JUSTIZ Beschränkter Horizont
Es war nicht mehr als eine Vermutung, ein Verdacht, aber für den Angeklagten wurde er zum Verhängnis. Sie glaube, so sagte die Frau vor dem Kölner Landgericht, dass Hans Peter S., der sie als Anhalterin in seinem Auto mitgenommen hatte, sie »vergewaltigen wollte«. Die Richter verurteilten den Mann daraufhin wegen sexueller Nötigung zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis.
Da der damals 38-Jährige einschlägig vorbestraft war und ihm Gutachter einen »Hang« zu Sexualdelikten attestierten, bekam er vom Gericht zusätzlich Sicherungsverwahrung: Die Allgemeinheit sollte vor ihm geschützt sein.
Im März 2010 wäre Hans Peter S. nach fast 15 Jahren freigekommen - wenn der Bund 1998 die Gesetzeslage nicht geändert hätte. Seitdem kann die Sicherungsverwahrung nicht mehr für maximal zehn Jahre verhängt werden, sondern potentiell bis ans Lebensende.
Doch jetzt scheint sich das Schicksal des Hans Peter S. zu drehen.
Denn am Donnerstag vorvergangener Woche urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR), dass diese Verschärfung in Fällen, in denen die Tat vor der Gesetzesänderung begangen worden war, gegen das Verbot rückwirkender Strafen verstößt.
Konkret ging es in dem EGMR-Urteil um die Sicherungsverwahrung eines 52jährigen Gewalttäters, der im hessischen Schwalmstadt einsitzt. In der Konsequenz betrifft es indes eine Vielzahl von Häftlingen, neben dem Sexualstraftäter Hans Peter S. auch notorische Betrüger, Einbrecher, Drogendealer - oder gar Geiselgangster wie Hans-Jürgen Rösner, der 1988 nach einem Bankraub einen Linienbus kaperte und dessen Komplize dabei einen 15-jährigen Jungen hinrichtete.
»70 Schwerverbrecher wollen sofort raus«, titelte »Bild« nach dem Straßburger Richterspruch - dabei ist die Zahl noch höher. Tatsächlich müssen allein in Bayern 18 Altfälle mit Sicherungsverwahrung hinzugerechnet werden, die derzeit noch ihre reguläre Haftstrafe absitzen.
Ein unangenehmes Urteil - für den deutschen Strafvollzug wie für die deutsche Justiz. Denn binnen zwei Wochen haben die Straßburger Richter zum zweiten Mal Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für Unrecht erklärt: Anfang Dezember monierten sie, dass Väter nichtehelicher Kinder hierzulande keine Möglichkeit haben, gegen den Willen der Mutter ein Sorgerecht zu bekommen. Und in der Vorweihnachtswoche stellten sie fest, dass die Sicherungsverwahrung auch eine Art Strafe ist - und der deutsche Gesetzgeber deshalb gegen ein fundamentales Prinzip verstoßen hat, das schon aus römischer Zeit überliefert und ausdrücklich im Grundgesetz verankert ist: das Gebot »nulla poena sine lege« - keine Strafe ohne vor der Tat bestehendes Gesetz.
Dass Staaten des ehemaligen Ostblocks, bei der Ausübung von Demokratie und Rechtspflege noch unausgereift, von Straßburg des Öfteren auf den Mindeststandard in Sachen Menschenrechte hingewiesen werden, erscheint verständlich. Dass die Bundesrepublik vom EGMR abgewatscht wird, steht für eine neue Epoche. Recht macht weniger denn je an den Grenzen des Nationalstaats halt: Es wird mehr und mehr international, europäisch, gar weltumspannend geprägt.
Und das führt zu Konflikten.
Mit seinen gläsernen Rotunden, den auf Stelzen ruhenden Verhandlungssälen und den farbenfrohen Gängen wirkt der EGMR wie ein futuristisches Versuchslabor. Und als Organ des Europarats - einer Vereinigung, die sich der Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet hat und der 47 Staaten angehören - ist es in der Tat ein erstaunliches Experiment: 47 Richter, aus jedem Mitgliedsland einer, wachen über die Menschenrechte, von den Kanarischen Inseln bis nach Sibirien. Und anders als beim Pendant auf EU-Ebene, dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, darf sich jeder Bürger persönlich bei den Straßburger Richtern beschweren. Jeder Staat muss sich deren Urteil beugen.
Die international besetzten Kammern des EGMR stehen damit fast zwangsläufig im Konflikt zu Gesetzen, die sehr präzise auf die Lebensverhältnisse, Gewohnheiten oder Traditionen des jeweiligen Staates zielen. Das Risiko, in Straßburg eine Niederlage zu kassieren, ist besonders hoch, wenn ein Landesrecht im internationalen Vergleich eher Ausnahmecharakter hat.
So warnten Experten schon vor Jahren, dass Straßburg die Deutschen für ihr Mütter-Monopol beim Sorgerecht früher oder später rüffeln werde - was nun geschah. »Beim Sorgerecht für Väter waren wir aufgrund eines überholten Familienbildes schon sehr lange Schlusslicht in Europa«, sagt der auf Menschenrechtsklagen spezialisierte Bielefelder Familienrechtsanwalt Georg Rixe, »und wir sind es bis heute geblieben.«
Nationale Gerichte, urteilt der Freiburger Anwalt und Fachbuchautor Michael Kleine-Cosack, seien traditionell »in ihrem Horizont beschränkt«. Wenn dann Richter aus unterschiedlichen Rechtskulturen zusammenkämen, »wird der Blickwinkel geöffnet, mit der Folge, dass man vieles kritischer sieht«.
Deutschland hat das schon häufiger erfahren müssen. So erlaubte das Bundesverfassungsgericht Anwälten und Architekten zu werben, nicht aber Ärzten - in Ländern wie England oder Frankreich war das indes gang und gäbe. »Erst als Straßburg den Fall eines betroffenen Arztes angenommen hat«, so Kleine-Cosack, »hat auch das Verfassungsgericht nachgezogen.«
Vor allem Strafjustiz und Polizei werden immer wieder wegen zu harter Regelungen oder Praktiken vom Menschenrechtsgerichtshof gerügt: So verurteilte er im Juni 2006 den zwangsweisen Einsatz von Brechmitteln bei der Drogenfahndung - sie werden verwendet, um Dealer, die ihre Drogenpäckchen vor dem Zugriff verschluckt hatten, überführen zu können. Weniger öffentlichkeitswirksam, aber praktisch sehr bedeutsam waren auch andere Urteile: etwa dass bei fremdsprachigen Straftätern in jedem Fall Dolmetscherkosten übernommen werden müssen; dass Strafverteidiger und Mandanten bessere Akteneinsicht erhalten; und dass Fälle, bei denen jemand in Untersuchungshaft sitzt, von den Gerichten beschleunigt behandelt werden müssen.
Die Reaktionen auf solche Vorgaben aus Straßburg sind, je nach Standpunkt, höchst unterschiedlich. Während Verfassungsrichter wie Hans-Jürgen Papier den Erhalt der »kulturellen Vielfalt Europas« anmahnen, sieht der Stuttgarter Verwaltungsrechtsanwalt Christofer Lenz den Menschenrechtsgerichtshof sogar »als Chance, die rechtspolitischen Zustände im eigenen Land zu ändern«. Darunter versteht Lenz, dass ein Problem beharrlich nicht erkannt werde, dass eine Rechtsauffassung überholt sei oder dass »aus Angst vor den Medien gekniffen wird«.
Dass die Furcht vor negativer Presse gerade beim Thema Sicherungsverwahrung eine große Rolle spielte, ist in Karlsruhe ein offenes Geheimnis. Kein Richter will in den Boulevardblättern über sich die Schlagzeile lesen, er sei schuld an einem neuen Verbrechen. So erklärte das Verfassungsgericht 2004 eine Variante der Sicherungsverwahrung zwar für »unvereinbar mit dem Grundgesetz« - dennoch ließ die Senatsmehrheit mit fünf zu drei Stimmen zu, dass die Ex-Häftlinge auf dieser Grundlage zunächst weiter weggesperrt blieben.
Sogar am vergangenen Dienstag gaben sich die Karlsruher Richter unbeeindruckt vom Straßburger Urteil. Im Fall eines wegen vierfachen Einbruchsdiebstahls zu Haft und Sicherungsverwahrung verurteilten Mannes befand eine Kammer unter Vorsitz des Vizepräsidenten Andreas Voßkuhle, das »Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit« überwiege »gegenüber dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers« - jedenfalls so lange, bis die durch das Straßburger Urteil »aufgeworfenen Rechtsfragen« in dem Fall gründlich geprüft und geklärt worden sind.
Dabei ist der Fall des David G. besonders bizarr: Ursprünglich wurde er wegen Rückfallgefahr für bloße Eigentumsdelikte weggesperrt - damit hätte die Sicherungsverwahrung auch nach neuem Recht nicht über zehn Jahre hinaus verlängert werden können. Dann aber stellte ein Gutachter plötzlich fest, dass G. nach seiner Entlassung mit einer Wahrscheinlichkeit von 22 Prozent auch Sexualdelikte begehen würde. Dem Landgericht Regensburg genügte das. »Dabei«, kommentiert G.s Anwalt Sebastian Scharmer, »entspricht das exakt der rein statistischen Rückfallgefahr nach so langer Zeit im Knast.«
Die Bundesregierung wird gegen das Straßburger Urteil wohl Beschwerde einlegen. Dann müsste sich die Große Kammer des Gerichtshofs für Menschenrechte, die mit 17 statt 7 Richtern besetzt ist, der Causa annehmen. Die Chancen, dass sie die Sicherungsverwahrung nach deutscher Art für rechtens erklärt, schätzen Experten jedoch als gering ein. Zumal die Straßburger Richter in ihrer Urteilsbegründung grundsätzliche Bedenken erkennen ließen, die nicht nur für die rückwirkende Ausweitung der Sicherungsverwahrung auf Altfälle gelten, sondern darüber hinaus Bedeutung haben. Danach, meint etwa der Passauer Strafrechtsprofessor Robert Esser, »ist auch die 2004 eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung hochproblematisch«.
Die Einschätzung scheint man jetzt auch in Berlin zu teilen. Die neue Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger will nach einer Lösung suchen, die den »notwendigen Schutz der Bevölkerung vor notorisch gefährlichen Straftätern« und den »unbedingten Ausnahmecharakter der Sicherungsverwahrung« zu einem »sachgerechten Ausgleich« bringen soll.
DIETMAR HIPP, UDO LUDWIG,
MARKUS VERBEET