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BUNDESREPUBLIK Berlin ans Herz

aus DER SPIEGEL 46/1966

Gemeinhin gilt Konrad Adenauer als Schöpfer der Bundesrepublik und zugleich als Begründer der bis in die Gegenwart hinein Vertretenen politischen Theorie, wonach die deutsche Wiedervereinigung nur durch einen starken, eng mit dem Westen verbundenen deutschen Weststaat zu erreichen sei.

So stellt es auch Alt-Publizist Paul Sethe in seinem jüngsten Buch »Öffnung nach Osten« dar*. Laut Sethe fiel die Entscheidung für die Weststaat -Konzeption bereits »kurz nach 1945«, und es war Adenauer, der sie traf.

An diesem beliebten Holzschnitt deutscher Nachkriegspolitik hat nun der neue Hamburger Politologe Professor Hans-Peter Schwarz, 32 - er habilitierte im letzten Sommer und hält im November seine erste Vorlesung in Hamburg -, einige Korrekturen angebracht.

Gestützt auf Recherchen in bislang unerschlossenen Archiven der Bundesländer und Parteien, behauptet Schwarz in seiner Habilitationsarbeit, die im November unter dem Titel »Vom Reich zur Bundesrepublik« als Buch** erscheinen soll,

- daß der Berliner SPD-Führer Ernst Reuter es war, der die Weststaat -Theorie im entscheidenden Augenblick durchsetzte, und

- daß es Reuter war, der auf dem Höhepunkt der Entwicklung die - zur Gründung der Bundesrepublik ermutigende - Ansicht vertrat, der neue deutsche Weststaat werde sehr bald auf die Sowjetzone eine unwiderstehliche magnetische Anziehungskraft ausüben.

Das Buch des künftigen Hamburger Politologen ist eine politische Ideengeschichte Deutschlands nach Hitler. Schwarz analysiert darin die Zukunftsvorstellungen aller führenden Politiker und Publizisten zwischen 1945 und 1949

- von Kurt Schumacher bis zu Ulbrich

Noack, dem Propheten eines waffenlosen deutschen Neutralismus. Er leugnet in diesem Zusammenhang auch nicht, daß Adenauers Ansichten ein starkes Gefälle in Richtung auf die Weststaat -Konzeption hatten.

Dramatische Dichte erreicht das Schwarz-Buch jedoch mit der Situation des Sommers 1948, wo es für die verantwortlichen deutschen Nachkriegspolitiker - und das waren damals laut Schwarz nicht die Parteiführer wie Adenauer, Schumacher und Kaiser, sondern die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder - »wirklich ernst ward«, als sie nämlich zu entscheiden hatten, ob Westdeutschland sich als deutscher »Teilstaat« einrichten und sich damit weiterhin die Wohltaten des Marshall-Planes sichern oder ob der deutsche Westen, mit Rücksicht auf Ostdeutschland, in einer Position neutraler Unentschiedenheit zwischen Ost und West verharren sollte.

Im Frühjahr 1948 waren den durch neun Jahre Krieg und Nachkrieg verelendeten Westdeutschen auf einer Marshallplan-Konferenz in Paris amerikanische Kredite gewährt worden - freilich mit einer knappen Frist: bis zum 1. April 1949.

Wenige Monate später, am 1. Juli 1948, wurden den elf Regierungschefs Westdeutschlands in Frankfurt die sogenannten »Londoner Empfehlungen« überreicht. Sie enthielten die Aufforderung der drei westlichen Besatzungsmächte, einen westdeutschen Teilstaat zu gründen und, jedenfalls vorläufig, die deutsche Teilung zu institutionalisieren.

Daß zwischen dem Kredit und der Forderung ein Zusammenhang bestand, sollte, sich sehr schnell zeigen.

Vom 8. bis zum 10. Juli berieten die Ministerpräsidenten auf dem Rittersturz bei Koblenz die Vorschläge der Besatzer. Obwohl die meisten Länderchefs zunächst geneigt waren, das alliierte Ersuchen anzunehmen, lehnten sie am Ende doch ab, einen westdeutschen Teilstaat zu gründen

Eine wichtige Rolle spielten dabei - laut Schwarz -

- »Rücksichten auf die Reichseinheit«

und

- »die Rücksicht auf Berlin«.

Ausschlaggebend für die Ablehnung des Weststaat-Konzepts war die amtierende Berliner Oberbürgermeisterin Louise Schroeder gewesen. Sie legte den Länderchefs »in kurzen, aber drängenden Worten ans Herz«, Berlin durch die Weststaat-Gründung nicht zu isolieren. Selbst Konrad Adenauer stimmte der Ablehnung zu.

Doch diese Entscheidung behielt nur zwölf Tage Gültigkeit.

Am 21. und 22. Juli berieten die Ministerpräsidenten ein zweites Mal. Zu dieser Konferenz in Schloß Niederwald bei Koblenz entsandten die Berliner anstelle Louise Schroeders den Stadtrat (und späteren Regierenden Bürgermeister) Ernst Reuter - und der stand unter massivem amerikanischen Druck.

Professor Schwarz fand im Bonner SPD-Archiv einen Bericht des damaligen Reuter-Adlatus Willy Brandt über Gespräche mit westlichen Beschützern: »Andeutungsweise wurde auch davon gesprochen, daß es unter diesen Umständen zweifelhaft sei, ob Berlin gehalten werden könne.«

Andere US-Funktionäre äußerten den Verdacht"die Väter des Rittersturz-Beschlusses seien Kommunisten oder Kommunistenfreunde.

US-Hochkommissar Lucius D. Clay las den Ministerpräsidenten seiner Zone persönlich »die Leviten« (Schwarz). Er wies auch auf die Zusammenhänge mit dem Marshall-Plan hin.

Unter diesem Druck machte Reuter sich in Schloß Niederwald zum Sprecher der Weststaat-Theorie und entlastete damit die ohnehin zu diesem Konzept neigenden Länderchefs von deren wichtigstem Bedenken: der Sorge um Berlin.

»Wir sind der Meinung«, erklärte Reuter als Berlin-Repräsentant, »daß die politische Konsolidierung des Westens eine elementare Voraussetzung für die Gesundung auch unserer (Berliner) Verhältnisse und für die Rückkehr zum gemeinsamen Mutterland ist.« Im übrigen sei die Konsolidierung des Westens die einzige Möglichkeit, eines Tages die Ostzone der sowjetischen Besatzungsmacht zu entreißen.

Ernst Reuter »brach das Eis«, meint Schwarz, für das dynamische Kernstaatskonzept« der Bundesrepublik.

* Paul Sethe: »Öffnung nach Osten, Weltpolitische Realitäten zwischen Bonn, Paris und Moskau«. Verlag Heinrich Scheffler, Frankfurt; 204 Seiten; 12,80 Mark.

** Hans-Peter Schwarz: »Vorn Reich zur Bundesrepublik, Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945 bis 1949«. Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied; 910 Seiten; Paperback 38 Mark; Leinen 88 Mark.

Weststaat-Befürworter Reuter

Eine starke Bundesrepublik ...

Weststaat-Gegnerin Louise Schroeder

... sollte Berlin holten ...

Weststaat-Initiator Clay

... und die Zone den Sowjets entreißen

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