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Artikel 22 / 74

BEGRENZTER KRIEG UM BERLIN IST DENKBAR

aus DER SPIEGEL 9/1963

SPIEGEL: Herr General, Sie sind jetzt fast zwölf Monate aus Berlin fort. Als Sie Deutschland verließen, sagten Sie voraus, daß in Berlin für mindestens ein Jahr Ruhe sein würde, und Sie haben recht behalten. Welche Anhaltspunkte hatten Sie für diese Prophezeiung?

CLAY: Nachdem die Mauer gebaut worden war, versuchte die ostdeutsche Regierung - unterstützt von der Sowjetregierung und von den russischen Vertretern in Deutschland - die Mauer zu benutzen, um Furcht und Panik in Westberlin hervorzurufen. Außerdem bemühte sie sich, Zwischenfälle zu provozieren, die einen Mangel an Entschlossenheit auf seiten der Westalliierten zeigen sollten. Obwohl der Osten die Versuche bis zu einem Punkt trieb, der sehr riskant wurde, stellte sich heraus, daß diese Taktik nicht funktionierte. Eine Fortsetzung hätte das Risiko eines Krieges heraufbeschworen, und die Sowjetregierung war nicht bereit, den Ostdeutschen dies weiterhin zu erlauben. Das Ergebnis war, daß die Provokationen aufhörten, und es wurde mir ganz deutlich, daß folgendes der Grund war: Die Risiken waren zu groß geworden; der Osten hatte seinen Zweck nicht erreicht, und deshalb konnten wir eine Zeit der Ruhe erwarten.

SPIEGEL: Das Problem des Risikos impliziert die Frage des Kräfteverhältnisses zwischen Ost und West. Sind Sie der Meinung, daß die Sowjet-Union, wie es sich dann später auch bei der Kuba -Krise gezeigt hat, eingesehen hatte, daß ihre militärische Position gegenüber der amerikanischen nicht mehr so günstig ist wie Ministerpräsident Chruschtschow vielleicht noch vor zwei Jahren gedacht hat?

CLAY: Ich glaube, daß Chruschtschow - sobald er sah, die Risiken in Westberlin würden zu groß werden

- beschloß, die amerikanische Haltung

am Fall Kuba zu testen. Ich bin ganz sicher, daß Chruschtschow auch Kuba nicht bis zu einem Punkt vortreiben wollte, der die Gefahr eines Atomkrieges heraufbeschwor. Er war von vornherein bereit, den Prestigeverlust hinzunehmen, der mit einem Rückzug verbunden war. Ohne jeden Zweifel kennt Chruschtschow sehr genau unsere nukleare Kapazität und unsere Fähigkeit, Rußland zu zerstören, selbst noch nach einem sowjetischen Atomschlag.

SPIEGEL: Trotzdem bleibt die Gefahr eines Kriegsausbruchs durch eine Fehlbeurteilung der Lage oder durch einen unglücklichen Zufall.

CLAY: Natürlich besteht diese Gefahr immer in solchen Situationen. Wenn jemand bereit ist, so weit vorzustoßen, wie Chruschtschow es in der Vergangenheit getan hat, dann kommt es darauf an, an welchem Punkt er die Entscheidung trifft, daß die Gefahr eines Atomkrieges involviert wird. Fehlberechnung ist dann die größe Kriegsgefahr, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß Chruschtschow in Kenntnis unserer nuklearen Stärke wirklich einen Krieg riskieren möchte. Die größte Gefahr liegt eben darin, daß er, angetrieben von Kräften, die hinter ihm stehen, zu weit gehen könnte.

SPIEGEL: Halten Sie es für möglich, daß der russisch-chinesische Konflikt einen Einfluß auf die Verminderung der Spannungen um Berlin gehabt hat?

CLAY: Ich möchte annehmen, daß Chruschtschow über den chinesischen Angriff auf Indien sehr unglücklich war. Er hat viel Zeit und Geld darauf verschwendet, gute Beziehungen zu Indien herzustellen, und deshalb kann er nicht mit der chinesischen Invasion zufrieden gewesen sein. Nach meiner Meinung hat schon diese Tatsache es für die sowjetische Regierung viel schwieriger gemacht, ihren nächsten Aktionsplan festzulegen. Welchen Einfluß auf lange Sicht nun die Meinungsverschiedenheiten zwischen Rotchina und der Sowjet -Union auf die sowjetische Strategie haben werden, und ob sie diese ändern werden - darüber habe ich meine Zweifel. Die Sowjets sind auf die Vorstellung festgelegt, daß sie ein konsolidiertes, starkes Westeuropa nicht dulden können. Ich glaube deshalb nicht, daß ihre Schwierigkeiten mit Rotchina sie in der nahen Zukunft davon abhalten werden, alles zu tun, um zu verhindern, daß der Gemeinsame Markt sich zu einer politischen Gemeinschaft entwikkelt.

SPIEGEL: Herr General, im Unterschied zu Ihnen, hatte Präsident Kennedy bereits im vergangenen Herbst eine neue Berlin-Krise für die Monate Oktober oder November vorausgesagt. Und Verteidigungsminister McNamara hat kürzlich im amerikanischen Senat erklärt, Berlin sei für die USA immer noch der riskanteste militärische Platz.

CLAY: Die Sowjets verfolgen weiterhin das Ziel, die Nato aufzubrechen und die Vervollständigung des Gemeinsamen Marktes zu verhindern. Dies waren die Ziele aller russischen Regierungen seit langer Zeit, und solange diese Ziele bestehenbleiben, ist es ganz natürlich, daß sie immer wieder auf Berlin zurückgreifen werden, wenn sie ihre Ziele nicht durch Aktionen anderswo erreichen können. Denn in Berlin können sie uns die größten Schwierigkeiten mit dem geringsten Risiko für sich selbst machen. Deshalb erwarte auch ich, daß die Sowjets wieder zu Berlin zurückkehren werden.

SPIEGEL: Was wäre nun nach Ihrer Ansicht für den Westen die richtige Politik, diesen sowjetischenAbsichten zu begegnen? Es ist noch nicht lange her, daß es Meinungsverschiedenheiten darüber

gab, ob eine harte oder eine weiche Politik richtig sei.

CLAY: Nach meiner Meinung waren diese sogenannten Meinungsverschiedenheiten niemals so bedeutungsvoll wie die Frage, welche Maßnahmen der Westen ergreifen sollte. Bei diesen Maßnahmen, die in meiner Sicht außerordentlich wichtig waren und noch sind, handelt es sich um folgendes: Erstens müssen alle Nato-Mitglieder ihre Nato-Verpflichtung erfüllen. Bisher haben das sehr wenige Nato-Staaten getan. Dies ist wichtig, um der sowjetischen Regierung die Einheit und Entschlossenheit des Westens zu beweisen, und deshalb nenne ich dies als erstes. Als zweites, und dies ist von gleicher Wichtigkeit, nenne ich den Fortschritt des Gemeinsamen Marktes. Wenn sich dieser Entwicklungsprozeß jetzt wegen der Meinungsverschiedenheiten über die Zulassung Großbritanniens verlangsamt, dann erscheinen mir als einem Laien was immer die Gründe für die mangelnde Bereitschaft, England unter etwas veränderten Bedingungen aufzunehmen, sein mögen - diese Gründe weit weniger wichtig zu sein als die Bedeutung einer Zusammenarbeit aller westlichen Länder.

SPIEGEL: Sie sprachen von den Nato -Verpflichtungen, und Sie kennen sicher die Auseinandersetzungen über die Frage, ob wir Deutschen mehr konventionelle Truppen aufstellen sollen. Was ist Ihre Meinung als General zu dem Problem der atomaren Schwelle und zu der Frage, ob eine konventionelle Verstärkung erforderlich ist, um die Abschreckung zu erhöhen und einen Atomkrieg zu vermeiden?

CLAY: Für mich ist diese Frage durch Kuba entschieden. Dort hatten wir genügend konventionelle Kraft, um unsere Aufgabe zu erfüllen - wir brauchten nicht auf Atomwaffen zurückzugreifen. Aber Chruschtschow hätte Atomwaffen einsetzen müssen, wenn er uns hätte stoppen Wollen. In Europa ist die Situation heute in gewisser Weise umgekehrt.

SPIEGEL: Berlin könnte ein westliches Kuba werden?

CLAY: In dem Sinne, daß die Westmächte Atomwaffen schon sehr frühzeitig einsetzen müßten, wenn sie nicht genügend konventionelle Kräfte haben, um wenigstens zu Beginn eines Konflikts Berlin konventionell verteidigen zu können. Wenn aber die Nato-Verbände so aufgefüllt sind, wie es den bestehenden Verpflichtungen entspricht, dann wird ein Gleichgewicht auch auf dem Gebiet der konventionellen Streitkräfte erreicht. Für die unmittelbare Zukunft scheint mir dies eine sehr weise Maßnahme zu sein, eine Vorsichtsmaßnahme. Sie würde als Abschreckung für den Atomkrieg dienen. Und darüber hinaus ist sie psychologisch wichtig: Wenn man weiß, daß man diese konventionelle Stärke hat und seine ersten Aktionen durchführen kann, ohne gleich Atomwaffen einsetzen zu müssen, so würde dies die Festigkeit der alliierten Position erhöhen.

SPIEGEL: Halten Sie einen begrenzten

Krieg in Europa überhaupt für möglich?

CLAY: Ich sehe eine solche Möglichkeit unter einer Reihe von Umständen. Wenn jemand sich zu weit vorwagt und man ihm mit starken konventionellen Kräften entgegentritt, dann könnte eine Verhandlungsperiode folgen, die den Ausbruch eines Atomkrieges verhindert. Wenn es allerdings jemals zu einem allgemeinen Krieg kommt, dann wird er früher oder später auch ein Atomkrieg sein. Aber wenn bei dem Zusammenstoß konventioneller Streitkräfte eine Gleichgewichtslage entsteht, dann gibt es eine Möglichkeit zu verhandeln, und dadurch könnte die zweite Phase eines Krieges verhindert werden.

SPIEGEL: Und welches ist die Rolle der Bundeswehr in diesem Zusammenhang?

CLAY: Die Bundeswehr spielt eine große Rolle. Sie ist eine der stärksten Kräfte innerhalb der Nato und ohne sie würde die Nato im Vergleich zur Sowjetarmee sehr schwach sein. In meinen Augen ist der deutsche Beitrag für die konventionelle Stärke der Nato außerordentlich wichtig.

SPIEGEL: Was würde die Rolle der Bundeswehr bei einer Berlin-Krise sein? Im vergangenen Jahr gab es eine Kontroverse darüber, ob die Bundeswehr bei einer Berlin-Krise überhaupt in Aktion treten oder ob man alles den drei Westmächten überlassen solle.

CLAY: Solange die alten Abmachungen bestehen, nach denen Berlin gewissermaßen den Status eines Protektorats von England, Frankreich und Amerika hat, kommt Westdeutschland nur als Teil der Nato-Verpflichtungen ins Bild. Es gibt eine Nato -Verpflichtung, Berlin gegen einen Angriff

zu verteidigen. Ich würde sagen: Falls die alliierten Truppen - damit meine ich die englischen, französischen und amerikanischen Truppen in Berlin - in Kämpfe mit den Ostdeutschen oder den Russen verwickelt werden, sind alle Nato-Staaten verpflichtet, daran teilzunehmen.

SPIEGEL: Wir haben bisher über die militärische Bereitschaft gesprochen. Wie steht es mit der diplomatischen Bereitschaft? Ist die Notstandsplanung fertiggestellt?

CLAY: Die Notstandsplanung für die verschiedensten Fälle ist soweit fortgeschritten, wie sie es überhaupt nur sein kann. Aber das eigentliche Problem ist nicht die Planung; es besteht darin, wie man möglichst schnell so viele Regierungen zu einer gemeinsamen Entscheidung bringen kann.

SPIEGEL: Daran hat es bisher oft gefehlt.

CLAY: Ich glaube, diese Dinge stehen heute besser als früher, aber es gibt immer noch Schwierigkeiten.

SPIEGEL: Vor einigen Monaten, als Sie noch in Berlin waren, sagten Sie, es könnte vielleicht gut sein, Westberlin als elftes Bundesland in die Bundesrepublik aufzunehmen. Sind Sie immer noch dieser Meinung?

CLAY: Diese Frage sollte nicht beantwortet werden, bis ein Friedensvertrag zwischen den kommunistischen Staaten und Ostdeutschland unterzeichnet wird. Wenn ein solcher Friedensvertrag unterzeichnet und in Kraft gesetzt wird, dann sollte nach meiner Ansicht diese Frage sofort geprüft werden. Ich kann heute noch nicht sagen, welches dann die Antwort sein wird, weil man die Vorteile und Nachteile, wie sie sich dann stellen, abwägen muß. Aber selbstverständlich sollte man sich die Sache dann sofort überlegen.

SPIEGEL: Es gibt Stimmen in Deutschland, die der Meinung sind, daß diese Frage schon unmittelbar nach dem 13. August 1961 hätte entschieden werden sollen. Was ist Ihre Auffassung darüber?

CLAY: Ich kann diese Frage nicht beantworten. Doch hätte sie zu jenem Zeitpunkt sorgfältig in Betracht gezogen werden sollen.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß ein Separat -Friedensvertrag in absehbarer Zeit unterzeichnet werden wird?

CLAY: Ich habe während eines langen Zeitraums viel mit den Vertretern der Sowjetregierung zu tun gehabt. Aber unglücklicherweise kann ich nicht behaupten, daß ich selbst in jenen Jahren jemals in der Lage gewesen wäre, genau vorauszusagen, was sie tun würden. Natürlich muß es einen starken Druck innerhalb des Ostblocks geben - ich bin sicher, daß Polen und die Tschechoslowakei es gern sehen würden, wenn dieser Friedensvertrag unterzeichnet wird, und außerdem gibt es noch den starken Druck der ostdeutschen Regierung. Es ist aber interessant, daß der Wunsch dieser Länder nach einem Friedensvertrag sich abschwächt, sobald die Lage in Berlin sich verschärft. Auch diese Länder wollen kein Kriegsrisiko eingehen.

SPIEGEL: Alle sehen die Gefahr, die in der Unterzeichnung des Friedensvertrages liegt.

CLAY: Ja. Trotzdem macht sich dieses Drängen sogleich wieder bemerkbar, wenn die Lage sich beruhigt. So haben wir den dauernden Druck auf die Sowjetregierung, nun endlich diesen Friedensvertrag durchzusetzen.

SPIEGEL: In gewisser Weise haben die Russen ihr Wort verpfändet.

CLAY: Sie haben eine gewisse Verpflichtung übernommen. Ich bezweifle aber sehr, daß dieser Friedensvertrag in einer Zeit großer Spannungen unterzeichnet wird. Es ist wahrscheinlicher, daß er in einer verhältnismäßig ruhigen Periode unterzeichnet wird.

SPIEGEL: Dann müßte der Westen also die Spannungen aufrechterhalten?

CLAY: Ja.

SPIEGEL: In Zusammenhang mit diesem Friedensvertrag ist oft von der Möglichkeit gesprochen worden, daß er ein Zusatzprotokoll erhalten wird in bezug auf den freien ...

CLAY: Zugang?

SPIEGEL: ... Zugang nach Westberlin, entsprechend dem früheren Briefwechsel zwischen dem Außenminister Bolz und Sorin*. Glauben Sie, daß die Russen auch

diesmal einen solchen Ausweg wählen werden?

CLAY: Ich bezweifle, daß ein Friedensvertrag unterzeichnet wird, der die bestehenden alliierten Rechte auf freien Zugang nach Westberlin völlig außer acht läßt. Es ist klar, daß ein solcher Vertrag ein großes Risiko heraufbeschwören würde. Außerdem hat die Sowjetregierung diese alliierten Rechte als solche niemals bestritten. Sie meint nur, daß sie das Recht hat, diese Abmachungen auf die ostdeutsche Regierung zu übertragen. Deshalb nehme ich an, daß ein Friedensvertrag Vorkehrungen für den freien Zugang nach Westberlin enthalten wird. Entsprechend diesen Vorkehrungen werden die Westmächte zu entscheiden haben, was sie tun sollen. In diesen Zusammenhang fällt dann auch die Frage, ob es richtig oder falsch sein wird, Westberlin zu einem Teil der Bundesrepublik zu machen. Man kann diese Frage so lange nur spekulativ beantworten, bis man den genauen Inhalt des Friedensvertrages kennt.

SPIEGEL: Aber Sie sind sicher, daß der Westen um den freien Zugang kämpfen wird?

CLAY: Ich bin absolut sicher, daß die Vereinigten Staaten dies tun werden.

SPIEGEL: Das Problem des freien Zugangs bringt ...

CLAY: Entschuldigen Sie mich: Wenn ich gesagt habe, ich sei sicher, daß Amerika kämpfen wird, so wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen, daß ich Zweifel hinsichtlich der anderen Westmächte hätte. Aber im Hinblick auf die Stärkeposition, die wir innerhalb der alliierten Front einnehmen, bin ich der Meinung, es sei die beste Art, Ihre Frage zu beantworten, wenn ich betone, daß Amerika kämpfen wird.

SPIEGEL: Das Problem des freien Zugangs bringt die Ostberliner Regierung ins Spiel. Als Sie noch in Berlin waren, gab es einige Meldungen - wir wissen nicht, ob es sich dabei um ein Mißverständnis oder um eine falsche Wiedergabe gehandelt hat -, daß Sie von der Notwendigkeit gesprochen hätten, die Realität der ostdeutschen Regierung und zweier deutscher Staaten in Betracht zu ziehen.

CLAY: Ich zögere ein wenig, diese Frage zu beantworten, weil jede Antwort notwendigerweise mißverstanden wird. Zwischen einer formalen Anerkennung des ostdeutschen Regimes und zwischen dem eigenen Eingeständnis, daß es dieses Regime gibt, besteht ein großer Unterschied. Die Tatsache, daß auf dem Weg nach und von Westberlin Pässe und Transportpapiere von den Polizisten dieses Regimes geprüft werden, ist schon bis zu einem gewissen Grade ein solches Eingeständnis seiner Existenz. Es ist wahr, daß die Westmächte diese Tatsache nicht akzeptieren und verlangen, daß ihre Papiere und Dokumente von Vertretern der Sowjetregierung geprüft werden. Denn die Vereinbarung über den Zugang der Westmächte nach Westberlin wurde mit der Sowjetregierung getroffen.

SPIEGEL: Aber dies wollen die Russen ja gerade ändern ...

CLAY: ... Ja, und jeder Friedensvertrag, der die Autorität vergrößert, die von den Vertretern des ostdeutschen Regimes ausgeübt wird, zwingt die Westmächte und die Bundesregierung, sorgfältig zu prüfen, was noch hingenommen werden kann, ohne daß es als eine formale Anerkennung erscheint, und mit welchen Vorkehrungen man leben und arbeiten kann. Man kann keine feine Unterscheidungslinie ziehen, bis man die genauen Bedingungen kennt. Dies wollte ich damals sagen, und ich hoffe, daß ich mich diesmal klar ausgedrückt habe.

SPIEGEL: Man muß also irgendeinen Modus vivendi finden. Vor einiger Zeit kam der Gedanke an eine internationale Zugangsbehörde auf, die den freien Zugang nach Westberlin garantieren soll.

CLAY: Es gibt Vorschläge für eine internationale Zugangsbehörde zur Kontrolle des freien Verkehrs auf der Autobahn. Nach meiner Ansicht sollte man diesen Gedanken nicht völlig verwerfen. Wenn diese Zugangsbehörde wirklich den freien Zugang auf den Autobahnen sichern könnte, so wäre dies zweifellos eine Verbesserung gegenüber dem gegenwärtigen Zustand, wo es einen wirklich freien Zugang nur auf dem Luftwege gibt.

SPIEGEL: Die Bundesregierung war nicht sonderlich glücklich über diesen Plan.

CLAY: Was die Einzelheiten angeht und die Frage, ob sie akzeptabel sind oder nicht, so muß dies vor allem von der Bundesrepublik entschieden werden. Die Westmächte können die Bundesregierung zwar drängen, bestimmte Dinge hinzunehmen, aber die letzten Entscheidungen müssen von Bonn getroffen werden.

SPIEGEL: Es gibt Vorschläge, nach denen in einer solchen Zugangsbehörde auch die ostdeutsche Regierung und sogar Vertreter West- und Ostberlins einen Platz finden sollen.

CLAY: Es gibt viele verschiedene Vorschläge. Es gibt den Vorschlag, daß alle unmittelbar beteiligten Parteien vertreten sein sollen. Es gibt weiter den Vorschlag, daß der Behörde nur neutrale Staaten angehören sollen. Aber eins ist sehr wichtig: Wenn diese Frage hochkommt - sei es in einem internationalen Vertrag, oder wenn es einen Friedensvertrag gibt, der die Westmächte und die Bundesrepublik zwingt, ihre Haltung genau zu prüfen -, dann ist es von großer Bedeutung, daß die Gründe, weshalb dieses oder jenes nicht annehmbar sein sollte, von der Bevölkerung in den westlichen Ländern ganz klar verstanden werden.

SPIEGEL: Es gibt auch Vorschläge über die Einrichtung gesamtdeutscher Kommissionen, Sie haben vermutlich davon gehört, daß Bürgermeister Brandt sich kürzlich bemüht hat, durch Gespräche mit Ostberlin zu erreichen, daß die Westberliner Passierscheine bekommen können. Unterstützen Sie Bürgermeister Brandt bei diesen Bemühungen, oder sehen Sie darin eine Gefahr?

CLAY: Es wäre sehr schön, wenn Bürgermeister Brandt Vereinbarungen aushandeln könnte, die es den Berliner Familien ermöglichen würden, einander zu besuchen und wieder zusammenzukommen. Dies ist einfach schon aus humanitären Gründen sehr wünschenswert. Es ist aber ebenso wichtig für Westberlin, die volle Unterstützung der westdeutschen Bevölkerung, einschließlich aller poltischen Parteien, zu behalten. Wenn derartige Verhandlungen in einer Weise geführt werden können, durch die nicht weite Teile Westdeutschlands befremdet werden, und wenn sie erfolgreich sind, dann ist es um so besser. Wenn man jedoch durch derartige Verhandlungen die Unterstützung weiter Teile Westdeutschlands verliert, so wäre dies sehr, sehr schlecht.

SPIEGEL: Glauben Sie, Herr General, daß die Ereignisse des 13. August 1961 durch eine Interimslösung für Berlin hätten verhindert werden können, wie sie 1959 verhandelt wurde?

CLAY: Ich bezweifle das. Ich weiß nur ganz allgemein über jene Verhandlungen Bescheid. Aber nach dem, was ich weiß, gab es niemals irgendeine Hoffnung auf Übereinstimmung während dieser Verhandlungen.

SPIEGEL: Zurückblickend zu jenem schwarzen Tag: Glauben Sie, daß es möglich gewesen wäre, die Mauer mit Hilfe von Panzern niederzureißen?

CLAY: Es wäre möglich gewesen, Löcher in die Mauer zu brechen. Ob dies ohne Schießerei und ohne Krieg abgegangen wäre, ist eine sehr schwierige Frage. Persönlich glaube ich, es hätte getan werden können, ohne daß ein Krieg ausgebrochen wäre. Aber dies hätte niemals unternommen werden sollen, ohne daß alle beteiligten Mächte bereit gewesen wären anzuerkennen, daß sich daran ein großer Krieg entwickeln könnte.

SPIEGEL: Herr General, die Lebensfähigkeit Westberlins spielt weiterhin eine große Rolle. Wir alle wissen und sind Ihnen dafür dankbar, daß Sie sich bemühen, amerikanische Firmen zu ermutigen, in Westberlin zu investieren. Erwarten Sie weitere Schritte in dieser Richtung?

CLAY: Jawohl, wir sind noch an der Arbeit. Ich habe hier vor mir auf meinem Tisch gerade wieder einen Brief einer großen Firma, die interessiert ist und wissen will, welche Vorteile mit einer Verlagerung von Teilen der Produktion nach Westberlin verbunden sind. Es gibt echte Vorteile in der Form von Steuervergünstigungen und so weiter, und ich glaube, daß wir noch mehr Firmen dazu bringen werden. Doch wird dies natürlich nichts Spektakuläres sein.

SPIEGEL: Was kann man noch für die Lebensfähigkeit Westberlins tun?

CLAY: Ich hoffe, daß auch westdeutsche Firmen zunehmend bereit sind, in

Westberlin Filialen aufzumachen. Die Investitionen in Westberlin müssen vornehmlich aus Westdeutschland kommen, und ich hoffe, mehr davon zu sehen. Im übrigen: Die wirtschaftliche Lebensfähigkeit Westberlins wird davon abhängen, ob es attraktiv ist, in Westberlin zu leben.

SPIEGEL: Mit anderen Worten: Die wirtschaftliche Lebensfähigkeit hängt

von der kulturellen und moralischen Lebensfähigkeit ab?

CLAY: Wenn man junge Menschen davon überzeugen kann, daß Westberlin ein Ort ist, an dem es sich zu leben lohnt, dann wird mit diesen jungen Menschen auch die Industrie kommen. Westberlin muß seine Anziehungskraft behalten.

SPIEGEL: Wie die menschliche Natur nun einmal ist, hängt dies mit davon ab, ob man dem Sicherheitsbedürfnis Rechnung tragen kann. Uns erscheint es sehr wichtig, das Sicherheitsgefühl der Westberliner zu erhöhen. Vor einigen Wochen wurde davon gesprochen, daß die Vereinten Nationen in die Berlin-Frage eingeschaltet werden sollen. Was halten Sie davon?

CLAY: Ich würde nur einige Einrichtungen der Vereinten Nationen gerne in Berlin sehen, weil dies die Stadt interessanter machen würde. Ich sehe aber nicht, wie die Vereinten Nationen eine unmittelbare Verantwortung in Westberlin übernehmen könnten. Ich glaube nicht, daß die Westberliner Bevölkerung darin eine Verbesserung ihrer Sicherheit sehen würde. Die Berliner fühlen sich nur so lange sicher, wie die amerikanischen, englischen und französischen Truppen da sind.

SPIEGEL: Sie würden also einen Wachwechsel nicht befürworten?

CLAY: Nein, und ich glaube auch nicht, daß die Westberliner dies gern hätten.

SPIEGEL: Wenn Sie auf Ihre Rolle in der Nachkriegsgeschichte zurückblicken, was war nach Ihrer Meinung der größte Irrtum der westlichen Deutschlandpolitik, und was war ihr größter Erfolg?

CLAY: Der größte Irrtum wurde noch während des Krieges begangen. Er lag in den Vereinbarungen über die Grenzen der Besatzungszonen, hinter die wir uns zurückziehen sollten, sobald der Krieg beendet war. Dies führte zur Errichtung des Viermächte-Kontrollrats in der Exklave Berlin, zu der die Westmächte nur einen begrenzten Zugang erhielten, und von hierher rühren unsere größten Schwierigkeiten. In jener ersten Zeit, als wir uns bemühten, die Viermächte-Verwaltung in Gang zu bringen, war es sehr schwierig, die deutsche Wirtschaft wiederzubeleben. Dies gelang erst, nachdem zuerst die Vereinigten Staaten und später alle drei Westmächte innerhalb ihrer Zonen die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung übernahmen. Die sofortige Verbesserung war fast unglaublich. Deshalb würde ich sagen, daß, soweit es Deutschland betrifft, unser Grundkonzept der größte Irrtum war. Ich bin aber nicht sicher, ob es nicht, im Hinblick auf die Weltgeschichte, wert war, mit diesem Konzept wenigstens einen Versuch zu machen. Wenn es gelungen wäre, die Viermächte-Verwaltung arbeitsfähig zu machen, in Zusammenarbeit mit der Sowjetregierung, dann wäre der Kalte Krieg verhindert worden. Die Erfolgchance war natürlich sehr klein. Doch war es die Hoffnung, dies zu erreichen, die zu dieser Viermächte-Vereinbarung geführt hat.

SPIEGEL: Was war der Grund dafür, daß die Russen dieses Konzept zum Scheitern brachten?

CLAY: Es waren zwei Gründe: Erstens ihre Schwäche in jenen Jahren, ihre wirtschaftliche Schwäche. Sie wollten diese Schwäche nicht eingestehen, sondern die osteuropäische Wirtschaft konsolidieren, um daraus für ihre eigene Wirtschaft Nutzen zu ziehen. Dies war den Russen vielleicht am Anfang selbst nicht ganz klar, aber es wurde ihnen immer klarer im Laufe der Zeit. Der zweite Grund war, daß die Russen annahmen, und auch andere glaubten daran, die Vereinigten Staaten seien an Europa nicht wirklich interessiert und würden nicht lange bleiben. Die Russen meinten, sie könnten nach einem Abzug Amerikas dieses Europa so organisieren, wie sie es gerne wollten.

SPIEGEL: General de Gaulle denkt heute noch so.

CLAY: Wenn irgend jemand seine Bereitschaft demonstriert hat, sich für Europa einzusetzen, dann die Vereinigten Staaten. Ich wüßte nicht, was wir noch mehr tun könnten, um die Ernsthaftigkeit unserer Absichten zu beweisen. Die Russen hatten damals aber einigen Anlaß, einen Abzug Amerikas in Rechnung zu stellen. Wir zogen den größten Teil unserer Truppen zurück, wir demobilisierten den größten Teil unserer Armee. Dies war natürlich kein Beweis für unser Interesse an Europa.

SPIEGEL: Und was war der größte Erfolg?

CLAY: Ich glaube nicht, daß ich diese Frage hinreichend beantworten kann. Mir erscheint als größter Erfolg, daß es so kurz nach dem Kriege schon möglich war, deutsche Männer zu finden, die ein Grundgesetz, eine Verfassung niederschrieben, sie in Kraft setzten und ihr zum Erfolg verhalfen. Ob dies nun wegen oder trotz unserer Rolle in Deutschland gelang, kann ich nicht sagen. Aber die Bildung einer deutschen Regierung, die immer noch besteht, war eine bemerkenswerte Leistung.

SPIEGEL: Uns scheint, daß Sie zu bescheiden sind. Der größte Erfolg war vielleicht, daß es gelang, die Berliner Blockade von 1948 zu brechen, und dafür haben Sie vor allem die Verantwortung. In diesem Zusammenhang eine Frage: Hielten Sie zu jenem Zeitpunkt die Kriegsgefahr für groß?

CLAY: Einige Monate bevor die Blockade begann, hatte ich den Eindruck, daß die sowjetische Haltung sich grundsätzlich geändert habe, und zwar in Richtung auf eine aggressive Haltung. Ich berichtete an meine Regierung, es gebe Anzeichen dafür, daß sich irgend etwas zusammenbraue und daß dies sogar Krieg bedeuten könne. Als nun die Blockade verhängt wurde, erkannte ich: Dies ist es, was sie im Sinne hatten. Und nach der Art, in der die Blockade begann, war ich ganz sicher, daß die Russen keinen Krieg wollten. Deshalb erwartete ich während der Blockadezeit niemals, daß sich ein Krieg entwickeln würde. Zwar hatten wir in jenen Jahren nur sehr wenige Erdtruppen, so daß wir keinen konventionellen Widerstand leisten konnten, aber wir allein hatten die Atombombe.

SPIEGEL: Und deshalb waren Sie der Meinung, daß der Westen den Versuch hätte machen sollen, die Blockade zu durchbrechen?

CLAY: Ich schlug vor, die Blockade auf dem Landweg zu durchbrechen, aber nur, wenn wir bereit wären, auch zu schießen, sobald wir gestoppt würden. Dies bedeutete natürlich, daß wir mit dem Schießen hätten anfangen müssen, während in der Luft die Sowjetregierung die Offensive hätte beginnen müssen. Dies war der große Vorteil der Luftbrücke.

SPIEGEL: Es wäre die gleiche Situation, wenn es zu einer neuen Blockade kommen sollte.

CLAY: Mit folgendem Unterschied: Wenn wir heute Westberlin über einen längeren Zeitraum auf dem Luftwege versorgen müßten, so würden unsere Ziele, für die wir in Berlin sind, vereitelt werden. Denn das heutige Berlin hat einen wesentlich größeren Bedarf als das Berlin von 1948. Für einen kurzen Zeitraum dagegen, währenddessen man andere Maßnahmen erwägt, würde eine neue Luftbrücke durchaus möglich sein und gar keine Schwierigkeiten bereiten.

SPIEGEL: Fühlen Sie sich immer noch mit Berlin verbunden, und sind Sie immer noch mit Berlin befaßt?

CLAY: Ich werde immer mit Berlin verbunden bleiben. Ich werde die Stadt von Zeit zu Zeit besuchen, ich werde mich informiert halten und in Verbindung bleiben mit dem Magistrat. Selbstverständlich wurde ich seit meiner Rückkehr von meiner Regierung mehrfach zu den Beratungen über Berlin hinzugezogen, und ich nehme an, daß dies wieder geschehen wird, sobald die Situation es erfordert. Doch ist die Lage in Berlin gegenwärtig ziemlich ruhig, so daß es während der letzten Monate nur wenige Beratungen gegeben hat, an denen ich teilnahm. Aber mein Interesse und meine Verbundenheit mit Berlin sind so stark wie eh und je. Und dies wird andauern bis zu meinem Tode.

SPIEGEL: Herr General, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Am 20. September 1955 wurde in Moskau zwischen der Sowjet-Union und der DDR ein Staatsvertrag unterzeichnet, in dem der Sowjetzone die formale Souveränität zuerkannt wurde. Als Anhang zu diesem Staatsvertrag folgte ein Briefwechsel zwischen DDR-Außenminister Lothar Bolz und dem stellvertretenden sowjetischen Außenminister Walerian Sorin. Darin wurde festgelegt, daß die Kontrolle des Militärverkehrs der drei Westmächte von und nach Westberlin weiterhin bis zur Vereinbarung eines ansprechenden Abkommens vom Kommando der Gruppe der sowjetischen Truppen in Deutschland ausgeübt« wird.

Clay (l.) beim SPIEGEL-Gespräch* im Büro der »Continental Can« (New York)

Konventionelle Verteidigung

Durch einen unglücklichen Zufall ...

Vier Mann und ein Jeep

Risiko-Entlüftung

... und hier trag' ich meinen Clay ...«

Mauer-Späher Clay

»Bis zu meinem Tode«

* Mit SPIEGEL-Redakteur Conrad Ahlers.

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