Sowjetunion Beherrsche den Osten
Die Entscheidung war knapp, aber eindeutig. Mit Mehrheit sprach sich der Stadtsowjet der russischen Gebietshauptstadt Gorki (über eine Million Einwohner) dafür aus, seiner Gemeinde den altehrwürdigen Namen Nischnij Nowgorod zurückzugeben. Bei einer von der Moskauer Presse veranstalteten Volksbefragung hatten sich fast 90 Prozent der Bürger für die Tradition entschieden: »Nowgorod ist besser als Gorki!«
In der Siedlung Nischnij Nowgorod, im 13. Jahrhundert an der Mündung der Oka in die Wolga gegründet, trafen sich vor hundert Jahren die Kaufleute zur größten Messe Europas. Auf Order Stalins wurde der historische Ort 1932 in Gorki umbenannt, nach dem Pseudonym des Literaturklassikers Maxim Gorki (Der Bittere), der 1868 als Alexej Maximowitsch Peschkow in Nischnij Nowgorod geboren wurde. Der Lenin-Gegner von 1917 erlag 1928 Stalins Lockungen, kehrte aus dem Exil in seine Heimat zurück und warb für Stalin.
Die Umbenennung, so die Konservativen, werde die Stadt zwischen 50 und 60 Millionen Rubel kosten, vernünftiger sei es, dieses Geld für den Bau eines neuen Wohnviertels auszugeben. Die Moskauer Nachrichten, als Glasnost-Blatt auf seiten der Umbenenner, rechnete nach: Die Aktion könnte nur ungefähr 500 000 Rubel kosten.
Entschieden ist die Abwahl von Gorki aber noch immer nicht, obwohl ein Stück der zentralen Moskauer Gorkistraße schon wieder wie früher Twerskaja heißt - Ausfallstraße nach der Stadt Twer, die zwischendurch den Namen des einflußlosen Staatsoberhaupts Michail Kalinin (1919 bis 1946) tragen mußte.
Der Wunsch nach Umbenennung muß einem »Rat für Toponomie« eingereicht werden, den der Sprachwissenschaftler Dmitrij Lichatschow, 84, anführt und dem auch die nationalkonservativen Schriftsteller Wiktor Astafjew und Walentin Rasputin angehören. Dieser Ausschuß für Umbenennung, 1988 gegründet, untersteht dem Sowjetischen Kulturfonds, in dessen Präsidium die Frau des Staatspräsidenten, Raissa Gorbatschowa, aktiv ist. Der Fonds wiederum muß die Zustimmung von Regierung und Oberstem Sowjet einholen.
Das alles kann beim Tempo sowjetischer Bürokratie, der die Perestroika noch nicht viel anhaben konnte, dauern - was auch Leningrad, einst Rußlands Hauptstadt, erfahren mußte. Schon seit fünf Jahren kämpfen Bürgerinitiativen und Künstler-Komitees vergebens dafür, den Namen des langsam selbst in Verruf geratenden Staatsgründers Wladimir Iljitsch Lenin wieder loszuwerden. Die 1703 von Peter dem Großen in die Sümpfe gebaute Hafenstadt trug anfangs den Namen ihres Gründers: St. Peterburg, und das sogar auf deutsch, als Anerkennung für die deutschen und holländischen Entwicklungshelfer.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 war die Sprache des Feindes nicht mehr opportun; die Stadt hieß nun Petrograd. Revolutionär Lenin ließ dort im Oktober 1917 seine Roten Garden das Winterpalais besetzten und brachte die Partei der Bolschewiki an die Macht. So war es logisch, daß die »Wiege der Revolution« nach Lenins Tod 1924 auch den Namen des Umstürzlers erhielt.
Die Umtaufe von Städten, aber auch Straßen, Universitäten, Schulen, Fabriken, Kolchosen und Metrostationen ist unter Gorbatschow in der UdSSR schier zu einem Volkssport geworden.
»Ich möchte durch den Namen meiner Stadt nicht ständig daran erinnert
werden, daß dieser Verbrecher als Stalins Werkzeug Ende der dreißiger Jahre unsere Armeeführung umgebracht und damit den Überfall Hitlers erst möglich gemacht hat«, schrieb ein Leser aus Woroschilowgrad jüngst an die Parteizeitung Prawda.
Die Stadt, die schon wieder Lugansk heißt, bekam ihren Namen in den dreißiger Jahren nach dem Marschall und späteren Staatschef Kliment Woroschilow, der als Verteidigungskommissar in den Schreckensjahren 1937/38 die sowjetische Generalität von angeblichen Staatsfeinden gesäubert hatte.
Die Kommunisten hatten ihre Beute (nach Lenins Tod) zuhauf umgetauft. So nahmen sie dem nach Zarin Katharina der Großen benannten Jekaterinburg im Ural, wo 1918 die gesamte Zarenfamilie ermordet wurde, 1924 den höfischen Namen und nannten es Swerdlowsk nach dem 1919 verstorbenen ZK-Sekretär Jakow Swerdlow.
Aus Zarizyn an der Wolga wurde Stalingrad, aus dem mittelasiatischen Pischpek die Stadt Frunse. Den Namen lieh ein geborener Rumäne, der bei den Bolschewiken Kriegsminister war.
Die größte Welle von Umbenennungen - über 5000 - standen im Zeichen von Stalins Personenkult. Mehr als 200 Städte und Dörfer bekamen den Namen des Diktators verpaßt, 140 Orte den Namen Kirow, des 1934 ermordeten Leningrader Parteichefs, dessen Tod Stalins Säuberungen einleitete.
Gefragt wurde niemand, am wenigsten die Bürger vor Ort. Die lokalen Behörden mußten zudem die Kosten der Umbenennungen bezahlen, vom veränderten Ortsschild bis zum neuen Briefpapier für alle Ämter.
Stalins Säuberungswellen in den späten dreißiger Jahren machten den Namenstausch zum absurden Wechselspiel. Die geplagten Stadtväter konnten dem Tempo, in dem Helden zu Delinquenten und Unpersonen wurden, kaum noch folgen. Beispiel: Jelisawetgrad, nach der Tochter Elisabeth des Zaren Peter I. benannt, wurde 1924 zu Sinowjewsk. Grigorij Sinowjew war damals Petrograder Parteichef und Generalsekretär der Komintern.
Aber zehn Jahre später wurde dieser Stalin-Feind des Mordes an seinem Nachfolger Sergej Kirow beschuldigt und erschossen. Fortan hieß die Stadt Kirowo und mußte 1939 noch einmal in Kirowograd umgetauft werden, weil es schon zu viele Kirowo gab.
Noch größeres Pech hatte der Weiler Batalpaschin im Nordkaukasus, der zur Region Stawropol gehört, der Heimat Gorbatschows. Diese Siedlung änderte seit Mitte der zwanziger Jahre aus politischen Gründen sechsmal ihren Namen.
Als 1956 Parteichef Nikita Chruschtschow dem Stalin-Kult ein Ende machte, schaffte er auch den Parteibrauch ab, Städte nach verstorbenen Spitzengenossen zu benennen.
Meist bekamen die Kommunen auf Antrag ihre alten Namen zurück. Nur bei Stalingrad, dem historischen Schlachtfeld, das die Wende des Zweiten Weltkrieges markiert und unter diesem Namen in allen Geschichtsbüchern wie in der Bezeichnung einer Pariser Metrostation weiterlebt, widersetzte sich Chruschtschow: Er gab der neuaufgebauten Wolgastadt den neuen Namen Wolgograd.
Kaliningrad, wie das ostpreußische Königsberg seit 1946 nach dem vielgerühmten Stalinisten Michail Kalinin heißt, behielt aus Furcht vor einem falschen außenpolitischen Signal seinen Namen. Lenin-Namen wurden ohnehin nicht geändert.
Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnew sowie dessen Interimserben Konstantin Tschernenko und Jurij Andropow nahmen den fatalen Brauch wieder auf, verstorbenen Apparatschiks topographische Denkmäler zu setzen.
Die wurden erst zu Zeiten von Gorbatschow geschleift - und noch längst sind nicht alle beseitigt. Aus Breschnew, der Lkw-Schmiede an der Kama, ist immerhin wieder die Stadt mit dem romantischen, wenn auch schwer aussprechlichen Namen Nabereschnyje Tschelny (Kähne am Ufer) geworden. Andropow an der Wolga heißt wieder Rybinsk, und Tschernenko, ein kleines Nest in Sibirien sowie ein Landkreis in der Moldau-Republik, haben ihre alten Flurnamen wieder.
Ein Kuriosum besonderer Art ist die Klosterstadt Sagorsk nördlich von Moskau. Für Millionen russischer Pilger, aber auch für Tausende von westlichen Touristen ist sie unter diesem Namen Inbegriff russisch-orthodoxer Frömmigkeit. Dabei trägt diese heilige Stadt auf Befehl Stalins seit 1930 den Namen eines jungen Revolutionärs, der 1919 das Opfer eines Attentats wurde: Wladimir M. Sagorski.
Die mehrfache Intervention des Moskauer Patriarchen, dem Kloster seinen alten Namen zurückzugeben, hat im veränderten politischen Klima mehr Chancen denn je. So dürfte Sagorsk bald wieder Sergijew Possad heißen, benannt nach einem Bojarensohn aus dem 14. Jahrhundert, der wacker, aber erfolglos gegen die Mongolen focht und dafür heiliggesprochen wurde.
Die jüngste Welle der Städte-Umbenennungen hat mit dem wiedererwachten Nationalismus zu tun und mit der Sprachenvielfalt der sowjetischen Völker. Nicht immer ist die nationale Korrektur so leicht wie in der estnischen Hauptstadt Tallinn (früher: Reval), wo nationalbewußte Esten der russischen Schreibweise ihrer Hauptstadt einfach das traditionelle zweite »n« der Landessprache wieder angehängt haben.
Kirowabad, das alte Zentrum von Berg-Karabach, heißt wieder, wie vor der russischen Eroberung, Gjandscha. Die heutige Karabach-Hauptstadt Stepanakert, nach dem roten Kommissar Stepan Schaumjan benannt, der 1918 von den Briten erschossen wurde, soll wieder Chankendy heißen.
Auch die Kaliningrader möchten sich nun ihres stalinistischen Namens entledigen. Nationalisten plädieren für »Baltimorsk« (Ostseestadt), nach Westen orientierte Einwohner für »Kant« oder »Kantstadt« nach ihrem berühmtesten Bürger aus der Vergangenheit oder gleich für »Königsberg«. Ein Referendum soll entscheiden.
Die Hauptstadt der Osseten-Minderheit im Kaukasus-Vorland hieß nach dem bolschewistischen Eroberer der anschließenden Gebiete Ordschonikidse. Sie bekam ihren imperialistischen Zaren-Namen zurück: Wladikawkas, zu deutsch, im Imperativ, »Beherrsche den Kaukasus«.
Es ist das Gegenstück zum fernöstlichen Wladiwostok, das seinen zaristischen Geburtsnamen auch unter den Kommunisten behielt: »Beherrsche den Osten«. o