Bergauf
Sechzehn Tage nach seinem 65. Geburtstag erschien Kanzler Kiesinger die Vision eines gesegneten Alters: Er sah sich als zweiten Konrad Adenauer. Auf dem offiziellen Geburtstagsempfang im Palais Schaumburg am letzten Dienstag stimmte Kiesinger seine Zuhörer zunächst melancholisch ein: »Wenn man 65 ist, dann wird es kritisch. Ich sehe jetzt immer mehr Leute links und rechts abtreten.« Doch dann entwickelte Kiesinger Perspektiven für die siebziger Jahre und rief den ersten Bonner Kanzler zum Kronzeugen an: »Adenauer hat mir mal gesagt, mit 70 gehe es wieder bergauf. Und wie man sieht, hat er ja recht gehabt.« An den Voraussetzungen für diesen Wiederaufstieg fehle es bei ihm nicht: »Mein Vater und alle seine Geschwister sind sehr alt geworden. Wäre meine Mutter nicht an einer dummen Blinddarmgeschichte so jung gestorben, sie wäre auch so alt geworden.« Dann überkamen Kiesinger angesichts der hinter einer roten Kordel versammelten Bildreporter Erinnerungen an große Zeiten mit dem alten Kanzler. Vor vierzehn Jahren in Moskau, so sinnierte er, habe die unter Adenauers Leitung stehende deutsche Delegation in einem großen Saal mit den Russen diniert, während »auch hinter so einer Absperrung tausend geladene Gäste standen und uns beim Essen und Trinken zusahen. Zu meiner Rechten -- nein, nein -- zu meiner Linken saß Molotow und machte sich über die Gäste hinter der Kordel lustig. Plötzlich meinte er: »Da hinten in der Mitte steht ja auch der amerikanische Botschafter, der arme Kerl.«