roscoe Brown, Vater von zwei Kindern, für die Kastration: »Von der Welt isoliert zu sein, ist für mich noch schlimmer.«

Ob die Entmannung vorgenommen wird, ist allerdings fraglich. 1975 wollten sich zwei Sittlichkeitsverbrecher in San Diego lieber kastrieren lassen als ins Gefängnis zu gehen. Das Gericht war einverstanden. Aber in Kalifornien fand sich kein Arzt bereit, die Operation auszuführen.

Die Mediziner fürchteten, später einmal von ihren Patienten auf Schadenersatz verklagt zu werden - wegen Verstümmelung.

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