Ernest Mandel »Besetzung der Fabriken - na klar«
Dem belgischen Marxisten, Herausgeber von »La Gauche« (Auflage 5000) und Dozent an der Brüsseler Universität, wurde der Lehrstuhl für Sozialpolitik an der Berliner FU verweigert; seine wissenschaftliche Qualifikation blieb dabei unbestritten.
Letzte Woche erging gegen ihn auch noch -- wie schon für die USA, die Schweiz und Frankreich -- für das Bundesgebiet ein Einreiseverbot. Grund: Mandel, 48, ist Sekretär der »Vierten Internationale«, des (zum Teil illegal arbeitenden) Weltbundes von Kommunisten, die sich auf Lenin und Trotzki berufen. Mandel-Idol Trotzki hatte die russische Oktober-Revolution 1917 organisiert, kritisierte den Stalinismus als bürokratische Entartung, wurde 1929 aus der UdSSR ausgewiesen und 1940 von einem GPU-Agenten ermordet. Seither hoffen die Trotzkisten auf eine »zweite Revolution« in Rußland und eine »permanente Revolution« in der ganzen Welt. Für Moskautreue -- etwa die SEW-Zeitung »Wahrheit« in West-Berlin -- ist Mandel ein Todfeind: ein »Antikommunist«.
SPIEGEL: Herr Mandel, sind Sie ein Revolutionär?
MANDEL: Ja.
SPIEGEL: Und Sie wollten nun als Revolutionär in Deutschland Professor -- mithin auf Lebenszeit Beamter -- werden?
MANDEL: Ich wollte überhaupt nichts. Berliner Studenten und Assistenten der Wirtschaftswissenschaften sind an mich herangetreten und haben mich gebeten. Ich habe diesen Vorschlag angenommen. Die Ablehnung meiner Professur durch den West-Berliner Senat zeugt für seine Abkehr von den Prinzipien des Rechtsstaates.
SPIEGEL: Abgelehnt wurden Sie aufgrund des deutschen Beamtenrechts -- wegen Ihrer politischen Tätigkeit. Kann marxistische Wissenschaft denn nur vom Katheder herunter betrieben werden? Der marxistische Professor will doch gerade kein Fachidiot sein, sondern mit seiner Lehre auch politische Praxis üben.
MANDEL: Ein Marxist, der Arzt ist, kann sein Berufsleben auch nicht von der politischen Überzeugung trennen. Gleichwohl praktiziert er im Operationssaal nicht permanente Revolution. Es war nicht meine Absicht, an der Berliner Universität Vorlesungen in permanenter Revolution zu halten. Zwischen Lehrtätigkeit und politischer Aktivität besteht ein gewisser Unterschied ...
SPIEGEL: Beim Arzt gewiß. Es gibt keine marxistische Blinddarmoperation zum Unterschied von einer bürgerlichen. Aber in der Sozialpolitik, die Sie lehren wollten, gilt für Marxisten die Einheit von Theorie und Praxis.
MANDEL: Nein, ein Marxist verwirklicht mit seiner Lehrtätigkeit keine politische Praxis. Ich bin kein Utopist. Eine sozialistische Revolution kann man nicht mit Studenten an der Hochschule machen. Es lag auch nicht in meiner Absicht, an der FU über Strategie und Taktik revolutionärer Parteien zu lesen.
SPIEGEL: Und worin besteht die revolutionäre Praxis eines marxistischen Wissenschaftlers?
MANDEL: Einmal darin, daß die Wirklichkeit schonungslos kritisiert wird ohne die Notwendigkeit, dabei die bestehende Gesellschaft zu schützen oder zu verteidigen -- wie seitens der bürgerlichen Wissenschaftler. Für Marx und wirkliche Marxisten ist die streng
* Mit Fritjof Meyer, Stenograph Heinz Daenicke. Hans-Wolfgang Sternsdorff.
objektive, wissenschaftliche Analyse der Gesellschaft Vorbedingung bewußtrevolutionären Handelns. Sie werden nie Tatsachen leugnen, weil sie nicht in ihr Schema passen. Deshalb bin ich auch für den Pluralismus der Meinungen an der Universität, deshalb sollten weder bürgerliche noch marxistische Wissenschaftler ausgeschlossen sein. Ferner habe ich meine politische Überzeugung, gehöre einer politischen Organisation an und werde neben meiner Berufspraxis -- das ist nicht miteinander identisch -- meine revolutionäre Tätigkeit weiter ausüben.
SPIEGEL: Welche?
MANDEL: Ich arbeite am Aufbau der Vierten Internationale.
SPIEGEL: Sie sind Mitglied des Sekretariats, des höchsten Organs dieser Vierten Internationale, also der Trotzkisten. Worin besteht Ihre Tätigkeit?
MANDEL: Ich schreibe Artikel, nehme an Sitzungen teil, fasse Resolutionen ab und lasse darüber abstimmen, ich halte öffentliche Versammlungen ab und Schulungskurse. Die Vierte Internationale ist keine Verschwörerorganisation. Ich bin kein Waffenhändler, ich bin kein Bombenleger, auch kein Falschgelddrucker. Unsere Tätigkeit ist nicht geheim.
SPIEGEL: Die Vierte Internationale arbeitet doch auch konspirativ?
MANDEL: Nur in Ländern, wo es keine demokratischen Freiheiten für die Arbeiterbewegung gibt.
»Wir sind die Hefe im Teig revolutionärer Massenbewegungen.«
SPIEGEL: In der Bundesrepublik ...
MANDEL: ... ist die Tätigkeit absolut offen, weil es diese Freiheiten für die Arbeiterbewegung gibt.
SPIEGEL: Das Bundesinnenministerium, das Ihnen als gefährlichem Umstürzler die Einreise in das Bundesgebiet verweigert, wirft Ihnen vor, Sie hätten konspirativ gearbeitet, seien zum Beispiel mehrfach unter falschem Namen in der Bundesrepublik tätig geworden.
MANDEL: Das ist doch Unsinn. Bisher konnte ich doch legal einreisen. Lediglich einige Zeitungsartikel habe ich jahrelang als Pierre Gousset gezeichnet.
SPIEGEL: Nur ein Schriftsteller-Pseudonym?
MANDEL: Nur das.
SPIEGEL: Es war nicht das einzige. Sie publizierten auch noch unter einem anderen Namen ...
MANDEL: Ich weiß es nicht mehr.
SPIEGEL: Germain?
MANDEL: Ja, ja. Auch so ein Autoren-Pseudonym. Einen Paß hatte ich jedenfalls nicht auf diesen Namen.
SPIEGEL: Hatten Sie denn vor, nach Ihrer Berufung zum Professor das Sekretariat der Vierten Internationale in die Bundesrepublik zu verlegen?
MANDEL: Nein, das ist eine Erfindung von A bis Z. Das Sekretariat besteht aus vielen Leuten, nicht aus mir allein. Ich hatte nicht mal die Absicht, nach Deutschland zu übersiedeln.
SPIEGEL: Als Sie im vorigen Jahr vor der Duttweiler-Gesellschaft in der Schweiz einen Vortrag vor Wirtschafts-Managern halten wollten ...
MANDEL: ... sogar der frühere Bundeskanzler Ludwig Erhard war eingeladen
SPIEGEL: ... da hat man Sie in die Schweiz nicht einreisen lassen mit der Begründung, Sie hätten vorher in Schulungskursen in Lausanne zur Revolution aufgerufen.
MANDEL: Unsinn. Offiziell lautete der Vorwurf, ich hätte eine nicht vorher angemeldete, geschlossene Lehrveranstaltung abgehalten. Ich habe geantwortet, es sei mir nicht bekannt, daß beispielsweise die unzähligen Bankiers sich polizeilich anmelden, bevor sie in der Schweiz auf Abendessen Reden zu hochpolitischen Fragen halten. Die Themen des Schulungskurses waren rein historisch.
SPIEGEL: Herr Mandel, in Ihren Büchern plädieren Sie dafür, »den bürgerlichen Staat durch eine zentralisierte politische Aktion zu stürzen und durch den Arbeiterstaat zu ersetzen«. Ist das noch Analyse oder schon praktische Wegweisung?
MANDEL: Natürlich beschränke ich mich nicht auf wissenschaftliche Analyse.
SPIEGEL: Als Wissenschaftler -- oder werden Sie hier wieder zum politischen Aktivisten?
MANDEL: Das sind doch zwei völlig verschiedene Dinge.
SPIEGEL: Diese Schizophrenie ...
MANDEL: ... das ist keine Schizophrenie, sondern eine Frage der Methodik. Sie können nicht die Mondlandung gleichsetzen mit der Astrophysik, die dafür die wissenschaftlichen Voraussetzungen geschaffen hat. Wenn man das Weltall analysiert, so doch nicht in der verschwörerischen Absicht, auf dem Mond zu landen.
SPIEGEL: Zurück auf die Erde. Was tut der Revolutionär Mandel, um die bürgerliche Gesellschaft zu stürzen?
MANDEL: Eine interessante Frage. Da kommen wir auf die neurotische Einstellung der Verteidiger der bestehenden Gesellschaft zu Leuten wie mir. Sozialistische Revolutionen werden nicht durch Verschwörer oder durch Agitation ausgelöst, sondern sind nur möglich durch die zielbewußte Teilnahme der Masse der Lohnabhängigen, das ist in der Bundesrepublik die absolute Mehrheit der Bevölkerung. Entweder ist die spätkapitalistische Gesellschaft krisenfest. Dann wird sich die Tätigkeit von Leuten wie mir auf Erziehung, Propaganda und tagespolitische Aktivitäten beschränken, die den Rahmen dieser Gesellschaft nicht sprengen können.
SPIEGEL: Dann wird also der Revolutionär zum Sozialdemokraten.
MANDEL: Nein, Sozialdemokratismus ist der Versuch, die bestehende Gesellschaft durch Reformen zu festigen. Wir wollen die Gesellschaft verändern, und sei es auch erst in weiter Zukunft. Wenn also objektiv revolutionäre Krisen wie im Mai 1968 in Frankreich oder im Herbst 1969 in Italien entstehen, dann müssen revolutionäre Organisationen die Voraussetzungen schaffen, daß die Arbeiter diese Krisen zur Änderung der Gesellschaft nutzen.
SPIEGEL: Und Sie wollen als Vorhut das Proletariat anführen?
MANDEL: Wir können nicht anstelle der Arbeiter die Gesellschaft oder den Staat verändern. Wir sehen uns als Hefe im Teig, der schon da sein muß ...
SPIEGEL: ... aber den Sie doch mit anrühren wollen. Wie fördern Sie als Mitglied der Avantgarde bewußt den Umsturz?
MANDEL: Unsere Aufgabe ist es nur, bereits existente revolutionäre Massenbewegungen zum Erfolg zu führen. Also es geht darum, in den Betrieben, in den Universitäten so viel Bewußtsein zu verbreiten, daß die Masse zu entscheidenden Taten bereit ist. »Mehr Rechte für die Massen in der Räterepublik.«
SPIEGEL: Was sollen die Massen denn nun tun?
MANDEL: In Fällen von breiten Massenbewegungen Generalversammlungen abhalten und dort demokratische Körperschaften wählen, als Räte, die Machtbefugnisse übernehmen.
SPIEGEL: Anstelle der parlamentarischen Demokratie?
MANDEL: Ach wissen Sie, ich bin ein viel konsequenterer Demokrat als die Befürworter der bürgerlich-parlamentarischen Staatsordnung. In den bürgerlichen Verfassungen steckt ein Widerspruch zwischen der Gewährleistung des Privateigentums und den allgemeinen Grundrechten und -freiheiten, der Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit, Organisationsfreiheit. Die Mehrheit der Bevölkerung kann diese Rechte nur beschränkt ausüben, solange das Privateigentum an Produktionsmitteln besteht. Deshalb bin ich in der Tat dafür, das kapitalistische Eigentum zu stürzen
SPIEGEL: Das Privateigentum ist kein konstitutiver Bestandteil der Verfassung der Bundesrepublik, womöglich ist sogar die Vollsozialisierung mit dem Grundgesetz vereinbar.
MANDEL: Dann steht meine politische Aktivität auch nicht im Widerspruch zum Grundgesetz.
SPIEGEL: Die von Ihnen propagierte Räterepublik bedeutet keine Einschränkung der politischen Freiheiten?
MANDEL: Im Gegenteil. Dann werden diese Rechte für die Masse der Menschen überhaupt erst effizient.
SPIEGEL: Das Rätesystem -- wollen Sie das sagen -- sei mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar, sei sogar noch freier und noch demokratischer? In der Räterepublik soll beispielsweise der Grundsatz der Gewaltenteilung nicht gelten.
MANDEL: Doch, das steht in unserem Programm.
SPIEGEL: Keineswegs. In Ihrem Programm steht die Forderung nach der Einheit von Legislative und Exekutive.
MANDEL: Das hat ja nichts mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu tun. Bei uns ist das viel breiter gedacht.
SPIEGEL: Es geht nicht um die Breite. Gewaltenteilung bedeutet Trennung. Sollen die Richter unabhängig sein oder -- wie nach dem Modell der Pariser Kommune -- bei jeder Gelegenheit abberufen werden können, zum Beispiel, wenn sie mißliebig urteilen?
MANDEL: Nicht bei jeder Gelegenheit, aber von Zeit zu Zeit.
SPIEGEL: In welchen Abständen? »Wir sind natürlich für Streikrecht im Arbeiterstaat.«
MANDEL: Nicht alle zehn Tage, aber auch nicht alle zehn Jahre. Das wollen wir lieber durch die Werktätigen der deutschen Räterepublik bestimmen lassen. Wir ·haben ein Schema für die Gewaltenteilung in der Räterepublik ausgearbeitet. Wir sind, um einige Beispiele zu geben, für geschriebenes Recht, gegen Rechtswillkür.
SPIEGEL: Wer ist das nicht?
MANDEL: Wir sind für Selbständigkeit der Gewerkschaften, natürlich für ein Streikrecht auch in einem Arbeiterstaat, und wir sind für völlige Trennung von Partei- und Staatsinstanzen.
SPIEGEL: Soll die Volksvertretung aus allgemeinen, gleichen, freien, geheimen und direkten Wahlen hervorgehen?
MANDEL: Damit sind wir einverstanden. Die Frage ist nur, wie man die Wahl durchführt und diese Vertretung zusammensetzt.
SPIEGEL: In der Tat. Sollen nur Arbeiter Stimmrecht besitzen?
MANDEL: In den westeuropäischen Ländern ist es sinnlos, die Bourgeoisie von den Wahlen auszuschließen.
SPIEGEL: In Ihrer Räte-Utopie ...
MANDEL: ... in dem Räte-Modell ...
SPIEGEL: ... ist da Raum für demokratische Essentials wie Volkssouveränität, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ...
MANDEL: ... alles zugestanden.
SPIEGEL: Sind Sie für ein Mehrparteien-System?
MANDEL: Absolut dafür.
SPIEGEL: Würden in Ihrer Räterepublik auch nichtsozialistische Parteien zugelassen?
MANDEL: Keine Partei darf wegen ihrer Ansichten verboten werden. Wenn wir aber in einem Gerichtsverfahren beweisen können, daß Personen gegen die Gesetze verstoßen haben, daß Verschwörungen stattgefunden haben, Waffenlager angehäuft und mit fremden Regierungen Verbindungen angeknüpft wurden, dann würden wir eine Partei verbieten.
SPIEGEL: So argumentiert auch Partei-Chef Husák in der Tschechoslowakei.
MANDEL: So argumentierte auch das Verfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland im KPD-Verbotsurteil.
SPIEGEL: Das hört sich alles so an, als seien die Trotzkisten zahm geworden. Sie wollen keinen bewußten Umsturz mehr, sondern eine Parlamentsmehrheit.
MANDEL: Wir sind immerhin der Ansicht, daß unter den bestehenden sozial-ökonomischen Verhältnissen die parlamentarischen Gremien nicht oder nur ausnahmsweise die Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung ausdrücken können. Die Möglichkeiten der Option sind gering, die Variationen zwischen den großen staatstragenden Parteien vermindern sich so, daß mehr und mehr der Parlamentarismus zum inhaltsleeren, formalen Mechanismus entartet. Wahre Demokratie ist direkte politische Entscheidungsmacht der Massen und damit beinahe identisch mit dem, was ich unter Revolution verstehe.
SPIEGEL: Revolution ist Anwendung von Gewalt.
MANDEL: Was verstehen Sie unter Gewalt?
SPIEGEL: Türen aufbrechen, Menschen schlagen, Barrikaden bauen, Maschinengewehre postieren.
MANDEL: Es hat bislang keine revolutionäre Massenmobilmachung in westlichen Ländern gegeben, die nicht in ihrem Ansatz friedlich war. Gewalt ist nur von der Gegenseite geübt worden, um diese Bewegung zu unterdrücken. Dagegen muß man sich dann wehren.
»Wir sind keine Verschwörer, ich bin kein Putschist.«
SPIEGEL: Als Gegengewalt halten Sie Gewalt für legitim?
MANDEL: Wenn Sie unter Gewalt Besetzung der Fabriken verstehen, gut, dann sage ich, na klar, dann bin ich für Gewalt. Ich nenne das nur anders: Die Arbeiter nehmen sich ihr rechtmäßiges Eigentum -- das, was sie selbst geschaffen haben. Das ist Sache der Arbeiterklasse selbst. Wir wollen nicht hinter dem Rücken der Arbeiter Revolutionen durchführen und auch die Arbeiter nicht gegen ihre Überzeugungen glücklich machen. Wir sind keine Verschwörer. Ich bin kein Putschist. Aber man fürchtet meine Ideen. Ich darf sie den Berliner Studenten nicht vortragen ...
SPIEGEL: Könnten Sie denn als Vorkämpfer einer Räterepublik den Beamteneid auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung leisten?
MANDEL: Ich würde wahrscheinlich eine Zusatzerklärung abgeben. Ich habe im Leben nie meine Überzeugung verleugnet.
SPIEGEL: Entweder Sie schwören, oder Sie werden kein Professor in Berlin. Sie können da keinen Brief mit Vorbehalten hinterlegen.
MANDEL: Müßte ich dann doch das Grundgesetz erst mal lesen?
SPIEGEL: Herr Mandel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.