Berufschancen: Naturwissenschaftler u. Ingenieure
Karlheinz Radermacher, der frühere Entwicklungschef von BMW, wollte damals schon »zum Lasso greifen«, um die begehrten Ingenieure »auf der Straße zu fangen«. Wie im Schlaraffenland fühlten sich in den Achtzigern die frischgebackenen Techniker, bereitwillig griffen sie nach den Sahnestücken der Jobbörse.
Wenn das mit dem Studentenschwund so weitergehe, trommelte der Verband Deutscher Elektrotechniker noch im Herbst 1990, würden der Industrie bald Tausende Ingenieure fehlen.
Goldene Jahre auch für Naturwissenschaftler. »Ein Physikstudent, der weiß, wie Halbleiter geschrieben wird, ist schon engagiert«, verkündete in jener Zeit, als die PC die Büros und Kinderzimmer eroberten, der hannoversche Physikprofessor Eberhard Tiemann. »Traumhafte Steigerungsraten« bei den Stellenangeboten ermittelte das Handelsblatt 1989.
Aus, vorbei. Die Kolonnen von Physikern, Mathematikern, Chemikern und Ingenieuren, die jahrelang damit rechnen _(* Die Zahlen gelten für die alten ) _(Bundesländer. ) konnten, leichtfüßig die Gipfel des Arbeitsmarktes zu erklimmen, sind praktisch ohne Vorwarnung abgestürzt - die erfolgsverwöhnten Techno-Akademiker schlugen unsanft in jenem Jammertal auf, wo arbeitslose Lehrer, Philosophen und Germanisten schon eine ganze Weile herumkrauchen.
Als ließe ein unsichtbarer Jobkiller seine scharfe Klinge sausen, werden gegenwärtig nahezu alle Sparten im weitgefächerten Bereich der Ingenieurs- und Naturwissenschaften brutal rasiert*: *___Fast 9000 Maschinenbauingenieure meldeten sich im ____letzten Jahr arbeitslos, fast doppelt so viele wie noch ____sechs Jahre zuvor. Kam 1986 auf eine offene Stelle im ____Durchschnitt ein Bewerber, so kämpften im vergangenen ____Jahr mehr als zehn Interessenten um einen Job. *___Über 6000 Elektroingenieure waren 1992 als Arbeitslose ____registriert, dreimal so viele wie 1986. Die vor wenigen ____Jahren noch so gefragten Energie-, Nachrichten- und ____Elektrotechniker haben die Sozialpädagogen in der ____Arbeitslosenstatistik rechts überholt. *___Bei den Physikern nahm die Zahl der offenen Stellen ____1992 gegenüber dem Vorjahr um 34 Prozent ab, bei den ____Biologen sogar um 49 Prozent. Gleichzeitig wuchs der ____Berg der jobhungrigen Bewerber bei den Physikern um 36 ____Prozent, bei den Biologen um 15 Prozent. *___Fast 4000 Chemiker und Chemieingenieure waren 1992 ____arbeitslos, 490 mehr als im Vorjahr. »Der Arbeitsmarkt ____für Chemiker ist tot«, klagt ____Edda Gräber, Fachvermittlerin beim Arbeitsamt in ____Frankfurt.
Der tiefe Fall kam ganz plötzlich, vor zwei, drei Jahren, als Deutschland in die schlimmste Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs schlitterte (siehe Grafik Seite 156).
Die Rezession tobt sich ausgerechnet in jenen industriellen Wirtschaftszweigen aus, in denen Naturwissenschaftler und Techniker bislang vorrangig eine Stelle fanden: Die chemische Industrie plant, in diesem Jahr 20 000 Arbeitsplätze abzubauen; die Automobilbranche wankt bedrohlich, allein Daimler-Benz will 44 000 Stellen wegfegen; die Luft-, Raumfahrt- und Rüstungsindustrie, lange Jahre vom Staat künstlich beatmet, liegt flügellahm am Boden; den Pharmafirmen, der Elektrobranche und dem Maschinenbau geht es so dreckig wie lange nicht.
»Die schnaufen alle ganz fürchterlich«, sagt Peter Dietz, Professor für Maschinenwesen an der TU Clausthal.
1992 fragten bei der Hoechst AG 1500 Chemiker um einen Job nach; in diesem Jahr stieg die Zahl der Bewerber schon auf 2500. Eingestellt hat der Frankfurter Chemiegigant im letzten Jahr aber gerade 50 Forscher, in diesem Jahr werden nur 20 eine Stelle finden. Halte die Wirtschaftskrise noch länger an, prophezeit ein Personalchef bei Hoechst, »dann werden wir kaum noch jemanden holen«.
Der Elektronikriese Siemens nimmt in diesem Jahr nur noch halb so viele Akademiker wie 1992. Die Lufthansa, die in diesem Jahr mit insgesamt 10 000 Bewerbungen von Hochschulabgängern rechnet, hat sich bei den Einstellungen sogar eine eiserne Nulldiät verschrieben.
Waren es vor einigen Jahren vor allem Akademiker mit schlechten Examensnoten oder ewige Studenten im 23. Semester, die einen langen Weg der Jobsuche vor sich hatten, rutschen jetzt auch die Strebsamen durchs Sieb. »Früher fing das Mittelfeld der Bewerber bei einem Notendurchschnitt von 3,3 an, heute beginnt es bei 2,6«, sagt Michael Stuber, Leiter für Nachwuchsprojekte bei der Kölner Personalberatung Staufenbiel.
»Noch nie zuvor haben sich bei mir so viele strahlende, junge, gut ausgebildete Naturwissenschaftler arbeitslos gemeldet«, berichtet die Fachvermittlerin Magaret Horstmann vom Arbeitsamt Hamburg. »Vor einigen Jahren wären die alle mit Kußhand genommen worden.« Speziell bei den Ingenieuren, so Horstmann, führten Rezession und Strukturwandel in der Wirtschaft zu einem »Erdrutsch bei den Jobs«.
Jörg Müller, Professor für Elektrotechnik an der TU Hamburg-Harburg, teilt diese Beobachtungen: »Vor drei Jahren war die Welt noch in Ordnung, seither geht es im Sturzflug abwärts.« Seine Absolventen müßten sich, so Müller, »gehörig nach der Decke strecken«.
Auch unter den Studierenden an den Universitäten und Fachhochschulen hat sich mittlerweile herumgesprochen, welch düstere Wolken über den naturwissenschaftlich-technischen Fakultäten auf einmal aufgezogen sind - für die älteren Semester, die zu Beginn ihres Studiums von einem festen Ticket für einen Platz an der Sonne ausgingen, hat es ein böses Erwachen gegeben.
»Als ich vor acht Jahren anfing zu studieren«, erinnert sich verbittert die Hamburger Physikerin Jutta Szulkiewitz, 27, »wurden einem die Jobs regelrecht nachgeschmissen.«
Während ihrer Diplomarbeit erforschte Szulkiewitz das exotische Wechselspiel von Edelgasmolekülen. Nun muß sich die Physikerin, die im Januar ihr Diplom bestand, durch verstaubte Aktenberge wühlen: Als Justizangestellte bearbeitet sie für das Hamburger Amtsgericht Mahnbescheide. »Eigene Denkleistung wird da von mir nicht erwartet, das nervt mich ganz gewaltig.«
So wie ihr geht es vielen ausgebildeten Physikern, die sich als Altenpfleger, als Verkäufer oder als Briefesortierer bei der Post durchschlagen müssen.
Immer mehr Diplomphysiker glauben zudem, sie könnten leichter einen Job in der Industrie finden, wenn sie promovieren, was sich in der Physik gewöhnlich fünf quälend lange Jahre hinzieht. Für einen Hungerlohn (von zirka 1500 Mark netto) müssen sie dann für die Professoren als wissenschaftliche Leibeigene dienen. Die Bezahlung von Doktoranden sei die »letzte Insel des Frühkapitalismus«, hat sogar der unionsnahe Ring Christlich-Demokratischer Studenten erkannt.
Mehr und mehr Diplomphysiker entscheiden sich für eine ganz andere Warteschleife an der Uni: Sie hängen schnell noch ein Pädagogik-Studium dran, in der vagen Hoffnung, hinterher im Schulbetrieb unterzukommen - Lehrer mit der Fächerkombination Physik und Mathematik werden derzeit noch gesucht.
Der Marsch in die Klassenzimmer liegt immerhin noch näher am erlernten Beruf als das, was sich andere Naturwissenschaftler und Ingenieure einfallen lassen, um Geld zu verdienen: Ein Hamburger Chemiker eröffnete kürzlich eine chemische Reinigung, ein Biologe aus Berlin machte einen Gemüseladen auf, ein Elektrotechniker verkauft medizinische Geräte.
»Keine Illusionen« macht sich der angehende Maschinenbauer Sven Voß, 26, aus München: »Mit dem, was ich studiert habe - Luft- und Raumfahrttechnik -, habe ich ja doch keine Aussichten.« Auch nach 100 Bewerbungen, so Voß, hätten viele Studienkollegen noch keinen Job, »das ist ziemlich demoralisierend«.
Etliche Maschinenbauer, so hat Voß von Kommilitonen erfahren, wollen sich nach ihrem Studium in drei Jahren zum Patentanwalt ausbilden lassen. Doch das ist, wie es scheint, auch nicht gerade ein Job mit Zukunft.
Die Talfahrt bei den Patenten ist besorgniserregend: Kamen in den fünfziger Jahren noch 80 Prozent aller in Deutschland angemeldeten Patente aus dem Inland, waren es 1978 rund 50 Prozent und 1990 nur noch 35 Prozent - ein Zeichen des Niedergangs, das nichts Gutes für die Zukunft erwarten läßt.
Die Bereitschaft der deutschen Industrie zu »technischen Visionen«, so kritisierte unlängst der Patentamts-Präsident Erich Häußer, habe »erkennbar gelitten« - Erfinderflaute herrsche besonders im Bereich der Mikroelektronik.
Aber nicht nur bei den Computerchips hat Deutschland den Anschluß verloren; auch der chemischen Industrie, einst führend bei der Herstellung von Farben, Düngemitteln und Sprengstoffen, fällt nicht mehr viel ein, wie Ketzer meinen.
Die pharmazeutisch-chemische Industrie habe es versäumt, kritisiert der Tübinger Biochemieprofessor Bernd Hamprecht, sich rechtzeitig für biologische Einflüsse zu öffnen: »Die Chemie war zu chemisch, dies ist einer der Gründe, weshalb dieser einst so große Industriezweig den Bach runtergeht.« Die klassische Chemie, die tagtäglich neue synthetische Stoffe in ihren Labors zusammenbraut, sei »völlig out«, meint Hamprecht.
Weil die Chemiker weit stärker am Tropf der Industrie hängen als andere Naturwissenschaftler, trifft sie der wirtschaftliche Niedergang besonders hart; drei von vier Chemikern schaukelten ihre Reagenzgläser bislang für die Chemieindustrie.
Auch der fleißige Doktor der Chemie Constantin Stephan, 28, war fest davon ausgegangen, in seinem Leben auf keinen Fall »Kaffeeholer oder Laufbursche« zu werden: In Rekordzeit von 16 Semestern hat der Einser-Abiturient studiert und promoviert, hat nebenbei ein Patent veröffentlicht und spricht fließend vier Sprachen.
Doch seit eineinhalb Jahren ist Stephan, der 160 erfolglose Bewerbungen geschrieben hat, arbeitslos: »Und ich dachte, innerhalb eines Monats kriegst du garantiert einen Job.«
Die Realität ist eine andere, »vor allem für Frauen«, wie die Frankfurter Chemiestudentin Sibylle Neuloff, 25, aus dem neunten Semester erzählt. Nur wer ein ausgezeichnetes Abschlußzeugnis vorweisen kann, hat Neuloff beobachtet, wird von seinem Prof irgendwo untergebracht, »die anderen bleiben auf der Strecke«.
Für Biochemiker sieht es offenbar nicht ganz so düster aus. Obwohl die Chemie- und Pharmafirmen bereits unzählige gentechnische Anlagen in die USA verlagert haben, sind seine Absolventen, wie Hamprecht stolz erzählt, bis jetzt immer noch irgendwo untergekrochen, »auch dann - was mich selbst überrascht -, wenn sie mit schlechten Noten aus meiner Doktorprüfung kamen«.
Die vergleichsweise zuversichtliche Prognose hängt damit zusammen, daß Biochemiker bestens für die Aufgaben der Zukunft gerüstet sind.
Eine »Renaissance« prophezeit Hamprecht beispielsweise der Naturstoffchemie. Pharmaforscher suchen neuerdings in tropischen Regenwäldern und auf dem Meeresgrund nach Heilpflanzen, aus denen sie viel schneller Wirkstoffe destillieren können als im Chemielabor - die Natur als Apotheke wird neu entdeckt.
»Die Evolution hat eine unermeßliche Fülle von Stoffen hervorgebracht, die bis heute unerforscht geblieben sind«, sagt Hamprecht - dies sei ein riesiges, nahezu unerschlossenes Betätigungsfeld für ausgebildete Biochemiker, die wiederum auch für die boomende Erforschung des menschlichen Immunsystems dringend gebraucht würden.
Von solchen Inseln der Glückseligen, die noch nicht von einer Flutwelle von Arbeitsuchenden überschwemmt werden, sind bei den Forschern und Technikern nicht mehr allzu viele übriggeblieben (siehe Kasten Seite 166).
Genaugenommen haben nur Bauingenieure hervorragende Aussichten, sie »zählen heute zu den gefragtesten Akademikergruppen«, wie ein aktueller Absolventenreport des Hochschul-Informations-Systems (HIS) in Hannover feststellt. »Uns werden die Leute buchstäblich aus den Händen gerissen«, bestätigt Professor Johann-Dietrich Wörner von der Fachhochschule Darmstadt.
Zuweilen ringen Baufirmen schon zäh um die Gunst von Wörners Studenten, wenn diese noch über ihrer Diplomarbeit brüten. Alexander Vogel, 25, war vollauf damit beschäftigt, am Computer eine wasserdichte Bodenabdichtung für Tankstellen zu gestalten, als ihm drei große Unternehmen bereits verlockende Verträge anboten.
Doch Vogel will erst einmal an der Hochschule bleiben und promovieren. Zwar hätte er bei den Baufirmen bis zu 2000 Mark mehr im Monat verdient, dafür aber »werde ich später weiter auf der Karriereleiter nach oben klettern«.
So cool hätte Vogel bis vor kurzem nicht auftrumpfen können: Bis Mitte der achtziger Jahre steckte die Baubranche in einer tiefen Rezession. Erst 1987 bahnte sich die Wende an; spätestens mit der deutschen Einheit verwandelte sich die lahme Bauwirtschaft in einen hochtourigen Motor der Konjunktur - vor allem wegen des gewaltigen Nachholbedarfs in Ostdeutschland, aber auch aufgrund des erforderlichen Wohnungsneubaus im Westen.
Der Bauboom wird voraussichtlich noch eine ganze Weile andauern: Bis zum Jahr 2005 sollen allein in den neuen Ländern Bauten für schätzungsweise 2,4 Billionen Mark aus dem ostdeutschen Boden gestampft werden.
Verkehrte Welt: In den Krisenjahren rutschte die Zahl der Erstsemester von 8508 (im Wintersemester 1983/84) auf 5015 (im Wintersemester 1986/87) - die allzu flinke Anpassung der Studierenden an den allmächtigen Markt hat dummerweise dazu geführt, daß ausgebildete Bauingenieure derzeit händeringend gesucht werden. Fehlten 1989/90 bereits 716 frische Kräfte, waren es im vergangenen Jahr schon über 3000.
Laut HIS-Report ist der Mangel an Bauingenieuren für die Bauwirtschaft geradezu »zum Wachstumshemmnis« geworden; speziell jene Diplom-Bauingenieure sind jetzt in beneidenswerter Lage, wie die Arbeitsmarkt-Gelehrten schreiben, die zu Beginn ihres Studiums »kaum auf gute Berufsaussichten hoffen konnten«.
Das Beispiel macht deutlich, wie unsinnig es ist, von einer Fachrichtung abzuraten oder gar ein bestimmtes Studium zu empfehlen. Langfristige Bedarfsprognosen stünden generell auf wackligen Füßen, gesteht Holger Hillmer, der seit 20 Jahren beim Verein Deutscher Ingenieure die Arbeitsmarktlage der Techno-Akademiker verfolgt: »Ehrlich gesagt, das ist doch alles nur Kaffeesatzleserei.«
Immerhin, kaum ein Fachmann zweifelt daran, daß die sprichwörtliche Konjunkturlokomotive irgendwann wieder anspringt. Doch fraglich ist, ob sich dann auch die düstere Lage für die industrieabhängigen Naturwissenschaftler und Techniker bessern wird.
Selbst bei einem zu erwartenden Aufschwung wird sich zumindest der industrielle Sektor der Volkswirtschaft - ob Auto oder Stahl, Elektro oder Chemie - weiter gewaltig automatisieren. Nach Schätzungen gehen bis zur Jahrtausendwende zwischen zwei und drei Millionen Arbeitsplätze verloren - unter anderem deshalb, weil immer mehr Betriebe komplette Abteilungen ins Ausland verlagern, wo Biologen, Chemiker und Physiker billiger zu haben sind.
Auch an den hochqualifizierten Technikern, den einstigen Stützen der deutschen Wirtschaft, wird der dauerhafte Jobschwund im produzierenden Gewerbe nicht spurlos vorübergehen. Deren Lohnkosten betrügen in anderen westeuropäischen Ländern nur »60 bis 70 Prozent der deutschen Ingenieurstunde«, klagt Lothar Jaeschke, Chef der Dortmunder Uhde GmbH, einer Spezialfirma für Chemieanlagen.
Die Konzerne passen sich geschmeidig der internationalen Marktlage an. Die Volkswagen AG betreibt ein Werk im chinesischen Schanghai: Nur 28 Deutsche arbeiten in den Fabrikhallen, in der Produktion sind alle Ingenieure Chinesen - »so schnell wie die lernt niemand auf der Welt«, versichert VW-Vorstand Martin Posth.
Viele Unternehmen, vor allem in der Automobilbranche, haben zudem eine Zauberwaffe gefunden, mit der sie sich jetzt in der Krise für die künftigen Schlachten auf dem Weltmarkt rüsten wollen: die »lean production«, ein neues, schlankes Herstellungsverfahren. Die »lean production« braucht, daher der Name, von allem weniger als die herkömmliche Massenfertigung: die Hälfte an menschlicher Arbeit, die Hälfte an Investitionsaufwand für Maschinen, die Hälfte an Entwicklungszeit.
Die Fabrik-Diät basiert darauf, daß der gesamte Produktionsprozeß anders organisiert wird. Die Stückzahlen pro Serie werden klein gehalten, die Produkte werden in engem Wechselspiel zwischen Ingenieuren und Arbeitern ständig verbessert. Kleine Teams arbeiten als mehr oder weniger selbständige Abteilungen. Am Ende der wundersamen Entschlackung - das ist allen Fachleuten klar - werden die Unternehmen erheblich weniger Menschen in ihren Fabrikhallen beschäftigen. Streit gibt es nur um eine Frage: Brauchen die Betriebe dann noch weniger Ingenieure und Naturwissenschaftler - oder erfordern die eigenständig werkelnden Teams eher mehr akademisches Führungspersonal? Die Ökonomen stochern im Nebel.
Als sicher gilt nur, daß der Wettbewerb um die weniger werdenden Jobs in Zukunft mit noch härteren Bandagen ausgetragen wird: Auf dem schrumpfenden Pharmasektor konkurrieren Biologen und Chemiker neuerdings mit der rapide wachsenden Zahl arbeitsloser Ärzte; Physiker und Informatiker drängen gleichermaßen in die Computerbranche; und die Heerscharen an Ingenieuren duellieren sich immer häufiger mit den unzähligen Betriebswirtschaftlern um die raren Führungsposten - wer als Sieger das Schlachtfeld verlassen wird, steht noch nicht fest.
»Im Management werden die Betriebswirte Boden an die Ingenieure verlieren«, sagt der Mainzer Marketingprofessor Hermann Simon voraus. Für Simon ist der »Brückenschlag« zwischen Technik und Ökonomie schon lange überfällig; eine naturwissenschaftliche Ausbildung sei aber nun einmal leichter durch kaufmännisches Wissen zu ergänzen als umgekehrt. Soll heißen: Werkzeugmaschinen und Schweißroboter sind für Laien schwerer zu begreifen als die doppelte Buchführung.
»Der Generalist unter den Ingenieuren ist der Mann der Zukunft«, glaubt auch Volker Witzemann, Leiter der Personalabteilung beim Münchner Autozulieferer Knorr-Bremse. Doch die Karriere eines Technikers wird sich, anders als bisher, künftig eher im Schneckentempo vollziehen.
»Die geradlinig aufsteigende Kaminkarriere ohne Umwege ist nicht mehr gewünscht«, sagt Witzemann; statt dessen würden die Firmen die Jung-Ingenieure zu einem »Zickzackkurs zwischen Entwicklung, Vertrieb oder kaufmännischem Bereich« verdonnern.
Der Bochumer Innovationsforscher Erich Staudt hält dies für einen sehr vernünftigen Ansatz. Staudt verweist auf »meinen Freund« im Management von Sony, der seine japanischen Physiker und Elektroingenieure mit schöner Regelmäßigkeit »ins Kaufhaus« steckt; dort müssen sie sich dann »zwei Monate lang abstrampeln«, um eigenhändig an den Mann zu bringen, was sie sich im Labor an - oft unsinnigem - technischem Spielkram ausgeknobelt haben.
Viele Ingenieure werden ihren Lebensplan in den nächsten Jahren aber noch weitaus stärker verbiegen müssen als die geplagten Sony-Tüftler; einige müssen schon heute als Sachbearbeiter in einem kleinen Betrieb anfangen.
Viele Studenten in Ostdeutschland schreckt diese Vorstellung nicht sonderlich, sie sind froh, überhaupt einen Job zu kriegen: Mathias Schulz, 25, der an der TU Dresden Produktionstechnik studiert (eine Spezialisierung von Maschinenbau), wäre ohne weiteres bereit, »als Seiteneinsteiger zur Bank oder zu einer Unternehmensberatung zu gehen«. Schulz gewinnt der Krise sogar positive Seiten ab: »Früher hatte man solche Freiräume gar nicht, da war es eher riskant, vom vorgegebenen Pfad abzuweichen.«
Für die Mehrzahl der Hochschulabgänger indes wäre es offenbar eine Art Alptraumjob, müßten sie im Leben nach dem Studium nicht im Labor, sondern hinter der Ladentheke stehen.
So könnten Biologen derzeit ohne Schwierigkeiten eine (vergleichsweise gut bezahlte) Stelle als Pharmareferent kriegen, dessen Aufgabe darin besteht, im Außendienst Krankenhäuser, Ärzte und Apotheken abzuklappern. Die meisten Biologen halten diese Tätigkeit jedoch für ein »armseliges Klinkenputzen«, wie die Molekularbiologin Bettina Maschke, 29, formuliert: »Ständig muß man den Ärzten nachrennen und nett sein, um ihnen neue Medikamente anzudrehen.«
Maschke blieb das Schicksal einer Pillenverkäuferin erspart; mit »Wahnsinnsglück« gelang es ihr, bei einem privaten Münchner Forschungsinstitut anzuheuern. Dort versucht sie nun, das tückische Hepatitis-B-Virus zu enträtseln.
Ein zwiespältiges Verhältnis zur Wirtschaft wird gerade den Biologen seit jeher nachgesagt; nur knapp jeder achte arbeitet für die Industrie. Nicht wenige von ihnen würden lieber im Botanischen Garten die Blumen gießen, im Museum die angestaubten Knochen der Dinos sortieren oder den Schülern das Liebesleben der Bienen nahebringen - wie in der guten alten Zeit eben die Arbeit der Biologen aussah.
Noch in den sechziger Jahren fand die Mehrheit der Biologen, aber auch der Mathematiker, Physiker oder Geologen einen Arbeitsplatz im Öffentlichen Dienst - bei Behörden und Ämtern, als Gymnasiallehrer oder an den Universitäten. Die Elite der Naturforscher konnte sich - an unabhängigen, weil ganz oder großenteils staatlich finanzierten Instituten - ungestört der hehren Grundlagenforschung widmen.
Das änderte sich nachhaltig erst in den siebziger Jahren, als auf einmal Massen von Studenten in die Hörsäle drängten. In dem Maße, in dem die Hochschulen zum Nadelöhr für Berufsanfänger wurden, suchten viele Naturwissenschaftler ihren Platz in der Industrie. Als besonders anpassungsfähig erwiesen sich die Physiker, die überwiegend in der Computerbranche Unterschlupf fanden - jedenfalls solange es noch einen akuten Mangel an Informatikern gab.
Seit Naturwissenschaftler und Ingenieure »auf den Straßen zur Großindustrie im Stau stecken« (Staudt), hoffen viele von ihnen, an den Universitäten unterzukommen - wohl vergebens.
Bis zum Jahr 2000 müssen an den naturwissenschaftlichen Fachbereichen zwar alljährlich knapp 200 Professoren, die aus Altersgründen ausscheiden, durch Frischblut ersetzt werden, ein Generationswechsel findet statt; doch gleichzeitig spucken die Lehranstalten Jahr für Jahr allein rund 20 000 fertig ausgebildete Biologen, Chemiker, Physiker und Informatiker aus. Von den derzeit 1,8 Millionen Studierenden will nahezu jeder dritte Naturwissenschaftler oder Ingenieur werden - ein gewaltiger akademischer Lindwurm, der sich durch die Lande wälzt.
Nur wenigen Naturwissenschaftlern wird es in Zukunft vergönnt sein, sich ihren Lebenstraum in der Forschung erfüllen zu können. Die insgesamt 64 Institute der Max-Planck-Gesellschaft beispielsweise - die als Durchlauferhitzer begabten Wissenschaftlern ermöglichen sollen, hemmungslos drauflos zu experimentieren - nehmen nach eigenen Angaben nur jährlich 500 Akademiker auf.
Wenn die ausgebildeten Physiker, Chemiker und Elektroingenieure nicht im Strudel der Arbeitslosigkeit ersaufen wollen, müssen sie deshalb bereit sein, steinigen Boden und ungewohntes Terrain zu betreten. Ein fremdes Land ist für die meisten von ihnen die stark expandierende Dienstleistungsbranche.
Erst zwischen drei und sechs Prozent aller Naturwissenschaftler und Ingenieure verdienen sich bislang mit Dienstleistungen und Beratungen ihren Lebensunterhalt, wie Beate Krais vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ermittelt hat; rund 80 Prozent arbeiten hingegen in der Industrie, an den Hochschulen oder als Lehrer.
Dabei gibt es »für Selbständige und Freiberufler noch riesige Chancen«, wie der Unternehmensberater Bernd Andersch sagt. Im Dienstleistungssektor gleicht der Industrieriese Deutschland bislang einem mickrigen Zwerg. Nur von 44 auf 55 Prozent stieg der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe an der Zahl aller Erwerbstätigen seit 1970 - in Großbritannien und in den USA liegt diese Quote längst über 70 Prozent.
Die Filmwirtschaft beispielsweise ist für Amerika der zweitwichtigste Devisenbringer. Und erst in blassen Konturen zeigt sich jener molochartige Mega-Markt, der nach Expertenmeinung aus der Vereinigung von Kommunikations-, Computer- und Unterhaltungsindustrie hervorgehen wird.
Auch in der (west-)deutschen Dienstleistungsbranche wird laut einer aktuellen Studie des Londoner Marktforschungsinstituts DRI die Zahl der Jobs bis 2002 jedes Jahr um 0,4 Prozent zunehmen - die Zahl der Beschäftigten in der Industrie wird hingegen jährlich weiter um 0,7 Prozent schrumpfen.
So kann die Flucht in eine kleine Beratungsfirma oder in die Selbständigkeit für Forscher und Techniker allemal einträglicher sein als das lange Warten auf den gutbezahlten Job in der Industrie. Die Dienstleistungsbranche beschränkt sich längst nicht mehr auf Sparkassen, Eisdielen und Reisebüros. Es gäbe noch genug zu tun *___für einen gelernten Elektroingenieur, der verzweifelten ____PC-Besitzern Erste Hilfe leistet, wenn ihnen im ____unpassenden Moment der Computer abstürzt; *___für einen Physiker, der Hauseigentümern in ____Beratungsgesprächen verklickert, wie sie durch ____sparsamere Heizkessel und raffinierte Abwärmenutzung ____jouleweise kostbare Energie sparen können; *___für einen Mathematiker, der daheim an seinem Rechner im ____Auftrag mittelständischer ____Maschinenbaufirmen, die sich keine eigene ____Forschungsabteilung leisten können, technische Probleme ____knackt; *___für einen Nachrichtentechniker, der speziell auf ____Geschäftskunden zugeschnittene Telefon- und ____Datendienste vertreibt (in Deutschland gibt es erst 200 ____solche Anbieter, in Großbritannien mehrere tausend); *___für einen Chemiker, der im Auftrag von Investoren ____prüft, welch gefährlicher Giftcocktail auf einem ____stillgelegten Fabrikgelände im Boden schlummert; allein ____in Ostdeutschland gibt es 60 000 Verdachtsflächen für ____Altlasten - ein potentielles Milliardengeschäft.
Die Biologen, die schon Jahre vor den Physikern, Chemikern und Ingenieuren zuhauf gegen den Sog der Arbeitslosigkeit ankämpfen mußten, haben die Witterung längst aufgenommen. Eine wachsende Zahl von ihnen läßt sich vom Arbeitsamt zum betrieblichen Umweltschutzbeauftragten weiterbilden - die Öko-Berater helfen Unternehmen bei der umweltschonenden Planung von Fabrikationsanlagen oder bei der Müllentsorgung.
So beliebt ist diese Art von Öko-Dienstleistung inzwischen, daß die Jobs nun auch schon wieder rar werden: Vor drei Jahren hätten die meisten betrieblichen Umweltberater auf Anhieb eine Stelle gefunden, berichtet die Hamburger Arbeitsvermittlerin Horstmann, in diesem Jahr habe »höchstens jeder fünfte eine feste Zusage in der Tasche«.
Eine ganz andere Öko-Nische hat Rainer Gottfriedsen aufgespürt, »nachdem ich einige Runden mit dem Bewerbungskarussell fahren mußte«. Der Diplombiologe fand eine Stelle bei Bioplan, einer von vier Zoologen gegründeten Tübinger Firma, die Umweltverträglichkeitsstudien erstellt, etwa wenn irgendwo auf der grünen Wiese ein Golfplatz oder eine Straße entstehen soll.
Dann marschieren die Bioplan-Spezialisten ins Freiland und zählen die Spinnen, Schnecken und Vögel. Eine »langjährige Erfahrung etwa beim Unterscheiden der verschiedenen Vogelstimmen« sei für die Öko-Kartierung unerläßlich, betont Gottfriedsen. Von der »50- bis 60-Stunden-Woche« abgesehen, so der Biologe, sei die freiberufliche Tätigkeit »zutiefst befriedigend«.
Ob als Berater, Kommunikationsfachmann, Verkaufs- oder Umweltexperte - wer kreativ genug ist, wird auch in Zukunft im Jobdschungel eine Lichtung aufspüren.
Wie sich in den USA schon vor 20 Jahren gezeigt habe, behauptet der Innovationsforscher Staudt, sei ein plötzliches »Überangebot an technischer Intelligenz« sogar eine »Riesenchance« für Pioniertaten.
Als nach der geglückten Mondlandung 1969 die Raumfahrtprogramme rigoros zusammengestrichen wurden und vor allem jüngere Forscher und Techniker massenhaft auf der Straße landeten, gründeten einige der arbeitslos gewordenen Physiker, Elektrotechniker und Ingenieure in einem sonnigen Tal nahe der Bucht von San Francisco kleine Klitschen. In ihren Garagen löteten sie die ersten Halbleiterplatinen und Personalcomputer zusammen.
Heute, 20 Jahre später, beschäftigen die High-Tech-Firmen im Silicon Valley Hunderttausende.
»So brutal es sich anhört«, meint Staudt, »hätte die Nasa nicht 15 000 Leute entlassen, wäre dort, in jenem abgelegenen Wüstental, niemals aus dem Nichts das Zentrum der amerikanischen Computerindustrie entstanden.« *HINWEIS: Im nächsten Heft Gute Jobs für Ökonomen sind rar - Firmen stellen immer höhere Anforderungen - Juristen: Chancen im Osten
*VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:
Eine gesuchte Spezies *
auf dem akademischen Arbeitsmarkt sind immer noch Informatiker, aber auch Biochemiker und vor allem Bauingenieure. Jungforscher und -techniker anderer Fachrichtungen hingegen retten sich in Nischen und in die Selbständigkeit: Naturwissenschaftler und Ingenieure, die bis vor kurzem noch problemlos einen Job in der Industrie fanden, werden von der Wirtschaftskrise hart getroffen.
[Grafiktext]
_156_ Arbeitslos gemeldete Ingenieure und Naturwissenschaftler
[GrafiktextEnde]
* Die Zahlen gelten für die alten Bundesländer.