VOLKSEIGENE BETRIEBE Beerdigungsfeier am Lohntag
Der kaufmännische Direktor des Ostberliner volkseigenen »Industriewerks Ludwigsfelde«, John, mußte in den letzten Wochen mehrfach beim Amt für Technik vorsprechen, der sowjetdeutschen Rüstungszentrale für Heer und Kriegsmarine*. Er mußte dort 900 000 Mark Überbrückungskredit erbetteln, sonst hätten die über 2200 Arbeiter und Angestellten dieses volkseigenen Großbetriebes schon am 1. Oktober keinen Lohn und kein Gehalt mehr bekommen können.
Nach freiwirtschaftlichen Begriffen hätte das volkseigene Industriewerk Ludwigsfelde, das aus dem ehemaligen Daimler -Benz-Flugmotoren-Werk Genshagen hervorgegangen ist, schon längst Konkurs anmelden müssen. Die Bilanz des Betriebes wies Ende September sieben Millionen Mark Verlust aus. Die Entstehung dieses Defizits gehört zu den finstersten Kapiteln volksdemokratischer Wirtschaftsfehlleistungen.
Die Misere begann 1952, als das Werk den Auftrag erhielt, hochleistungsfähige 2500-PS-Schiffsdieselmotoren zu bauen. Die Motoren waren für die Marine - damals noch »Seepolizei« genannt - der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik bestimmt. Das Werk, das einmal Hochleistungs-Flugzeugmotoren am laufenden Band produziert hatte, zeigte sich der Aufgabe, einen bereits im Kriege verwendeten Schiffsmotortyp nachzubauen, nicht gewachsen.
Was das Werk von 1952 bis Oktober 1956 zustande brachte, war nicht eben viel: Es gelang gerade noch, Daimler-Motoren aus Beständen der großdeutschen Kriegsmarine wieder instand zu setzen. Von den 27 Nachkonstruktionen, mit denen sich das volkseigene Werk in den beiden letzten Jahren beschäftigte, konnte bisher keine abgeliefert werden, so daß die inzwischen von der Werft Roßlau an der Elbe fertiggestellten Schnellboote der »DDR«-Marine ohne Motoren blieben.
Diese Panne wird in Ludwigsfelde darauf zurückgeführt, daß 1952, als das Werk den Marine-Auftrag erhielt, gleichzeitig ein Werkleiter namens Vester eingesetzt wurde. Vester war für diesen Posten auf besondere Weise qualifiziert: Er ist ein Schwiegersohn des kommunistischen Idols Ernst Thälmann. SED-Funktionär Vester begnügte sich nicht damit, alte Motorentypen nachzubauen - er versah die Motoren schon in der Planung mit phantastischen konstruktiven Änderungen. Die Motoren versagten ausnahmslos.
Anfang 1955 wurde Werkleiter Vester auf die Parteihochschule Klein-Machnow abgeschoben und von dem SED-Funktionär Singhuber abgelöst, einem gelernten Kellner, der es später immerhin zum Mechaniker bei der Lufthansa gebracht hatte. Ausschlaggebend für die Berufung des Singhuber waren die Meriten, die er im Spanienkrieg als Major der Internationalen Brigaden und - während des zweiten Weltkrieges - als Emigrant beim sowjetischen »Nationalkomitee Freies Deutschland« erworben hatte. Unter Berufung auf seinen Lenin-Orden versprach Singhuber dem Major Fink von der Abteilung Seestreitkräfte im OstberlinerVerteidigungsministerium, daß der Ludwigsfelder Großbetrieb endlich acht dringend erwartete Schnellboot-Motoren fertigstellen werde.
Singhuber engagierte für 2000 Mark Monatsgehalt den Diesel-Fachmann der ehemaligen FAMO-Werke in Breslau, Fabian, der sich in den mitteldeutschen Schlepper -Werken in Schönebeck und Brandenburg bewährt hatte. Fabian zog jedoch schon nach wenigen Wochen einer Blamage in Ludwigsfelde eine Dienstreise (mit Familie) nach Westdeutschland vor, von der er nicht zurückkehrte.
Da blieb Singhuber nichts anderes übrig, als selbst in die Bresche zu springen. Er kam auf die geniale Idee, einen Prüfstand bauen zu lassen, den man bis dahin in Ludwigsfelde für überflüssig gehalten hatte. Die für diesen Stand ausgeworfenen 100 000 Mark erwiesen sich jedoch als Fehlinvestition. Als Anfang 1956 der erste Nachbau-Motor geprüft werden sollte, vibrierte das mangelhafte Fundament des Prüfstandes so stark, daß eine exakte Motor-Prüfung unmöglich war. So mußten die wenigen Motoren über 100 Kilometer weit zum Prüfstand der Schnellbootwerft in Roßlau geschickt werden, wo man sie für unbrauchbar befand.
»Hier ruht die Motorroller-Produktion«
Die Experimente mit den Dieselmotoren für die sowjetische Volksmarine wirkten sich auch noch in anderer Beziehung sehr negativ auf die Bilanz des Betriebes aus: Um den volkseigenen Rüstungsbetrieb zu sichern, wurden In Ludwigsfelde ein besonderes Kreispolizeiamt, eine Staatssicherheitsabteilung und eine Kriminalpolizei-Dienststelle eingerichtet. Die Kosten für den Polizeiapparat mußte der volkseigene Betrieb übernehmen.
Singhuber hoffte, er könne die Einnahmeverluste, die durch den verkorksten Motorennachbau entstanden waren, wieder wettmachen, indem er sich die Herstellung der ersten Sowjetzonen-Motorroller übertragen ließ. Doch auch bei dieser Fabrikation ergaben sich Schwierigkeiten (SPIEGEL 26/1955). Dem Ludwigsfelder Industriewerk ist es bisher nicht gelungen, durch die Massenproduktion eines gängigen Motorrollertyps seine Verluste auch nur annähernd auszugleichen. Im Gegenteil: Bei jedem Roller setzte der Betrieb 500 Mark zu; die Herstellungskosten betrugen nämlich je Roller 2300 Mark; die Organe des staatlichen Handels zahlten dem Betrieb aber nur 1800 Mark für den Motorroller, den der »DDR«-Bürger dann für 2300 Mark in den Staatsläden kaufen konnte.
So wurde der Betrieb immer unrentabler, was sich auch auf die Lohntüten der Arbeiter auswirkte. Die Rollerproduktion mußte schließlich eingestellt werden. Die Belegschaft, die wegen Materialknappheit und Fehlplanung unbezahlte Wartezeit hinnehmen mußte, revanchierte sich durch den Bau eines Denkmals aus Steinbrocken. Darauf stand in schwarzer Farbe: »Hier ruht die Roller-Produktion. Die Beerdigungsfeierlichkeiten finden am Lohnzahltag statt.«
Werkleiter Singhuber unternahm gegen diese Demonstration nichts. Wie es heutzutage häufig in den großen Betrieben Mitteldeutschlands geschieht, übersah er sie geflissentlich, um nicht weitere Facharbeiter aus den bereits gelichteten Ludwigsfelder Werkhallen zu vertreiben.
Trotz des einschlägigen Mißerfolges wurde das Industriewerk Ludwigsfelde vor wenigen Tagen mit einem neuen ehrenvollen Staatsauftrag bedacht. Der Betrieb soll nach dem Beschluß des Ministeriums für nationale Verteidigung ab 1. Januar 1957 Düsentriebwerke für zwei Düsenflugzeugtypen herstellen, die von dem deutschen Konstrukteur Baade und dem sowjetischen Konstrukteur Bonin in der Sowjet-Union entwickelt worden sind.
* Für die Luftwaffe ist die »Hauptverwaltung Luftfahrtindustrie« in Sonnenstein bei Pirna zuständig.