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SOWJET-UNION Bastion der Bourgeoisie

Der Delikatessen-Lieferant der höheren Kreise Moskaus wurde zum Tode verurteilt. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Moskaus Prominenz war Zeuge, als Jurij Konstantinowitsch Sokolow jüngst sein Todesurteil vernahm. Leitende Genossen aus den Stadtbezirken und Handelsorganisationen, so lautete die Order der Partei, sollten sich im Gerichtssaal des Bauman-Bezirks einfinden, damit sie sehen könnten, wie es korrupten Mitbürgern ergehe.

Das bittere Ende von Sokolow, dem ehemaligen Direktor des Delikatessen-Ladens »Gastronom Nummer 1« in der Gorkistraße 14, ist nur der Anfang einer großangelegten Fahndung hinter Moskauer Ladentischen. Szenen-Kenner rechnen mit mehr als 600 Betroffenen, die entweder als Zeugen oder als Angeklagte an den Prozessen teilnehmen.

Wie in Betrieben und in der Partei, bei Armee und Polizei soll die zu Jahresanfang von Generalsekretär Jurij Andropow eröffnete Schlacht gegen die Korruption auch im Versorgungssektor geschlagen werden, und zwar zum Vorteil der Verbraucher. Vor allem die zentralen Verteilungsstellen für Obst, Fleisch und Gemüse sowie die Hinterzimmer des Einzelhandels werden von der Polizei verdächtigt, Horte für Schummler und Schieber zu sein.

Brauch war es, daß Verwalter Weintrauben oder ein Lendenstück erst gar nicht auf den Ladentisch packten, sondern Freunden und Verwandten durch die Hintertür verkauften, nach dem Prinzip »Eine Hand wäscht die andere«.

Das Motto galt schon als Gewohnheitsrecht in den Lagerhäusern, wo Filialleiter zum Weiterverkauf bestimmte Mangelwaren ("Defizitnyje") häufig nur gegen Schmiergeld übernehmen konnten.

Überdies wollen die Saubermänner der Partei - die für sich selbst in Sonderläden bessere Produkte als ein Normalbürger erhalten - ein bislang weitverbreitetes Bestechungssystem sprengen: Geschäftsführer lassen sich von ihren Abteilungsleitern Prozente zustecken. Wer nicht mitmacht, der riskiert, auf einen unattraktiven Posten ohne direkten Zugang zu Kulinarien versetzt zu werden.

Die derart Ausgenommenen sind oft gezwungen, diese Arbeitsplatz-Gebühr auf krummen Wegen zu finanzieren. Beliebter Trick der Handelsfunktionäre: Sie erklären gegenüber den staatlichen Lieferanten Ware zentnerweise für verdorben, die sich noch bestens verkaufen läßt; der Erlös dafür geht in die eigene Tasche. Oder sie halten sich an ihre Untergebenen, die wiederum die Kunden beschummeln müssen.

»Gastronom«-Direktor Sokolow brachte es auf diese Weise zu Wohlstand. Er besaß, so erzählen sich Moskauer, eine Fünfzimmerwohnung in der Gorkistraße und fuhr ein Auto der Marke Volvo.

Sokolow fand so auch Zugang zu höheren Kreisen der Sowjetgesellschaft, die sich in seinem »Gastronom Nr. 1« (noch immer bekannt unter dem Namen seines Gründers aus der Zarenzeit, »Jelissejew") zum Einkauf trafen - unter den sorgfältig restaurierten Jugendstil-Lampen und Lüstern, vor Marmor und Spiegeln der Gründerzeit. Bei Sokolow gab es West-Importe, raren Kaviar erster Wahl und den sonst nirgendwo erhältlichen trockenen Krimsekt - zu hohen amtlichen Preisen zuzüglich Provision.

Gerade mit dieser Bastion der Neuen Klasse legte sich Andropow an. Sofort nach Amtsübernahme als Partei-Generalsekretär vor einem Jahr ordnete der frühere Chef des Komitees für Staatssicherheit (KGB) eine Untersuchung an: Eine Bedienstete Sokolows, die in Verdacht geraten war, Kaviar zu verschieben, hatte über die Machenschaften bei »Jelissejew« ausgepackt.

Sokolow, so heißt es, wurde auf frischer Tat ertappt, bei Übergabe eines Couverts mit Geld. Damit der Lieferant der Sowjet-Bourgeoisie sich nicht mit Hilfe guter Freunde bei der Polizei aus der Affäre ziehen konnte, schickte Andropow keine Beamten der zuständigen Polizeiabteilung »für den Kampf gegen den Diebstahl sozialistischen Eigentums«, sondern ein KGB-Kommando. Sokolow wurde auch im Gefängnis unter KGB-Aufsicht gestellt.

Wenig später sprachen Fahnder bei den Geschäftsführern von vier großen Lebensmittelläden vor. Im Prozeß gegen den todgeweihten Sokolow vor dem Obersten Gericht der UdSSR im November erhielten auch Sokolow-Vize Nemzew sowie drei Abteilungsleiter lange Haftstrafen. Zwei hohe Funktionäre der obersten Moskauer Handelsbehörde sollen bereits verhaftet worden sein, ebenso ein Genosse der städtischen Parteileitung sowie mehrere Filialleiter.

Nicht mehr im Amt ist zudem der Chef des Obst- und Gemüselagers im Dserschinski-Bezirk, Mchtar Ambardzumjan. Der Leninorden-Träger verlor auch sein Mandat als Abgeordneter des 57. Wahlkreises im Moskauer Stadtrat.

Nun scheut sich der verschreckte Handelsapparat, weiterhin Ware zu unterschlagen. Die Kunden meinen festzustellen, es gebe jetzt in Moskau mehr zu kaufen.

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