JUSTIZ Besonders berührend
Beim Blättern in der Gewerkschaftszeitschrift »Metall« stießen hohe niedersächsische Justizbeamte auf eine seltene Erscheinung, einen »Gewerkschafter, der als Richter tätig ist«.
Der Mann, der sich während eines »Metall«-Interviews zu diesem ausgefallenen Berufsbild bekannte, war den Juristen allerdings nicht mehr so ganz unbekannt: Ulrich Vultejus, Richter am Amtsgericht in Hildesheim.
Vultejus gehört der Gewerkschaft ÖTV ("Fachschaft Richter und Staatsanwälte") an -- außergewöhnlich für einen Berufsstand, bei dessen Repräsentation der konservative Richterbund den Ton angibt. Seinen Dienstvorgesetzten, so meint Richter Vultejus, sei er denn auch immer schon »ein rotes Tuch« gewesen. Nun aber, nach seinem Interview in »Metall«, schien den Justizherren im Hannoverschen wohl das Maß voll.
Im Gewerkschaftsblatt hatte »Kollege Vultejus« ("Metall«-Ansprache) um »Solidarität mit den gewerkschaftlich organisierten Richtern« geworben und zur Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik Ansichten wie diese geäußert:
* »Man kann davon ausgehen, daß die Gerichte Täter mit weißen Kragen anders behandeln als andere."> Mit Geld komme einer »sehr viel leichter bei Gericht zu seinem Recht«, ohne Geld hingegen nur unter »sehr viel Mühe«.
* »Gleiches Recht für alle Angeklagten« sei keineswegs garantiert.
Solche Umstände gehören zwar zum gesicherten Wissen der Rechtssoziologie. Einen zivilen Rechtsstreit um Haus und Hof steht nur durch, wer langen Atem und ausreichend Kredit hat; und daß etwa Unterschichttäter eher bestraft werden als solche aus der Mittelschicht, ist längst statistisch belegt.
Doch Niedersachsens Justizspitzen empfanden des Richters Einsichten geradezu als sträflich, Vultejus kam vors Richterdienstgericht. Das befand, der Kollege habe die gebotene Kollegialität verletzt und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit gefährdet; damit verstoße er gegen Beamtenrecht und Richtergesetz. Das Disziplinarurteil: ein förmlicher Verweis.
Anlaß des Verfahrens war das Interview im Gewerkschaftsblatt. Zur Debatte steht aber auch der Spielraum, den ein bundesdeutscher Richter hat, sich vom überkommenen Selbstverständnis seines Berufsstandes zu lösen und öffentlich darüber zu reden.
Ausgelöst indessen wurde der Fall Vultejus durch einen alltäglichen Amtsgerichtsprozeß. Vor knapp zwei Jahren kam der Verkaufsleiter einer Tongerätefirma wegen »Behinderung einer Betriebsratswahl« vor Gericht. Die IG Metall hatte ihn angezeigt: Er habe mit unerlaubten Mitteln versucht, die Wahl zu hintertreiben, und am Ende sieben seiner vierzehn Belegschaftsmitglieder gefeuert. Deshalb drohten ihm gemäß Paragraph 119 des Betriebsverfassungsgesetzes bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe. Vorsitzender des Schöffengerichts: Ulrich Vultejus.
Drei Tage vor dem Prozeß, dem Freitag vor Pfingsten 1976, bat der Angeklagte telephonisch um Verschiebung; er sei durch Dienstreise verhindert. Vultejus offerierte einen Ausweichtermin, den Mittwoch nach Pfingsten, doch auch der paßte dem Angeklagten nicht in den Plan; an diesem Tag, ließ er wissen, sei er in den USA. Vultejus beharrte nunmehr auf dem Freitagstermin und drohte mit Zwangsmitteln. Als der Manager dem Termin trotzdem fernblieb, erließ das Schöffengericht Haftbefehl. Das entsprach gängiger Praxis und war wohl nur deshalb publikumswirksam, weil sich schmerzhafte Gerichtsroutine hier »ausnahmsweise einmal gegen die feineren Leute« (Vultejus) gekehrt hatte.
Doch für den Angeklagten war es ein Stück Klassenkampf. Kaum von der Reise zurück und dank Haftverschonung auf freiem Fuß, ließ er den Schöffengerichtsvorsitzenden wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen. Anwalt Josef Augstein: »Der Richter Vultesius ist also Funktionär der Gewerkschaft. Darauf sind die gesamten Absonderlichkeiten des Verfahrens zurückzuführen. Ich werde durch den Richter Vultesius an meinem Mandanten kein Exempel statuieren lassen.«
Der als Vultejus-Produkt mißdeutete Haftbefehl war zwar zuvor vom Staatsanwalt beantragt und dann vom -- dreiköpfigen -- Schöffengericht erlassen worden. Doch sonderbarerweise machten auch die Vorgesetzten nur Vultejus verantwortlich: Hermann Freudenberg, Direktor des Hildesheimer Amtsgerichts, gab dem Ablehnungsantrag statt.
Die Begründung konnte der Abgelehnte dann dem Düsseldorfer »Handeisblatt« entnehmen, das Freudenberg zitierte: Ablehnungsgrund sei keineswegs die im Antrag benannte Gewerkschaftszugehörigkeit gewesen, vielmehr der unverhältnismäßige und deshalb ebenfalls gerügte Haftbefehl -- Zwangsvorführung hätte ausgereicht. Und außerdem, so Freudenberg, hatte Vultejus noch durch die Äußerung »den setzen wir über Pfingsten fest« seine Ablehnung erleichtert.
Daß die Sache mit dem Haftbefehl nicht verfängt, hätte Direktor Freudenberg selbst erkennen können. Denn den einmal entwischten Delinquenten wird ein Vorführungsbefehl schwerlich termingerecht aus den USA herschaffen.
Vultejus, der im übrigen das Pfingstzitat bestreitet, ließ sich von den Erklärungen seines Direktors denn auch nicht überzeugen. ihm erscheint nach wie vor -- und so erschien es seinerzeit selbst der in solchen Fällen auf Distanz bedachten »Frankfurter Allgemeinen« -- die »Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft der wirkliche Ablehnungsgrund«. Vultejus: »Erstaunlich, oder auch nicht.«
Zu denen, die das insgeheim auch nicht weiter erstaunlich finden, zählen disziplinarrechtlich hochgestellte Justizpersonen. In einer Verfahrensschrift befand der Präsident des Landgerichts Hildesheim, daß der strittige, die Gewerkschaften »besonders berührende« Fall beim Gewerkschafter Vultejus letzten Endes kaum besonders gut aufgehoben, mithin eine Ablehnung »wohl durchaus vertretbar« gewesen sei.
Ein sonderbarer Gedankengang. Denn danach wäre es fraglich, ob etwa konservative Juristen über einen eher linken Standeskollegen wie Vultejus unbefangen zu Gericht sitzen können.