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BERLINER LUFT BEI KAFFEE UND KUCHEN

aus DER SPIEGEL 36/1965

In Willy Brandts Grübehen loderte noch immer ein purpurnes Verlegenheits-Rot, als er auf den Gang zurücktrat und die Tür des Wöchnerinnen-Zimmers sich hinter ihm schloß. Er zupfte die Manschetten zurecht und artikulierte den Seufzer der Erleichterung zu einem tiefbefriedigten »Sooo«.

Der SPD-Kanzlerkandidat hatte sich im neuerbauten städtischen Krankenhaus Frankfurt-Höchst werbewirksamer Wahlkampf-Pflicht entledigen müssen: Besuch bei einer jungen Mutter. Das vom Krankenhaus-Direktor gezogene Los hatte zuvor darüber entschieden, welcher Wöchnerin die Ehre dieser Visite zukommen sollte. Es war auf Irmgard Wischnewski, 30, gefallen, die wenige Stunden vorher eine Tochter gebar.

Willy Brandt empfand vor der Begegnung ebensoviel Scheu wie die Ärzte des Krankenhauses Abscheu vor dem Schwarm von unbefugten Eindringlingen.

Die Erfordernisse des Schaugeschäftes kosten Willy Brandt stets Überwindung. Ihn scheint der Zweck-Charakter direkter Kontakte mit dem Wähler zu belasten und befangen zu machen: Und es gelingt ihm nicht, das Unnatürliche einer solchen Situation durch ein paar natürliche Worte zu überspielen. Das Weiße im Auge des Wählers zu fixieren fällt ihm schwerer, als den Krebs zu besiegen und den Herzinfarkt abzuschaffen, was er gelegentlich noch verspricht.

Die Wahlkampf-Reisen Willy Brandts sind aber gerade auf Begegnungen von Mensch zu Mensch abgestellt und nicht auf Großkundgebungen. Das Wahlkampfkontor des Regierenden Bürgermeisters hat eine in der Bundesrepublik neue Art des Wahlkampfes kreiert: die Großstadt-Durchreise, nach amerikanischem Vorbild Campaigning genannt. Willy Brandt fährt - wenn es das Wetter erlaubt - im offenen Wagen stehend durch Wohnviertel großer Städte: Er winkt den Muttis zu, die in den Fenstern liegen, und den Kindern, die auf der Straße spielen Bei größeren Menschenansammlungen läßt er den Wagen halten, nimmt Blumensträuße entgegen, schüttelt Hände und streichelt Kleinkinder.

Eingeblendet in das Programm sind jeden Nachmittag zwei oder drei Hausfrauen-Kaffeestündchen. Der Ortsverein der SPD lädt Hausfrauen des VierteLs zu zwei Stuckehen Kuchen und einem Kännchen Kaffee ein. Zur Unterhaltung spielt meistens das Berliner Mäcki-Trio auf, das Willy Brandt vorauseilt und bei seinem Einzug entweder den River-Kwai-Marsch oder die Berliner Luft intoniert.

Der Heldenpose, die durch die Marschmusik suggeriert werden soll, entspricht Willy Brandt aber gar dicht. Er spielt weder den jugendlichen Supermann noch den Retter Berlins. Vor größerem Publikum und mit der Distanz, die er braucht, ist er nur das, was er ist: ein jugendlicher Anfangfünfziger von etwas spröder Männlichkeit, der weder übermäßig charmant noch witzig ist.

Und doch ist das der solideste Willy, den es ja gab. Er versucht weder Herzen zu brechen noch zu erobern, sondern macht ein rechtschaffenes Angebot. Er wirbt um Vertrauen, er bittet am 19. September um Hilfe und verspricht dafür den ans Rechnen gewohnten Hausfrauen Genuß ohne Reue: bessere Gesundheitsfürsorge, billigere Wohnungen, stabiles Geld und gleiche Ausbildungschancen für ihre Kinder.

Dem Verdacht, daß der Kanzlerkandidat Willy Brandt mit dieser Durchreise aus der vordersten Linie des Wahlkampfes genommen werden soll, treten die Wahlkampf-Strategen der SPD mannhaft entgegen. Nach ihrer Rechnung errEicht Brandt mit der Durchreise - auch wenn zahlreiche Fenster geschlossen bleiben wie in Frankfurt und Gelsenkirchen - mehr Menschen, als wenn er nur in Großkundgebungen auftreten würde.

Brandt soll auf diesen Durchreisen auch weniger überzeugen als sich zeigen, weniger begeistern als beweisen, daß er noch da ist. Er soll die Reserven der SPD mobilisieren. Nach den Wahlen 1961 hat die SPD durch Untersuchungen in Frankfurt und Hagen-Haspe festgestellt, daß die Wahlbeteiligung unter ihren Anhängern geringer ist als unter den Freunden der CDU. Nur 60 Prozent der traditionellen SPD-Wähler waren zur Wahl gegangen, dagegen 80 Prozent der CDU-Wähler.

Das eigentliche Rede-Konzept Brandts sieht deshalb auch nur indirekte Eigenwerbung vor, verpackt in einen Wahlappell: keine Polemik, nur ja sagen - ja zu Deutschland und ja zur SPD. Einem Kaffeekränzchen im Frankfurter Gesellschaftishaus am Zoo hielt er vor: »Glauben Sie nicht nur ,Gut ist die SPD', wählen Sie auch SPD; es kommt auf jede Stimme an.« Häufig wird er aber gar nicht so deutlich, sondern fordert seine Zuhörer nur auf: »Machen Sie mit am 19. September!«, »Sagen Sie es weiter« oder »Denken Sie auch an die Briefwahl!«

Seit einigen Tagen verändert Willy Brandt dieses Konzept allerdings allmählich. Es gelingt ihm nur noch mit Mühe, persönlichen Angriffen des Bundeskanzlers Erhard den -braven deutschen Anstand entgegenzusetzen, nach dem Motto: »Wer schimpft, hat unrecht«.

Willy Brandt folgt damit nicht nur seinen eigenen verletzten Gefühlen, sondern auch dem Drängen seiner Parteifreunde, die schärfere Gegenattacken auf Erhard wünschen. »Wir sind ja auch nur Menschen«, sagt Brandt-Freund Klaus Schütz, Berlins Gesandter in Bonn.

Willy Brandt kann dabei die Erkenntnis Konrad Adenauers nutzen, daß Erhard kein Talent zum Politiker besitze. Mit Adenauer gegen Erhard, lautet sein heimlicher Slogan. Stets hat er die Lacher schon auf seiner Seite, wenn er ansetzt: »Bei Adenauer wußte man wenigstens, woran man war...«

Indes, nicht nur seine Anständigkeit und sein Konzept hindern Willy Brandt an heftiger Polemik gegen Erhard, sondern auch ein Mangel an Temperament, das zur Demagogie gehört. Wenn er sich nicht an die vorfabrizierten Formeln seines Ghostwriters, des Jungdichters Günther Struwe, 24, hält, der seine Einfälle häufig im Auto in die Schreibmaschine tippt, beginnt Willy Brandt seinem Hang zu langweiligem Bürokraten-Deutsch nachzugeben.

Seiner Scheu vor dem Kontakt mit Unbekannten entspricht seine Hemmung vor dem Personalpronomen »Ich«. Statt dessen sagt er, als seien Willy Brandt und der Kanzlerkandidat zwei verschiedene Persönlichkeiten: »Der, der hier spricht...«

Wahlkämpfer Brandt, Irmgard Wischnewski: Am Wochenbett ein scheuer Kandidat

Dieter Schröder

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