DDR Berlin und SUHL
Ein ständiges Fest »des Frohsinns und des Stolzes« läuft derzeit, glaubt man den SED-Parolen, in der halben Hauptstadt Berlin ab - und zwar, so möchte die Einheitspartei glauben machen, für alle »Bürger unseres sozialistischen Staates«.
Wochenende für Wochenende huldigen auf dem »Festgelände« zwischen Alex und Jannowitzbrücke SED-Größen aus der Provinz und Tausende ihrer Untertanen, nach Bezirken getrennt, der 750jährigen Hauptstadt. Stets nehmen »Hunderttausende« Einwohner der DDR-Metropole, wie das SED-Organ »Neues Deutschland« ("ND") stereotyp vermeldet, die Huldigung entgegen.
Höhepunkt der landesweit verordneten Begeisterung war Anfang Juli ein Riesenkorso der Lebensfreude und des Friedenswillens«. Das »ND« schwärmte: _____« Fünf Stunden lang zeigten mehr als 40000 Darsteller » _____« aus Schulen, Betrieben und Einrichtungen, Volks- und » _____« Berufskünstler » _____« aus Kulturhäusern und Theatern der Hauptstadt und » _____« aller Bezirke in dem phantastischen farbenprächtigen Zug » _____« rund 300 Bilder aus der Geschichte und Gegenwart Berlins. »
700000 Zuschauer waren »begeistert«, Parteichef Erich Honecker inklusive. Und weil's so schön war, sendete das DDR-Fernsehen den Festumzug einen Sonntag später zum zweiten Mal - als Konserve, aber in voller Länge.
Dessenungeachtet behauptete Mathias Lohse, Elektriker aus Karl-Marx-Stadt, in einer Stellungnahme für das »ND« lobend: »So etwas erlebt man nur einmal im Leben! ... Man sah an vielen Beispielen auch: Wie die Republik für Berlin sorgt, so sorgt Berlin für die Republik.«
Derzeit müssen sich die DDR-Berliner vor allem Sorgen um ihr Renommee in der Rest-DDR machen. Vom Jubiläumsspektakel kriegen die Provinzler vor allem die Kehrseite zu sehen. Den Jubiläumsüberfluß im Schaufenster Berlin müssen sie mit um so größerem Mangel in ihren Kaufhallen bezahlen - und den prächtigen Neubauten der Hauptstadt stehen bröckelnde Fassaden und unkomfortable Altbauwohnungen in der eigenen Stadt entgegen.
Der Unmut macht sich in Autoaufklebern - »781 Jahre Dresden« - Luft und in bösen Sprüchen wie diesem: »Wir haben nur noch zwei Bezirke in der DDR - Berlin und SUHL - Sozialistisches Unterentwickeltes Hinter-Land«. Selbst die Obergenossen spotten, vor ausgewähltem Publikum, über das teure Jubiläum.
Der stellvertretende Außenminister Kurt Nier etwa stellte ausländischen Gästen die Scherzfrage: »Was ist der Unterschied zwischen SDI und dem Berliner Jubiläum?« Die Antwort: »Bei SDI weiß man, was es kostet.«
Manche Proteste erschöpfen sich nicht mehr in Witzen. In Läden auf dem Lande weigern sich Verkäufer, rare Waren an Urlauber aus Ost-Berlin zu verkaufen. In Dresden wurden Autos mit Ost-Berliner Kennzeichen an Tankstellen nicht bedient. Auf Rügen versuchte ein Urlauber aus der Hauptstadt vergeblich, für seinen Trabi einen Ersatzreifen zu kaufen, obwohl der deutlich sichtbar vorrätig war.
In Dresden lehnten es Lastwagenfahrer sogar ab, Gurken für Berlin zu verladen. Als Drohungen nicht halfen, übernahm ein Kommando der Zivilverteidigung die Fuhre.
Beim Punktspiel der beiden Renommier-Fußballklubs des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Dynamo Dresden gegen Dynamo Berlin, entrollten Dresdner Fans ein Transparent mit der krummen Jubelzahl ihrer Stadt. Das Plakat konnten Fußballfreunde sogar kurz in der Sportschau des DDR-Fernsehens bewundern - peinliche Panne der Bildregie.
Die Staatsschützer vom MfS haben den Unmut des Volkes lange treiben lassen. Die Autoaufkleber sind inzwischen landesweit verbreitet. Die Gurken-Protestler blieben straffrei, das Transparent im Dresdner Stadion wagten die Volkspolizisten nicht zu entfernen, weil sie unter den 36000 Zuschauern einen Eklat befürchteten.
Neuerdings aber beschränkt sich der Volkszorn nicht mehr auf verbalen Protest. Beim Gruppenurlaub in einem Heim der Harzgemeinde Darlingerode wurden 40 Gäste aus Ost-Berlin eines Morgens geweckt: Über Nacht hatten Unbekannte neun Autos der Urlauber - sieben Trabis, einen Citroen, einen dunkelblauen Volvo, wie ihn fast nur Parteibonzen fahren - mit rotem Alkydharz-Lack angemalt.
Auf allen Wagen prangte riesengroß die magische Jubiläumszahl 750, garniert mit Attributen wie »Ärsche«, »Scheißberliner«, »Sauberliner«; das »I« der Ost-Berliner Autonummern war überpinselt. Außerdem hatten die Täter, nach Erkenntnissen der Volkspolizei vermutlich zwei, 21 Reifen zerstochen.
Die ostdeutschen Sicherheitsbehörden behandeln den Fall als hochpolitische Demonstration; wohl zu Recht: Geklaut war nichts, obwohl zwei Autos unverschlossen waren. Ein Vopo: »So etwas hat es hier noch nicht gegeben.«
Abgesandte des MfS aus Magdeburg und die Kripo aus Wernigerode konnten, obwohl 50 Mann das Gelände durchkämmten, den Fall nicht klären. Sie fanden nur einen Fußabdruck und im nahen See eine leere Lackdose mit Fingerabdruck, der nicht registriert war.
Die geschädigten Urlauber erfuhren unbürokratische Fürsorge. Polizei und Behörden halfen bei der Säuberung der Autos und beschafften binnen Tagen neue Reifen - sogar für die im Westen hergestellten Autos, in der Mangelgesellschaft DDR ein mittleres Wunder.
Selbst die Staatliche Versicherung zeigte sich großzügig und übernahm ohne bürokratischen Kram die Neulackierung, auch für die beiden Autobesitzer, die nicht kaskoversichert waren.
Doch das Attentat von Darlingerode sprach sich trotzdem schnell herum. Bereits eine Nacht später zerstachen Nachahmungstäter in Wernigerode die Reifen von Autos mit Ost-Berliner Kennzeichen. Zwei Tage später erreichte die Welle Magdeburg. Letzte Woche waren in Dresden die ersten Plattfüße an Ost-Berliner Personenwagen zu sehen.