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»Belle Glade leidet unter einem Stigma«

SPIEGEL-Redakteur Rainer Paul über die »Aids-Welthauptstadt« in Florida *
Von Rainer Paul
aus DER SPIEGEL 6/1987

Im flachen Hinterland, nur 65 Kilometer von den Palmenpromenaden und Polofeldern, den Deco-Hotels und Boutiquen des Badeortes Palm Beach entfernt, schimmert das Wasser des 1800 Quadratkilometer großen Lake Okeechobee. Ohne dieses gewaltige Trinkwasserreservoir würden die Touristenhochburgen und die Ansiedlungen Südostfloridas austrocknen.

An der Südostspitze des Sees liegt, inmitten weitflächiger Zuckerrohrfelder Sellerie- und Tomatenplantagen, die laut Ortsschild »Wintergemüse-Hauptstadt der Welt« - Belle Glade, eine Gemeinde von 17000 Einwohnern.

Seit gut anderthalb Jahren hat Belle Glade einen schlechten Ruf. Darunter leidet der Ort »wie unter einem Stigma«, sagt Belle-Glade-Bürgermeister Thomas Altman; denn: »Wir wurden zur Welthauptstadt der Aids-Erkrankungen erhoben.«

Ort und Zeit der Beförderung: Atlanta im April 1985. 2000 Wissenschaftler, Gesundheitsbeamte und Vertreter von Homosexuellen-Organisationen aus aller Welt waren in die Metropole des Südstaates Georgia gekommen. Virusforscher und Seuchenexperten hatten auf dem bis dahin größten Aids-Kongreß eine Fülle von Einzelerkenntnissen zur Diskussion gestellt.

Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Schaubild, dessen Autoren nicht einmal auf der Rednerliste standen. Die Ärzte Caroline MacLeod und Mark Whiteside vom Institute of Tropical Medicine in North Miami Beach hatten einen Stadtplan von Belle Glade an eine der Pinnwände in der Wandelhalle des Kongreßzentrums geheftet. Erläuternde Photos, Statistiken und Graphiken illustrierten den Fortschritt der Aids-Seuche.

Die von den beiden Tropenmedizinern präsentierte Belle-Glade-Karte zeigte 37 weiße Sternchen auf rotem Grund. Jedes von ihnen stand für einen Aids-Kranken. Daraus ergab sich die Erkenntnis, daß in der abgeschiedenen Kommune die verheerende Immunschwäche mehr als zweimal häufiger war als sogar in den amerikanischen Aids-Hochburgen New York und San Francisco.

»Hysterie packte die Stadt«, erinnert sich Bürgermeister Altman, der im Hauptberuf für die Maklerfirma E. F. Hutton Wertpapiere handelt. Von der Aids-Durchseuchung der Stadt hatte Altman aus der Zeitung erfahren, die Folgen erlebte er in eigener Anschauung.

»Geschäftsleute, die in Belle Glade investieren wollten«, so Altman, »zogen ihre Pläne, dringend benötigte Fachkräfte ihre Bewerbungen zurück. Reisende wurden gesichtet, die hinter hochgekurbelten Autofenstern Schutzmasken aufgesetzt hatten, als führen sie durch einen OP-Saal in freier Natur.«

Und dann folgten die Abgesandten der Medien jener Spur, die von den beiden Tropenmedizinern gelegt worden war. Sie führte in ein Wohngebiet von Belle Glade, in das die Personalplaner des Washingtoner Außenministeriums Kandidaten für den Botschaftsdienst in unterentwickelten Ländern gelegentlich zum Anschauungsunterricht schicken - in einen »Slum der Weltklasse« (Whiteside).

Das Viertel, das durch die Avenues B und E und die in südwestlicher Richtung

verlaufenden Fünfte und Zehnte Straße begrenzt wird, heißt wegen seiner nichtweißen Bewohner bei den Weißen von Belle Glade »Colored Town«.

Bei näherem Hinsehen fällt auf, daß seine Holzhäuser oft windschief sind, ihre Stelzen im sumpfigen Grund stehen. Toilettenhäuschen können nur über schwingende Bretterplanken erreicht werden, im Spülstein auf dem Balkon wird mal ein Kind gewaschen, mal Geschirr gespült. Speisereste häufen sich unter den Balkonen im Matsch. Zwischen Hausmüll und Autoreifen spielen Kinder, tollen Katzen und Ratten, liegen zerbrochene Injektionsspritzen ohne Nadeln vor überquellenden Müllcontainern.

7207 Menschen, so das Ergebnis der Volkszählung aus dem Jahre 1980, leben in »Colored Town«. Viele der Einwohner hausen in sogenannten Apartments in denen die sogenannte Privatsphäre durch Decken und Laken hergestellt wird, die über Stricken hängen.

Die Menschen, die »hier unter Dritte-Welt-Bedingungen leben und horrende Mieten - bis zu 100 Dollar monatlich - zahlen, sind arm, ehrlich und arbeiten hart«, sagt Mediziner Whiteside.

Hart arbeiten sie vor allem in der Erntesaison zwischen Oktober und März. Was sie den Rest des Jahres tun, beschreibt Jeffrey Sachs, beamteter Seuchenexperte des Staates Florida: »Wenn man in einem beengten, verarmten Gebiet wie Belle Glade wohnt, ist eine der Hauptfreizeitbeschäftigungen Sex. Hier haben wir klare Beweise, daß eine Reihe heterosexueller Männer häufigen Kontakt mit Prostituierten hatten.«

Lilly, 34, ging einige Jahre auf den Strich. Sie trägt ein weißes, enggewirktes Strickkleid aus Baumwolle mit Schlitz. »Ich mach das nicht mehr«, sagt sie, und: »Ich schieße auch nicht mehr«, versichert sie im Hinblick auf ihre Drogensucht.

Tropenmediziner Whiteside, der in der städtischen ambulanten Klinik zweimal monatlich einen Aids-Sprechtag abhält, glaubt, daß Lilly die Wahrheit sagt. Im vergangenen Jahr hatte er sie als Aids-Virus-Trägerin diagnostiziert.

Lilly gilt zudem als beispielhafter Fall für eine These, mit der Whiteside und Caroline MacLeod monatelang für Aufregung unter den Aids-Forschern gesorgt haben. Lillys blauschwarze Haut ist übersät mit den Einstichen von Moskitos. Es sind diese tropischen Mücken die sich in der schwülheißen »Colored Town« - und ebenso auf den Feldern - hervorragend vermehren können. Den Insekten sprechen Whiteside und seine Mitforscherin eine Mittlerrolle bei der Verbreitung von Aids in Gegenden mit tropischem Klima zu.

Zwar behauptet Whiteside nicht mit Mückenstichen werde das Aids-Virus direkt von einem Aids-Kranken auf einen Gesunden übertragen.

Wohl aber geht der Mediziner aus Miami davon aus, daß die Bewohner des Moskito-Viertels von Belle Glade praktisch fortwährend mit Viren infiziert werden. Erreger, die zu charakteristischen Tropenkrankheiten führen können seien so etwas wie Co-Faktoren, so Whiteside. Sie schüfen ideale Voraussetzungen für Aids-Viren.

Tatsächlich hatte Whiteside im Blut Aids-Kranker von Belle Glade zusätzlich zu den HIV-Antikörpern auch andere Antikörper entdeckt. Sie weisen auf eine Reihe tropischer Virus-Erkrankungen hin, beispielsweise Dengue-Fieber.

Mit Skepsis nahm die Internationale der Aids-Forscher den ersten, mit wissenschaftlichen Fakten halbwegs abgesicherten Hinweis auf eine mögliche Verbindung zwischen der Aids-Übertragung und Umweltbedingungen entgegen. Aufgeschreckt von sensationellen Schlagzeilen und düsteren TV-Bildern und angesichts der unheilbaren Krankheit verpflichtet, »jeden Stein umzudrehen« wenn auch eine nur geringe Möglichkeit zum Fortschritt bestehe, so der amerikanische Aids-Forscher Spencer Lieb, ging die US-Seuchenbehörde CDC dem Whiteside-Verdacht nach.

CDC-Forscher rückten mit Wohnmobilen in »Colored Town« ein. Sie blieben 15 Monate, untersuchten jeden Bewohner, befragten ihn nach sexuellen Gewohnheiten und Techniken, machten Homosexuelle ausfindig und Drogenkonsumenten. Wichtigstes Einzelresultat: Moskitos übertragen nicht das Aids-Virus, Tropenkrankheiten sind kein Co-Faktor bei der Ausbreitung der Seuche.

Der Belle-Glade-Report bestätigte, daß die Gemeinde am Lake Okeechobee in der amerikanischen Aids-Szene tatsachlich eine Ausnahmestellung einnimmt.

Während im nationalen Durchschnitt knapp drei Viertel der Aids-Kranken zur Risikogruppe der homo- und bisexuellen Männer zählt, beträgt deren Anteil in Belle Glade nur knapp 13 Prozent. Und während etwa jeder dritte Aids-Kranke von Belle Glade sich das Virus wahrscheinlich per Drogennadel eingefangen hat, liegt die Vergleichszahl bei nur 16,8 Prozent.

Völlig neben dem Aids-Trend aber liegt das Report-Ergebnis in der Gruppe der Aids-Kranken, die sich mit dem HIV-Erreger wohl beim normalen Geschlechtsverkehr infiziert haben. Der Anteil der »praktizierenden Heterosexuellen« mit Aids an der Gesamtzahl der mit Aids Infizierten liegt im US-Durchschnitt bei 3,7, in Belle Glade aber bei 34,2 Prozent.

Das unerwartete Ergebnis aus der Florida-Kleinstadt beweist, kommentierte das Ärzteblatt »Medical Tribune«, »Aids ist keine Schwulen-Seuche mehr«, und: »Es geht erst jetzt allmählich richtig los mit der Aids-Verbreitung bei jenen, die keiner der bekannten Hauptrisikogruppen angehören.«

Bürgermeister Altman war »erleichtert«, als er die CDC-Meldung las. »Unser Stigma schwindet. Die Medien haben an Belle Glade das Interesse verloren«, befand er und gab sich optimistisch: »Das Aids-Problem verkleinert sich, die Leute sterben weg.«

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