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Berufschancen f. Lehrer u. Geisteswissenschaftler

aus DER SPIEGEL 46/1993

Im Foyer des Hamburger Pädagogischen Instituts kämpfen 200 Studienanfänger tapfer gegen die Trostlosigkeit an. In einem Ambiente aus abgewetzten Klinkersteinen und dreckigen Fensterfronten warten die jungen Leute, die einmal der nächsten Generation den Dreisatz beibringen oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung erklären sollen, auf Wegweisung älterer Kommilitonen durch den Dschungel der Massenuniversität.

Um ihre Zukunft machen sich die wenigsten der künftigen Pauker Sorgen. Kerstin, 20, ist sicher: »Wer wirklich will, der findet später auch eine Stelle.« Jan, 20, sagt: »Unser Studium führt direkt zu einem Beruf, das ist wichtig.« _(* An der Universität Lüneburg. ) Und Gerald, 23, meint: »Im Jahr 2000 haben wir wohl gute Chancen.«

Vieles spricht dafür, daß die drei Lehreranwärter einem geordneten Berufsleben entgegensehen - wenigstens auf den ersten Blick: Die Zahl der Pädagogen ohne Job sinkt seit einigen Jahren; hatten sich in den alten Bundesländern 1985 noch rund 29 000 Lehrer arbeitslos gemeldet, so waren es voriges Jahr nur noch 17 000.

Grund-, Haupt- und Sonderschullehrer sind heiß begehrt. In Nordrhein-Westfalen etwa konnte die Schulbehörde für das Schuljahr 1993/94 rund 120 Stellen an Grundschulen nicht besetzen, Bayern war auf Bewerber aus anderen Bundesländern angewiesen.

»Wir kratzen alle zusammen, die irgendwie unterrichten können«, sagt Toni Schmid vom bayerischen Kultusministerium.

Zunächst werden immer mehr Kinder an die Schulen drängen. Nach einer Untersuchung von Klaus Klemm, Bildungsforscher an der Essener Universität, wird es im Jahr 2005 rund elf Millionen Schüler geben (1989: etwa neun Millionen). Obendrein sollen bis zur Jahrtausendwende mehr als 150 000 Lehrer in den Ruhestand gehen.

In den nächsten sechs Jahren müßten deshalb jeweils 24 500 Stellen neu besetzt werden, allein um die Qualität des Unterrichts auf dem Stand von 1989 zu halten: Damals kam ein Lehrer auf rund 17 Schüler.

Dennoch könnten Kerstin, Jan und Gerald am Ende arbeitslos sein. So viele Lehrer wie Anfang der neunziger Jahre werden bald nicht mehr gebraucht. Manfred Bausch von der Frankfurter Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) prophezeit: »Zum Ende dieses Jahrzehnts wird es eine noch massivere Lehrerarbeitslosigkeit geben als in den achtziger Jahren.«

Denn die Kultusminister müssen mächtig sparen, längst wird die Schulpolitik nicht mehr von Pädagogen und Reformern, sondern von den Finanzpolitikern bestimmt.

Ihnen kommt zupaß, daß in den neuen Bundesländern drastischer Geburtenschwund herrscht. Allein von 1988 bis 1992 sank dort die Zahl der Neugeborenen von 215 734 um fast zwei Drittel auf 88 289. »Im Osten sind die Berufsaussichten längerfristig extrem schlecht, im Westen wird im besten Fall jeder zweite ausgebildete Lehrer eine Stelle finden«, sagt Klemm.

Ersetzt werden nach dem Willen der Finanzminister zunächst nur die Lehrer, die ausscheiden, zusätzliche Pauker für zusätzliche Schüler werden nicht bewilligt. Das bedeutet, daß höchstens 12 000 bis 13 000 Jungpädagogen pro Jahr gefragt sind. In den Grundschulen werden nach diesen Rechnungen im Jahr 2000 mehr als 28 Schüler in jeweils einer Klasse lernen (1989: durchschnittlich knapp 22), in den gymnasialen Oberstufen werden je Kurs 17 Prozent mehr junge Leute sitzen.

Und die Finanzchefs müssen weiter kräftig sparen. Ihr Katalog für die Schmalspur-Erziehung: *___Sie erhöhen die Arbeitszeit der Lehrer - in Berlin ____wurde das Deputat bereits um eine Stunde pro Woche ____aufgestockt, in fast allen andern Bundesländern sind ____entsprechende Regelungen geplant; *___die Schüler erhalten weniger Unterricht - in ____Rheinland-Pfalz hat die Kultusbehörde bereits letztes ____Schuljahr für die Klassen 5 bis 10 zwei Stunden pro ____Woche gestrichen, in Nordrhein-Westfalen fiel in den ____Klassen 5 bis 13 eine Unterrichtsstunde weg; *___Reformprojekte wie die Integration behinderter Kinder ____oder ein besseres Angebot an Ganztagsschulen werden auf ____unabsehbare Zeit vertagt.

Wenn dann auch noch, wie von einigen Bundesländern gefordert, die Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre gekürzt wird, können die Kultusminister 15 000 Lehrer einsparen.

Schon jetzt sind die Gymnasien vom Lehrerschwund besonders hart getroffen. Während vor zwei Jahren bundesweit noch ungefähr 2000 und im vergangenen Jahr 1500 Nachwuchspädagogen eingestellt wurden, waren es nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Junger Philologen 1993 nur noch 1000.

Allein Hamburg zählte dieses Jahr rund 3000 Bewerber für die gymnasiale Oberstufe, der jährliche Bedarf liegt bis Ende des Jahrzehnts jedoch nur noch zwischen 100 und 200 Lehrern. Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair (CSU): »Ich warne deutlich vor der Aufnahme eines Studiums für das Lehramt an Gymnasien.«

Mit Prognosen zu einzelnen Unterrichtsfächern halten sich die Experten zurück. Allerdings werden auch in Zukunft die Chancen in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern wie Geschichte, Politik und Sozialkunde geringer sein als in den Naturwissenschaften.

Trotz der ungünstigen Langzeitprognosen fühlen sich seit Mitte der achtziger Jahre wieder mehr Abiturienten zum Lehrer berufen. Wollten sich 1986 in Westdeutschland nur 15 380 Erstsemester zum Schulmeister ausbilden lassen, waren es 1991 bereits 41 491 - Tendenz steigend. Noch nicht einmal die Hälfte wird im Staatsdienst gebraucht.

»In den neuen Bundesländern sind die Berufsaussichten noch miserabler«, urteilt Wissenschaftler Klemm. Sind im Schuljahr 1993/94 noch 220 000 Kinder eingeschult worden, so bleiben 1999 voraussichtlich nur noch 75 000.

Das brandenburgische Bildungsministerium sagt voraus, daß viele Schulen schließen müssen. So kamen im Landkreis Seelow nördlich von Frankfurt an der Oder in den letzten Jahren jeweils zwischen 600 und 650 Jungen und Mädchen _(* An der Universität Hamburg. ) in die erste Klasse. Im Jahr 1997 werden gerade noch 260 Kinder, 1998 nur noch 140 Erstkläßler eingeschult. Fachleute prophezeien, daß zwei von drei Grundschulen im Osten dichtmachen.

Nur noch wenige junge Lehrer finden derzeit in den neuen Bundesländern eine Stelle - sie ersetzen nach und nach die politisch belasteten Pauker, die aus dem Schuldienst entlassen werden. Auch für die neusprachlichen Fächer Englisch und Französisch, in der DDR wegen des dominanten Russisch-Unterrichts traditionell vernachlässigt, werden noch einige Lehrer gebraucht. Doch Klemm prophezeit: »In fünf bis sechs Jahren erleben die Lehrer den freien Fall nach unten.«

»Die Studenten verhalten sich prozyklisch, das ist das Problem«, so analysiert Manfred Bausch von der ZAV. Viele Studenten erfahren, daß die Kultusministerien derzeit noch Lehrer einstellen, und machen sich deshalb Hoffnungen für später. Die wenigsten bedenken, daß sie in sechs bis acht Jahren, wenn sie mit Studium und Referendariat fertig sind, nicht mehr gebraucht werden.

Berufsberater Bausch fordert die Hochschulen auf, neue Wege zu zeigen. »Die Universitäten müssen zusätzlich wirtschaftsnahe Qualifikationen vermitteln, mit denen die Absolventen auch außerhalb des Lehrerberufs etwas anfangen können«, fordert er. Auch die Studenten werden von Bausch kritisiert: »Die Studierenden sollten sich bereits während des Studiums für elektronische Datenverarbeitung, Betriebswirtschaft und Technik interessieren.«

Damit ist es jedoch nicht weit her. »Die Berufsaussichten sind kein Thema unter den Studenten«, berichtet Nadja Hasse, 22, Lehramtsstudentin im fünften Semester für Englisch und Politik an der Universität Hamburg. Auch sie selbst denkt »jetzt nicht darüber nach«, ob sie den Beruf später auch ausüben kann: »Lehrer ist mein Traumjob, dann studiere ich das auch.«

Wie Nadja Hasse finden sich ihre Kommilitonen meist von vornherein damit ab, daß ihre Perspektiven unsicher sind. Hinzu kommt, daß viele Abiturienten nach der Reifeprüfung nicht wissen, was sie studieren sollen, und sich aus Verlegenheit bei den Pädagogen einschreiben.

Deshalb plädiert Nadja Hasse für Praktika vor dem Studium und für eine bessere Auslese durch die Hochschule. Hasse: »Manche meiner Mitstudenten können nicht einmal an der Uni eine Seminarsitzung gestalten, wie wollen die denn später unterrichten?«

Auch Gabi Bundschuh, 30, Referendarin am Mörike-Gymnasium in Esslingen am Neckar, wundert sich über die Naivität mancher Studenten: »Es schockiert mich heute noch, wie viele Studenten die Augen zumachen, wenn es um die Berufsaussichten geht.« Die Existenzängste kommen dann plötzlich im Referendariat: »Wenn sich jemand zwei Jahre voll reinhängt und dann keinen Job bekommt, das ist hart.«

Sie hat sich während des Studiums umgetan: An vier verschiedenen Sprachschulen unterrichtete sie Kinder und Erwachsene in Deutsch, Englisch oder Französisch. Privatschulen oder Erwachsenenbildung wären für sie eine - wenn auch ungeliebte - berufliche Alternative.

An den rund 1900 privaten Instituten in Westdeutschland bekommt meist nur einen Job, wer bereits Berufserfahrung gesammelt hat. Um die wenigen vakanten Stellen an Privatschulen, die 36 500 Lehrer beschäftigen, reißen sich jetzt schon Tausende von Bewerbern.

Auf Umschulung, die von der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit finanziert wird, können sich arbeitslose Lehrer in Zukunft kaum noch verlassen. »Es steht immer weniger Geld für Qualifizierungsmaßnahmen zur Verfügung«, warnt ZAV-Mann Bausch. Das Risiko, eines Tages arbeitslos zu sein, wird für jeden einzelnen noch größer.

Eva-Maria Schulte, 33, zum Beispiel hat 1991 das zweite Staatsexamen als Kunstlehrerin am Gymnasium bestanden. Seither lebt sie in Hamburg von 1230 Mark Arbeitslosenhilfe und betreut nebenher zwei Jugendgruppen. Gern würde sie einen anderen Beruf ergreifen, doch Umschulung ist nicht mehr drin. Schulte: »Ich bereue es, auf Lehramt studiert zu haben.«

Hans-Werner Krohn, 35, hingegen hat den Absprung geschafft. 1987 beendete er sein Referendariat in den Fächern Chemie und Geographie. »Mein Ziel war, Lehrer zu werden. Eine Stelle hätte ich damals jedoch unter keinen Umständen bekommen«, erzählt Krohn.

An einer Weiterbildungsakademie in Hamburg belegte er einen zwei Jahre dauernden Kurs, in dem er Betriebswirt und Industriekaufmann lernte. Während eines Praktikums arbeitete er bei der Chemiefirma Beiersdorf, heute kümmert er sich dort als Personalreferent um 550 Arbeiter und Angestellte.

In der freien Wirtschaft wartet auf die Lehrer jedoch ein harter Konkurrenzkampf: Auch Geisteswissenschaftler wie Germanisten, Historiker oder Fremdsprachler, die erst gar nicht Lehrer werden wollten, bewerben sich um die wenigen Jobs. Schon jetzt ist nahezu jeder dritte arbeitslose Hochschulabsolvent ein Geistes- und Sozialwissenschaftler.

Die Kultusministerkonferenz sagt in ihrem jüngsten Gutachten eine »überdurchschnittliche Zunahme der Studentenzahlen für Sprach-, Kunst- und Kulturwissenschaften« voraus. Absolventen dieser Fächer gehen also ein erhöhtes Risiko ein, künftig als Taxifahrer, Verkäufer oder Fahrradkurier die frühere akademische Freiheit abzubüßen.

Weit mehr Germanisten, Soziologen oder Philosophen als heute werden 1998 die Universitäten verlassen. Doch bei öffentlichen Kultureinrichtungen wie Museen oder Archiven werden selbst bestens ausgewiesene Spezialisten kaum noch eingestellt.

Viele Anfragen gehen schon jetzt bei Verlagen, Theatern oder Zeitungen ein, den üblichen Anlaufstellen für kulturell Studierte jenseits des Beamtendaseins. »Wir bekommen eine Flut von Bewerbungen«, sagt Uwe Wittstock, Cheflektor beim S. Fischer Verlag, »aber bei uns hat keiner eine Chance, reinzurutschen.«

Spätestens nach einem Jahr schickt das Unternehmen seine Volontäre wieder fort. »Dabei müßte ich, gemessen an Noten und Leistungen der Bewerber, eigentlich mich selbst rausschmeißen«, hat Wittstock selbstkritisch erkannt.

Schuld an der Misere seien nicht zuletzt die pädagogisch uninteressierten Professoren. Sie behandelten Praxis-Seminare gewöhnlich als »Alibiveranstaltungen«. Die Gastdozenten bekämen »etwa soviel Honorar wie die Putzkolonne«. Wittstock: »Wer es sich aussuchen kann, versucht natürlich, solche Lehraufträge zu meiden.« Ergebnis: Auch die Studenten verlieren den Elan, bis sie »mit tödlicher Sicherheit in die Arbeitslosigkeit« entlassen werden.

Rechnerisch betrachtet hat sich die Lage zwar leicht gebessert. Daß sich derzeit nur 25 Historiker auf jede offene Stelle bewerben, gilt in der Frankfurter Zentralstelle für Arbeitsvermittlung schon als Erfolg - vor drei Jahren waren es noch 39.

Den Studierten aber nützt solche Statistik wenig. »Anwärter werden zur Zeit nicht angenommen« - diese Auskunft von Martin Wälde, 35, einem promovierten Philosophen und Programmplaner im Münchner Goethe-Institut, ist bei öffentlichen wie privaten Arbeitgebern inzwischen die Regel.

Gerade in der Praxis sind Geisteswissenschaftler im härter gewordenen Konkurrenzkampf oft benachteiligt - weil sie, so Personalplaner Gunther Mangold von der Deutschen Bank in Frankfurt, gern »ein bißchen open end« studieren.

Kaum einer weiß, wie wenige Stellen es an Bühnen, Verlagen oder in der Erwachsenenbildung wirklich gibt: »Die rechnerische Chance«, dort unterzukommen, ist laut Manfred Bausch »mit 1:100 noch nicht einmal besonders negativ beschrieben«.

Dabei haben die jungen Leute genug Möglichkeiten, schon während des Studiums andere Berufe kennenzulernen. Frühzeitig möchte Martha Meyer-Althoff, Professorin am Interdisziplinären Zentrum für Hochschuldidaktik in Hamburg, ihren Seminarteilnehmern einen realistischen »Bezug zur Vielfalt der Möglichkeiten« vermitteln. »Keines der Fächer bereitet gezielt auf einen Beruf vor«, sagt die Expertin, die Geisteswissenschaftler bei der Berufswahl berät. Aber das sei gerade der Vorteil: »Nichts ist sicher, aber vieles ist möglich.«

Das wird zunehmend auch für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen gelten. Nach dem Fall der Mauer wurden im Osten viele neue Jobs geschaffen. Wie bei den Lehrern wird jedoch die Finanznot der öffentlichen Haushalte verheerend durchschlagen. Bausch: »Der Arbeitsmarkt für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen wird in den nächsten Jahren zusammenbrechen.«

Die Aussichten für Geisteswissenschaftler in den neuen Ländern sind grundsätzlich trübe: Ottomar Thiele, Berater beim Arbeitsamt Halle, hat Hunderten von Ratsuchenden derzeit keine einzige offene Stelle anzubieten.

Angehende Rundfunkjournalisten, PR-Berater oder Messefachleute aber haben nach seiner Erfahrung weiterhin Chancen, selbst wenn sie nur wenige Praktika vorweisen können. »Den Umbruch im Osten hat so mancher genutzt«, beobachtet auch Martha Meyer-Althoff. Allerdings: Offen angeboten werden solche Stellen nur selten.

Hat die mühsame Suche aber Erfolg, genügt für den Einstieg fast überall ein normaler Studienabschluß - Staatsexamen oder Magister Artium. Besonders gern gesehen sind Praktika und Auslandssemester.

Doktor zu sein, so Martha Meyer-Althoff, brauche hingegen nur, wer im Feudalsystem der Universität selbst Karriere machen wolle - ein besonders riskanter Weg: Die Mehrheit der Dozenten muß heute bis übers 40. Lebensjahr hinaus von Zeitverträgen leben.

Vor allem in der Wirtschaft schlagen das höhere Alter und die Praxisferne promovierter Bewerber eher negativ zu Buch. Noch immer gelten Geisteswissenschaftler bei vielen Personalchefs zudem als eigenbrötlerisch, arrogant und dennoch wenig selbstsicher. »Für mich ist jemand mit Ihrem Studium ein Traumtänzer; beweisen Sie mir mal, daß Sie das nicht sind« - das bekam Torsten Temp, 33, heute in der Marketingabteilung einer Hamburger Bank tätig, zu hören, als er vor fünf Jahren nach dem Germanistik-Examen bei der Bayerischen Vereinsbank vorsprach.

Den Beweis hat Ulrich Hemel, 37, geliefert, der mit seiner Promotion, ja sogar der Habilitation in katholischer Theologie überall als Dozent willkommen wäre.

Doch seit anderthalb Jahren, nach einem Schnellkurs in der »gemeinsamen Sprache« Betriebswirtschaft, arbeitet Hemel, der während seiner Assistentenzeit auch noch die kleine Software-Firma Ecclesiadata aufbaute, für die Münchner Unternehmensberatung Boston Consulting.

Statt »muffig, aber warm« in Uni-Atmosphäre hat er es nun »zugig, aber frisch« - Teamarbeit und ständig neue Projekte, erzählt er, reizten ihn letztlich mehr als Forscherehren. »Im Mix der Fähigkeiten« sehe sein Arbeitgeber »einen Wert per se«, darum würden Beratergruppen gern aus Absolventen verschiedenster Fächer zusammengestellt.

»Auch mal einen Zwischenton hören« - das, so Hemel, könnten Geisteswissenschaftler besonders gut. Bei Personalmanagern eine gefragte Eigenschaft. Zielbewußt und brillant sollten Kandidaten allerdings sein: Nur einer von 100 Bewerbern ist den hohen Erwartungen der Beratungsfirma genehm.

Von vornherein vorsichtig war zum Beispiel Peter Ptassek, 32, als er im vorigen Jahr eine seiner Bewerbungen ans Auswärtige Amt schickte. Der Philosoph, dessen Doktorarbeit von der Geschichte der Rhetorik handelt, peilte einen Job »im Bereich von Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft« an.

Nach einigen Vorstellungsgesprächen waren die Selbstzweifel noch gestiegen: »Anfangs dachte ich, mir fehle solide Praxiserfahrung«, sagt der angehende Diplomat, der während des Studiums für Zeitung und Rundfunk gearbeitet und außerdem ein Jahr in Paris verbracht hatte.

Zur Forschung habe er sich »nicht berufen gefühlt«, meint Ptassek, zum Attache freilich ebensowenig: »Ich wußte nicht, was das eigentlich ist.« Nur daß er suchen mußte, war ihm klar. »Mein Studium lief auf nichts Bestimmtes hinaus - dieser Druck, unter dem ich dauernd stand, war belastend, aber auch produktiv«, erinnert er sich.

Viele versuchen, sei es mit neuerdings beliebten Graduierten-Kollegs, sei es mit zusätzlichen Studiengängen, ihre Berufsaussichten zu verbessern. Doch vor allem Aufbaustudien sind bei Personalchefs unbeliebt.

»Draufsatteln ist meist Quatsch«, sagt Martha Meyer-Althoff, »dem Beruf ist man meist keinen Schritt näher dadurch«, bloß älter geworden. Ob ein Theologe »christlicher Publizist« (Uni Erlangen), ein arbeitsloser Denker »Wirtschaftsphilosoph« (Uni Frankfurt) wird - den Stellenmarkt verändert das kein bißchen zu seinen Gunsten.

Deshalb sollten Jungakademiker, so die Hamburger Expertin, selbst boomende neue Vollstudiengänge wie die »Sprachen-, Wirtschafts- und Kulturraumstudien« _(* Günter Blamberger, Hermann Glaser, ) _(Ulrich Glaser (Hrsg.): »Berufsbezogen ) _(studieren. Neue Studiengänge in den ) _(Literatur-, Kultur- und ) _(Medienwissenschaften«. Verlag C. H. ) _(Beck, München; 248 Seiten; 34 Mark. ) (Passau) oder »Medien-Planung, -Entwicklung und -Beratung« (Siegen) ohne Heilserwartung anschauen. Ähnliche Skepsis äußern Branchenkenner in dem Übersichtsband »Berufsbezogen studieren«, einer handlichen Liste aller Angebote dieser Art*.

Am meisten bringen den Studenten Neugier und Entschlossenheit. So können zukunftsbesorgte Geisteswissenschaftler heute vielerorts Programme für Praktika nutzen, die Uni und Wirtschaft gemeinsam ausarbeiten.

Richard Merk von der Bielefelder Industrie- und Handelskammer betreut im Projekt »Studierende und Wirtschaft« pro Jahr über 40 Studenten, überwiegend Geistes- und Sozialwissenschaftler, die neben ihrer Uni-Ausbildung zwei bis vier Semester lang praktische Erfahrungen sammeln können. »Der mit Abstand chancenreichste Bewerbungsweg«, so zeigte eine Umfrage für das Handbuch »Berufsbezogen studieren«, ist in der Privatwirtschaft der frühzeitige und direkte Kontakt zum späteren Arbeitgeber.

Ziellose Hektik sollte Geisteswissenschaftler darum nicht befallen. Der Linguist Wolfgang Hehn, 36, etwa mußte geraume Zeit warten, bis seine akademischen Kenntnisse sich auszahlten.

Nach seinem Studium der Sprachwissenschaft ging er zur Polizei. Heute untersucht Hehn beim Wiesbadener Bundeskriminalamt Tonbandaufnahmen von Gangsterstimmen oder Erpresserbriefe nach sprachlichen Eigenheiten.

Derzeit hat er es mit den telefonisch oder schriftlich übermittelten Forderungen, Dutzende sind es mittlerweile, des Kaufhaus-Erpressers Dagobert zu tun. *HINWEIS: ENDE
*VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:

Fast verdreifacht *

hat sich seit 1986 die Zahl der Studienanfänger für ein Lehramt. Zwar blieben in den vergangenen Jahren immer weniger Lehrer ohne Job, doch Fachleute warnen: Ende des Jahrzehnts drohe eine massivere Lehrerarbeitslosigkeit als in den achtziger Jahren. Geisteswissenschaftler erleben heute schon einen immer härter werdenden Konkurrenzkampf. Die Aussicht, bei einem Verlag, in der Erwachsenenbildung oder an einer Theaterbühne unterzukommen, ist nach Aussage eines Berufsberaters mit »1:100 nicht einmal besonders negativ beschrieben«.

[Grafiktext]

_149_ Arbeitslos gemeldete Lehrer mit abgeschl. Univ.-ausbildung

_152_ Studienanfänger mit angestrebter Lehramtsausbildung

[GrafiktextEnde]

* An der Universität Lüneburg.* An der Universität Hamburg.* Günter Blamberger, Hermann Glaser, Ulrich Glaser (Hrsg.):"Berufsbezogen studieren. Neue Studiengänge in den Literatur-,Kultur- und Medienwissenschaften«. Verlag C. H. Beck, München; 248Seiten; 34 Mark.

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