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Belgrad: Der Wolf will Rotkäppchen schützen

Der sowjetische KP-Chef Breschnew nutzte bei seinem Belgrad-Besuch die politische Gunst der Stunde: Unwidersprochen diente er dem um sein Erbe besorgten Präsidenten Tito die Sowjet-Union als Ordnungsmacht in einer möglichen Balkankrise an -- nachdem der künftige US-Präsident Carter auf diese Rolle verzichtet hatte.
aus DER SPIEGEL 48/1976

Schon auf der Terrasse zum Belgrader Weißen Schloß, in dem Marschall Tito, 84, einen Teil seiner letzten Jahre verbringt, überfiel Marschall Breschnew, 69, die Lust zu Späßen.

Titos Leibgarde feuerte zu Ehren des Genossen aus Moskau Salutschüsse ab. Da zuckte der Gast in gespieltem Entsetzen zusammen: So komisch bezeugte er seinen Respekt vor einer kleinen Balkanarmee, die von sich selbst behauptet, einer Weltmacht widerstehen zu können.

Beim ersten Abendessen scherzte er weiter: Die »gemeinsamen Feinde« seien Märchenerzähler, wenn sie »Jugoslawien als ein armes, hilfloses Rotkäppchen darstellen, das vom blutrünstigen Wolf, der Sowjet-Union, zerrissen und verschlungen werden soll«.

Der Kreml-Herr spielte dabei auf Äußerungen des künftigen US-Präsidenten Carter an, der erklärt hatte, den Jugoslawen nicht zur Hilfe zu kommen, wenn die Sowjet-Union es angreife. Für ihn, so Breschnew jetzt, sei »die

* Am 15. November bei der Begrüßung vor dem Regierungspalast in Belgrad.

absolute Nichteinmischung die Grundlage der Freundschaft zu Jugoslawien«.

Der Autor dieser Version des »proletarischen Internationalismus« -- nach der ein vom Weg abgekommener Bruderstaat notfalls mit Panzerhilfe zur Räson gebracht werden muß -- zeigte sich als guter Onkel: Im »Park der Freundschaft« vor dem jugoslawischen ZK-Gebäude pflanzte er eine russische Birke.

Dem jugoslawischen Kollegen Tito versprach Breschnew ein von sowjetischer Einmischung unangefochtenes Lebensende und stellte in Aussicht, daß bei Gefahr für Titos Lebenswerk -- den sozialistischen Einheitsstaat Jugoslawien -- die sowjetische Ordnungsmacht Bruderhilfe leiste.

Schon bei Breschnews vorigem Besuch, vor fünf Jahren, hatte Tito sich zum Prinzip des »sozialistischen Internationalismus« bekannt -- jetzt umschrieben die beiden Marschälle dieses Interventionsprinzip im Kommuniqué als »internationale kameradschaftliche freiwillige Zusammenarbeit«.

Was darunter zu verstehen ist, zeigte Tito in der Vergangenheit. 1955 hatte Chruschtschow den von Stalin verhängten Bann über Tito wieder aufgehoben. Kaum war dieses Zugeständnis der Nichteinmischung zur Basis der sowjetisch-jugoslawischen Freundschaft erhoben worden, billigte Tito 1956 das Moskauer Eingreifen im benachbarten Ungarn: »Obgleich wir gegen die Einmischung in die inneren Verhältnisse eines Landes sind, halten wir die sowjetische Intervention für notwendig, wenn sie hilft, den Sozialismus zu retten«, sagte Tito damals in vertraulichem Kreis.

Zwanzig Jahre wurde diese Geheimrede unter Verschluß gehalten; erst vor Breschnews diesjährigem Belgrad-Besuch ließ Tito sie in einem Buch über sein »Historisches Nein zum Stalinismus« publizieren -- offenbar als Rezept für seine Nachfolger. Breschnews Intervention in der CSSR wird mit keinem Wort mehr erwähnt.

Im Geiste des Internationalismus erlaubte Tito den Sowjets während der Nahost- und der Angola-Krise die militärische Benutzung seines Territoriums als Flug- und Waffenumschlagplatz. Gleichzeitig wurde ihnen gestattet, bis zu fünf Kriegsschiffe in jugoslawischen Häfen zu stationieren: zur Verproviantierung und Überholung, die monatelang dauern darf.

Anton Suran, Ex-Partisan und heute Direktor einer bis dahin defizitären Jugo-Werft: »Seit wir mit den Sowjets den ersten Vertrag über Schiffsreparaturen abgeschlossen haben, hat sich unsere Situation jäh verbessert.«

Unter Breschnew wurde die Sowjet-Union wichtigster Handelspartner Jugoslawiens: Bis 1980 soll der Warenaustausch auf 14 Milliarden Dollar gesteigert werden. Dann wird Jugoslawien von der UdSSR wirtschaftlich abhängiger als die DDR, die ihre Waren auch auf West-Märkten loswird.

Schon 1975 verzeichneten Jugoslawiens Hotels über eine halbe Million Übernachtungen von Sowjetbürgern. Seit West-Touristen rarer werden, interessiert man sich in Belgrad für den »potentiell größten touristischen Markt unter den osteuropäischen sozialistischen Ländern«, so das Parteiblatt »Borba«.

Nach Breschnews Belgrad-Besuch 1971 begann Tito mit der größten »Säuberung« des Staats- und Parteiapparates seit 1949 (als es noch gegen die Freunde Moskaus gegangen war). Liberalkommunisten aus Serbien unter Vizepräsident General Popovic wurden gefeuert. Intern erläuterte Tito, Breschnew habe die Einhaltung des Prinzips der absoluten Nichteinmischung von der Entfernung aller »liberalistischen« Elemente abhängig gemacht.

Auch diesmal fehlten am Belgrader Verhandlungstisch die 1971 noch gerade davongekommenen Vertreter aus Kroatien, an der Spitze der gemäßigte Dr. Vladimir Bakaric: vermutlich ein Anzeichen dafür, daß Titos Moskaufreundlicher Kurs nicht von allen Genossen geteilt wird.

Als der künftige US-Präsident Carter dem Tito-Staat für den Fall einer Sowjet-Intervention jegliche US-Hilfe im voraus verweigerte, war dies möglicherweise nicht nur ein Fehltritt des außenpolitischen Neulings. Breschnew vorige Woche über seine Kontakte: »Unsere Beziehungen sind weitaus besser, als allgemein angenommen wird.«

Zwar verlieh Tito seinem Alliierten Breschnew nicht den höchsten Zivilorden, den »Großen Stern von Jugoslawien«, weil der nur für Staatschefs (bisher rund 80) vorgesehen ist. Der Sowjet-Marschall erhielt, viel treffender, den »Orden der Freiheit«, den in Jugoslawien außer Tito selbst nur vier Generale tragen. Nur ein Ausländer bekam bislang Titos Freiheitsorden: Sowjet-Marschall Schukow bei seinem Jugoslawien-Besuch im Oktober 1957.

Er brachte ihm wenig Glück: Gleich nach seiner Rückkehr nach Moskau wurde Schukow gestürzt.

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