USA Besorgt und perplex
Wenn es nach Ronald Reagans Beratern ginge, müßte sich der amerikanische Präsident hinfort jeden Tag mit einem neuen Hut, in einer neuen Rolle und auf einer anderen Bühne präsentieren: mal als Caballero, mal als Umweltschützer, mal als schwarzer Heiliger und, wenn möglich, sogar noch als Frau.
Denn nur wenn es Ronald Reagan gelingt, sich als Präsident aller Amerikaner ins Bewußtsein seiner Landsleute einzuschmeicheln, wenn er zumal bei jenen an Gunst gewinnt, die ihm bislang nicht sehr wohlgesinnt waren - bei den »Hispanics«, den Schwarzen, den Frauen, den Armen -, dann darf Amerikas 40. Präsident darauf hoffen, im nächsten Jahr ein zweites Mal ins Weiße Haus gewählt zu werden.
Zwar hat Reagan bislang noch nicht einmal erklärt, ob er das überhaupt will, aber einige Kostproben seiner Fähigkeit als wahlkämpferischer Verwandlungskünstler hat er doch schon dargeboten - woraus die große Mehrheit der amerikanischen Politiker und Publizisten wiederum folgert, daß er sehr wohl eine Wiederwahl anstrebe und es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis er sich als offizieller Kandidat offenbare.
Und weil seine Helfer dann bis ins letzte Detail vorbereitet sein möchten, läuft die Wahlkampfmaschine im Weißen Haus und in Reagans Republikanischer Partei bereits seit Wochen mit zunehmend höherer Tourenzahl.
Schon werden die wichtigsten Wahlkampfprofis aus Reagans Erfolgsjahr 1980 mobilisiert, werden neue Strategien erarbeitet. Längst auch haben die Meinungsforscher des Weißen Hauses erkundet, welcher Kurs gegen welchen potentiellen Kandidaten der Demokratischen Partei eingeschlagen werden müsse und wie der Präsident - gleichgültig, wer schließlich sein Widersacher ist - selbst Punkte sammeln könne.
Denn daß es für Reagan diesmal, wenn überhaupt, nur ein Punktsieg wird, daß er es nicht wieder so leicht haben wird wie 1980 gegen den glücklosen und ungeliebten Jimmy Carter, steht bereits fest: Damals reichten die anheimelnde konservative Vision des »Vorwärts in die Vergangenheit« und ein glanzvoller Auftritt im Fernsehduell für den Wahlsieg.
Seit jedoch feststeht, daß Ronald Reagan seinen TV-Triumph mit nicht ganz lauteren Mitteln errang, daß in seinem Wahlkampfstab exakt jene Unterlagen kursierten, mit denen sich Carter auf die Debatte vorbereitete, lassen sich Amerikas Wähler vom Fernsehstar Reagan nicht mehr so leicht blenden.
Inzwischen ermittelt die Bundeskriminalpolizei FBI, wie die Papiere in die Hände der Reagan-Leute gelangten. Ronald Reagan wurde selbst fast eine Stunde lang von FBI-Agenten vernommen. Seine wichtigsten Mitarbeiter, allen voran sein damaliger Wahlkampfleiter und heutiger CIA-Chef William Casey, müssen damit rechnen, demnächst wie ertappte Kriminelle an einen Lügendetektor angeschlossen zu werden.
Seine Berater im Westflügel des Weißen Hauses haben deshalb längst eine Strategie ausgearbeitet, mit deren Hilfe das schlechte Image ihres Chefs verdrängt werden soll. »Eine Faustregel für den Wahlkampf«, so erläutert ein hoher Reagan-Mitarbeiter, »besagt, daß man seine Stärken ausspielt und seine Schwächen abzustellen sucht. Genau damit sind wir jetzt beschäftigt.«
Das sieht dann so aus: Derselbe Präsident, der mehr als zwei Jahre lang kein Interesse am Bildungswesen gezeigt, im Gegenteil sogar gelobt hatte, er werde das (von Vorgänger Carter geschaffene) Erziehungsministerium schließen, beteuert nun bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie sehr er sich einem guten Schulsystem verpflichtet fühle: Reagan als der besorgte Schulmeister. Derselbe _(Beim Empfang des Harlemer Knabenchors ) _(anläßlich des Geburtstages von Martin ) _(Luther King. )
Ronald Reagan, der sich vor gut einem Jahr noch der Einführung eines nationalen Feiertags zu Ehren des 1968 ermordeten farbigen Bürgerrechtlers Martin Luther King widersetzt hatte ("Wir sind ein ziemlich bunter Haufen in diesem Land. Wenn wir damit erst anfangen, hätten wir bald eine ganze Latte von Feiertagen"), setzt sich jetzt, nachdem das Repräsentantenhaus mit großer Mehrheit für einen Martin-Luther-King-Gedenktag gestimmt hat, an die Spitze der Bewegung: Reagan als ein Freund der Schwarzen.
Oder: Im Rosengarten des Weißen Hauses überreicht er dem Bürgermeister der Hauptstadt Washington einen Scheck über 800 000 Dollar als Beitrag zu einem Sommer-Beschäftigungsprogramm für arbeitslose Jugendliche, von denen, rein zufällig, ein paar als Staffage um den Präsidenten und den Bürgermeister gruppiert sind. Reagan als Freund der Arbeitslosen.
Weiblichen Wählern empfahl er sich mit einem eilends proklamierten »Monat zur verstärkten Eintreibung von Alimenten« ("National Child Support Enforcement Month") und einem »Tag der Gleichheit der Frau« ("Women''s Equality Day").
Und die wachsende Bedeutung der »Hispanics«, der spanisch sprechenden US-Bürger, die im kommenden Jahr über vier Millionen Wähler stellen und in einigen Bundesstaaten den Ausschlag über Sieg oder Niederlage geben könnten, honorierte Reagan mit einem Mittagessen im Weißen Haus für 85 ihrer politischen Führer.
»Außer den KGB-Agenten«, so ketzerte »Newsweek«, »gibt es praktisch keine Gruppierung, an die der Präsident sich nicht wendet.«
Pannen sind bei soviel plötzlicher Aktivität nicht zu vermeiden.
Der schlimmste Einbruch widerfuhr Reagan ausgerechnet im Umgang mit Amerikas Frauen, von denen ohnehin nur 39 Prozent den Präsidenten unterstützen und die er deshalb besonders intensiv zu umwerben sucht.
Als Anfang des Monats ein paar hundert Delegierte des »Internationalen Bundes von Geschäftsfrauen« vor dem Weißen Haus vorfuhren - nach vorheriger Anmeldung, versteht sich -, da wurde die Gruppe abgewiesen. Der »East Room«, in dem die Damen hätten Platz nehmen sollen, war bereits belegt: von Teilnehmern einer Konferenz über die Effizienz von Regierungsbehörden.
Reagan entschuldigte sich zweimal telephonisch, ließ seinen Terminkalender umkrempeln, erschien einen Tag später selbst vor dem Plenum der Frauenkonferenz, entschuldigte sich ein weiteres Mal und scherzte: »Wenn ich nachher ins Weiße Haus zurückkehre, werde ich die Schuldigen suchen, sie auf die Fensterbank stellen und dann schubsen.«
1200 Frauen lachten und applaudierten, worauf Reagan - wie so oft - noch einen draufsetzte, aber - wie so oft - einen zuviel: »Ich gehöre zu den Leuten, die glauben, daß wir Männer, wenn es die Frauen nicht gäbe, immer noch halbnackt und keulenschwingend herumliefen.« Die Frau - der gute Geist hinter der Männergeschichte, mehr nicht: Das war den Damen zuwenig.
Polly Madenwald, die Präsidentin der US-Sektion, war außer sich über den Rückfall in die Steinzeit. »Das klang so, als wollte er sagen, für die Existenz der Frauen gäbe es nur einen Grund: die Schaffung von Familien.«
Angesichts solcher Peinlichkeiten, spottete der »Christian Science Monitor« in einem Leitartikel, müsse man beinahe annehmen, im Weißen Haus sitze ein Saboteur der Demokraten, der Reagans Aussöhnung mit den weiblichen Wählern um jeden Preis zu hintertreiben suche: »Wenn die verantwortlichen Leute Freunde des Präsidenten waren - was braucht er dann noch Feinde?«
In derselben Woche veröffentlichte das Statistische Bundesamt der USA eine alarmierende Statistik. Danach lebten im zweiten Jahr der Reagan-Regierung 34,4 Millionen Amerikaner in Armut, mehr als je zuvor seit Lyndon Johnsons »Kriegen gegen die Armut« Mitte der 60er Jahre.
Innerhalb eines einzigen Jahres der Reagan-Administration war die Zahl der armen Amerikaner um 2,6 Millionen gestiegen - mit Rekordzahlen ausgerechnet bei jenen Bevölkerungsschichten, um deren Gunst Ronald Reagan gerade buhlte: den Schwarzen, den Hispanics und den alleinstehenden Frauen.
Der Präsident zeigte sich »äußerst besorgt« und »perplex« darüber, daß Millionen Amerikaner Hunger litten, ordnete die verstärkte Verteilung von Überschußkäse an die Armen an (stets eine Demütigung für alle Betroffenen), berief eine Kommission zur Untersuchung des Problems Hunger in Amerika und verwies im übrigen auf den kontinuierlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit in den USA - von 10,8 Prozent im
Dezember 1982 auf nunmehr 9,5 Prozent.
Zu kurz kamen bei all diesen - durchsichtigen - Manövern zur Imagepflege des Noch-nicht-Kandidaten eigentlich nur Reagans rechte Stammwähler. Sie warfen ihm denn auch schon vor, er sei zu weit zur Mitte gedriftet und müsse endlich seinen unverbesserlichen Optimismus angesichts der wahren Feinde der Nation, der Kommunisten in Moskau und Havanna, aufgeben.
Ronald Reagans Strategen aber möchten ihren Chef auch gern als Friedenspräsidenten in den Wahlkampf schicken: Nach dem neuen Getreideabkommen und dem KSZE-Kompromiß mit der Sowjet-Union ist nun wieder häufiger die Rede von einem baldigen Treffen mit Moskaus Andropow - oder zumindest mit Außenminister Gromyko. Nach Peking wird Ronald Reagan womöglich auch fliegen, und für eine Verhandlungslösung in Lateinamerika zeigt sogar seine ultrakonservative Uno-Botschafterin Jeane Kirkpatrick »vorsichtigen Optimismus«.
So wären denn die Weichen gestellt für den Tag, an dem der 72jährige Ronald Reagan mitteilt, daß er auch mit 77 Jahren noch Präsident der USA sein möchte - falls er es denn mitteilt.
Noch immer nämlich gibt es Reagan-Kenner und -Kritiker, die alle neuen Wahlkampfgesten des Kandidaten als seine letzte große Schauspielerrolle interpretieren.
Er warte, so argumentieren sie, auf einen günstigen Augenblick, um eine Erfolgsbilanz zu präsentieren. Dann, auf dem vermeintlichen Höhepunkt seiner Präsidentschaft, könnte er verkünden, er habe das Land in Ordnung gebracht und könne sich in den verdienten Ruhestand auf seiner kalifornischen »Rancho del Cielo« zurückziehen: Ein Abgang wär''s wie ein Happy-End.
Beim Empfang des Harlemer Knabenchors anläßlich des Geburtstages vonMartin Luther King.