29,95 Euro für einen Tag Demokratie: Was soll der "Petitionstag" im Olympiastadion?

Und was sagt er über unser Verständnis von Teilhabe aus?

Dieser Beitrag wurde am 25.11.2019 auf bento.de veröffentlicht.

Für manche klingt es nach Utopie, für andere nach Dystopie: Am 12. Juni 2020 sollen im Berliner Olympiastadion mehrere zehntausend Menschen die deutsche Politik verändern. Indem sie Petitionen live unterzeichen, es könnte mal eine sein, die den Bundestag zwingt, über einen schärferen Klimaschutz zu debattieren, dann eine über das bedingungslose Grundeinkommen oder eine zum Thema Seenotrettung. 

Damit eine Petition im Bundestag diskutiert wird, braucht es 50.000 Unterschriften (Bundestag ). Im Olympiastadion könnten sich 90.000 Aktivistinnen und Aktivisten zusammenfinden – sie könnten gemeinsam ihre Handys zücken und die nötigen Stimmen in nur wenigen Sekunden beisammen haben.

Genau das soll kommenden Sommer im Berliner Olympiastadion passieren.

Auf Startnext  wirbt seit Donnerstag ein Bündnis mehrerer Klima- und Bürgerrechtsbewegungen für den Aktionstag "Deutschlands größte Bürger*innenversammlung". Dabei sind unter anderem "Fridays for Future", "Mein Grundeinkommen e.V." und das Kondom-Startup "Einhorn". Via Crowdfunding sollen Tickets zum Preis von 29,95 Euro verkauft werden, um das Event realisieren zu können. 

Wissenschaftlerinnen und Aktivisten sollen eingeladen werden, dann sollen die Anwesenden vorher erarbeitete Petitionen blitzunterschreiben. Was genau, steht noch nicht fest. "In den kommenden Monaten wollen wir mit euch zusammen Maßnahmen [...] entwickeln, die unsere gemeinsame Zukunftsvision um Handlungsempfehlungen ergänzt und damit umsetzbar wird", heißt es im Aufruf. 

Wie eine Petition funktioniert

Jeder Bürger hat das Recht, sich schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an den Bundestag zu wenden. Die Eingaben werden dann im Petitionsausschuss geprüft und beraten. 

Jede Petition wird beraten – stimmt der Ausschuss zu, werden sie im offiziellen Petitions-Forum  des Bundestags veröffentlicht. Dann können Bürgerinnen und Bürger unterzeichnen. 

Mehrmals jährlich findet eine öffentliche Beratung im Ausschuss statt. Dann wird über die wichtigsten Petitionen debattiert – und entschieden, ob sie Thema für den Bundestag werden.

"Ziel ist es, allen Teilnehmern das Gefühl zu geben, dass sie auch als Einzelpersonen Veränderungen bewirken können", schreibt das Bündnis weiter. 

Es brauche halt nun nur noch "ein paar zehntausend Menschen", wie die deutsche "Fridays for Future"-Aktivistin Luisa Neubauer twittert:

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Aha. 29,95 Euro für einen Tag im Olympiastadion – und dann retten wir die Welt?

So einfach ist es natürlich nicht. Und genau das müssen sich Aktivistinnen wie Luisa Neubauer auch seit dem Wochenende auf Twitter anhören: Angefangen bei dem Konzept "Teilhabe gegen Geld " über die Beteiligung von Unternehmen hin zur Wahl des Ortes gibt es viele Kritikpunkte.

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Was also ist schief am "Petitionstag"? 

Schon die historische Dimension des Ortes weckt bei einigen sehr unangenehme Assoziationen: Die Nazis haben das Olympiastadion in den 1930ern erbaut, die Öffnung zur Südseite wurde "Führerloge" genannt, weil Hitler von hier aus für alle gut sichtbar den Sportveranstaltungen beiwohnen konnte. 

Vor dieser "Führerloge" sollen jetzt Themen wie Klima und Migration verhandelt werden? 

Klar, den Initiatoren ging es wahrscheinlich darum, möglichst viele Menschen versammeln zu können. Aber auch das ist Teil des Problems: Nur weil Demokratie vom Volk ausgeht, heißt das nicht, dass das Volk an einem Ort zusammenkommen muss und dann schnell entscheidet. Demokratie ist ein zäher Prozess. Sie braucht Zeit, Debatten und vor allem: Kompromisse. 

Worum es hier also viel mehr geht: um ein Event. Denn die Debatte findet entweder zuvor statt – dann könnten die Menschen aber auch online die Petition unterzeichnen, da, wo sie ohnehin debattiert haben. Oder die Vorschläge werden von Expertinnen und Experten vorgebracht und vom Rest durchgewinkt. Aber möglichst viele Menschen an einem Ort zu versammeln und in nur einem Tag auf politische Ideen einzunorden, ist populistisch. 

Das Zusammenkommen verleiht die Illusion echter Teilhabe. Aber in Wahrheit schließt es viele aus:

Schon das Ticket muss man sich leisten können oder wollen – geschweige denn die Anreise am Werktag. Wer aus Greiz oder Germersheim kommt, überlegt sich, ob er am Donnerstag und Freitag Urlaub nimmt, um nach Berlin zu fahren. Am Ende komme nur die "Berliner Innenstadt-Elite" zusammen, mutmaßt der "Tagesspiegel" , "die sowieso schon Lauten und Mächtigen".

Die Initiatorinnen und Initiatoren wissen um diese Schieflage. Sie kündigten kostenfreie "Sozialtickets" an, sollte das Crowdfundingziel erreicht werden, werde es auch einige kostenfreie Tickets geben. Trotzdem: Politische Teilhabe von finanziellen Möglichkeiten abhängig zu machen, ist das Gegenteil von demokratisch. 

Dabei sind die Fragen, aus denen eine solche Initiative entsteht, ja durchaus relevant für unsere Gesellschaft: 

Wie bleibt eine Demokratie lebendig? Wie ist echte Teilhabe im politischen Prozess möglich – wenn man gerade keine Zeit für ein Bundestagsmandat hat? 

Wenn ich die Zukunft mitgestalten will, wie organisiert muss ich sein, um gehört zu werden?

Das sind am Ende die Fragen, um die das Crowdfunding kreist. Und es sind Fragen, die dann doch mehr Menschen als nur die "Berliner Innenstadt-Elite" bewegen. Antworten darauf zu finden, wie wir morgen leben wollen, ist nicht populistisch oder elitär – es ist grunddemokratisch. 

Vor ein paar Jahren hatte die Piratenpartei für Aufsehen gesorgt, als sie Demokratie mit digitalen Abstimmungsmodellen mal eben neu erfinden wollte. Heute wissen wir: ganz so einfach war es dann doch nicht. Wenn es nun Aktivistinnen und Aktivisten gibt, die der Meinung sind, es brauche echte Menschen an echten Orten, um etwas zu bewegen, dann ist das nicht verwerflich. 

Das Demonstrationsrecht erlaubt uns, politisch aktiv zu werden. Und die Jugend ist so aktiv wie lange nicht mehr. Bewegungen wie "Fridays for Future" und "Seebrücke" oder die Massendemos gegen den Paragrafen 219a und die EU-Reform des Urheberrechts zeigen es. Aber was, wenn ich mehr will, als nur meinen Unmut herauszuposaunen?

Was, wenn wir nicht nur einen Ort brauchen, an dem wir das "Dagegen" formulieren, sondern auch einen Ort, an dem wir am "Dafür" arbeiten? 

Tatsächlich gibt es den schon. Er heißt: Partei. 

Die Olympiastadion-Aktivistinnen wollen Themen verhandeln, von denen sie denken, dass diese vielen anderen auch wichtig sind. Sie schaffen ein Umfeld, in dem Gleichgesinnte gleiche Ziele formulieren. Einen Ort, an dem Menschen mit ähnlichen Ansichten Politik mitgestalten. Das ist im Kern das, was eine Partei ausmacht. 

Egal, ob man im Olympiastadion-Crowdfunding eine Utopie oder eine Dystopie sieht, es ist erst mal vor allem eines: Ausdruck eines Unbehagens. Junge Menschen glauben nicht mehr, dass sie in Parteien politisch wirksam werden können. Engagierte junge Menschen, deren Ideen nicht unbedingt unsere Verfassung in Frage stellen, glauben tatsächlich, dass es mehr bringt, ein Sportstadion vollzumachen, als sich in bestehenden Parteien zu engagieren.

Kein Wunder: Wenn die SPD erst für den Klimaschutz wirbt und dann an der Seite von CDU und CSU doch nur ein Klimaschützchen umsetzt, kratzt das an der Glaubwürdigkeit (SPIEGEL). Und wenn die FDP aus der Opposition heraus erst für die Abschaffung von Paragraf 219a kämpft und dann doch einen Rückzieher macht, frustiert das alle, die eigentlich Hoffnung auf die Parteiendemokratie setzen (Ärzteblatt ).

Das langsame, zähe Ringen der Demokratie, es kann einen eben auch in die Frustration stürzen, wenn Ideale für politische Macht oder andere Ziele geopfert werden. Es ist ein Versäumnis der Parteien, die ihr Gespür zu verlieren scheinen für die Frage: Was können wir opfern? Welcher Kompromiss ist zu groß? Und wie begeistern wir euch junge Menschen, die ihr zu Tausenden auf den Straßen seid – und jetzt sogar bereit, Geld zu zahlen, um bei etwas zu unterschreiben, das keine rechtlich bindende Wirkung hat. 

Wenn Politik es nicht schafft, derlei interessierte und engagierte Menschen mitzunehmen, dann hat sie etwas nicht verstanden. 

Und das fängt beim Marketing an: Eigentlich bräuchten wir eine Gesellschaft, in der Petitionen so beworben werden wie E-Zigaretten – und E-Zigarettenwerbung so versteckt platziert ist wie die Seite des Petitionsausschusses .

Doch das Petitionsverfahren im Bundestag ist staubig und nahezu unsichtbar. 

Das geplante Happening im Olympiastadion ist ein Versuch, das zu ändern. Man kann den Unternehmern von "Einhorn" und den Aktivisten von "Fridays for Future" da durchaus vorwerfen, das Projekt nicht zu Ende gedacht zu haben. Aber: Sie sind auch keine Politiker.

Und es ist sinnvoller, Politikern vorzuwerfen, dass sie es nicht schaffen, Menschen so mitzunehmen, dass sie sich nicht von Kondom-Produzenten besser vertreten fühlen.

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