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JUSTIZ Besser, der Mensch bleibt naiv

aus DER SPIEGEL 38/1950

Um 20.14 Uhr kam das Gespräch, das Landrat Fischer von Norden/Ostfriesland dringend nach Hannovers Odeonstraße angemeldet hatte.

»Vielleicht ist noch ein Menschenleben zu retten, Genossen«, machte Fischer den Parteifreunden in der sozialdemokratischen Parteileitung Eile. Am Markt von Norden machten sich nämlich schon fünf Beamte des Polizeikreises marschbereit, um mit dem ersten Frühzug am anderen Morgen den aus dem Osten geflohenen Ingenieur Hans Strübing an die Ostzonengrenze zu bringen. Zum Zwecke der Uebergabe an die Volkspolizei.

Um 23.30 Uhr packten die Uebergabepolizisten ihre Marschverpflegung wieder aus. Johann Fischers Parteifreunde in der Zentrale hatten sich in der Zwischenzeit den niedersächsischen Justiz-Staatssekretär Dr. Moericke an den Apparat geholt. Mit dem Erfolg, daß der Staatssekretär Strübings Auslieferung telefonisch stoppte. Der Justizminister bestätigte fünf Minuten vor zwölf telegrafisch.

Allerdings, Hans Strübing sitzt weiter in Zelle 19 des Nordener Amtsgerichts, ungewiß, welche Paragraphen die niedersächsische Justiz noch austüftelt. Er sitzt seit dem 18. März 1950, weil das Landgericht C 2 im Ostsektor von Berlin an die bundesdeutschen Kollegen einen Haftbefehl »gegen den Ingenieur Hans Strübing, z. Z. Dornum/Ostfriesland, Georgshof« geschickt hat mit dem »Antrag auf Auslieferung des Strübing in die russische Zone«.

Hans Strübing: seit 1930 KP-Mitglied; von 1932 bis 1936 als Ingenieur in Rußland tätig; 1935 aus Protest gegen den Parteibürokratismus aus der Kommunistischen Partei Rußlands, der er als Kandidat angehörte, ausgetreten; 1936 ohne Angabe von Gründen nach der Tschechoslowakei abgeschoben. In der Tschechoslowakei findet er keine Arbeit. Gestapo nimmt ihn nach Ankunft in Berlin in Empfang. Arbeitsverbot für »geschützte Betriebe«.

Auch Strübing spielt Soldat. Nach der Entlassung aus amerikanicher Gefangenschaft tritt er 1946 der SED, Kreis Lichtenberg, bei.

In der Bezirkskommandantur Lichtenberg staunten die Russen über Strübings russische Sprachkenntnisse und stellten ihn als Dolmetscher ein.

1948 wird Strübing Treuhänder der Berlin-Lichtenberger Metall- und Erz-GmbH. Possehl. Von der Deutschen Treuhandverwaltung werden ihm zwei Vertrauenspersonen zugeteilt. Gerhard Wöller, Berlin, französischer Sektor, Steegestraße, als Betriebsgruppenleiter. Und ODF-Mann Kurt Bauer.

Wöller schafft mit Bauer erst einmal 7457 kg bewirtschaftetes Schwarzkupfer beiseite. »Das ist glatte Unterschlagung«, trumpft Hans Strübing beim ostzonalen Industrie- und Handelskontor-Leiter, Mummert, auf. Und erstattet Anzeige. Wöller und Bauer hatte er entlassen.

Sechs Tage später setzte sich Gerhard Wöller im sicheren französischen Sektor an die Maschine und tippte dem Industrie- und Handelskontor saftige Vorwürfe gegen den ehemaligen Vorgesetzten Strübing. Strübing habe ihn, Wöller, veranlaßt, Trinkgelage zu organisieren. Außerdem sei Strübing an nicht erlaubten Kompensationsgeschäften beteiligt gewesen.

Mummert vom Industrie- und Handelskontor berief die SED-Betriebsgruppe und die Betriebsgewerkschaftsleitung ein. Die Sitzung stellte am 17. Januar 1949 um elf Uhr in Berlin-Lichterfelde fest, daß der Genosse Strübing

* von Anbeginn seiner Tätigkeit das Gefühl hatte, in seinem Betrieb seien einige unsaubere Elemente,

* glaubhaft angibt, von den Kompensationsgeschäften nichts gewußt zu haben,

* an der Verschiebung von 7457 kg Schwarzkupfer nicht beteiligt war,

* zwar seine Aufsichtspflicht verletzt habe, so daß eine Verwarnung erforderlich sei, hingegen sei aber die übrige Handlungsweise nicht als so fahrlässig und unkorrekt anzusehen, daß sie eine Entlassung zur Folge haben könnte.

SED-Betriebsgruppe und Betriebs-Gewerkschaftsleitung versprachen sich im Falle des Verbleibens des Ingenieurs Strübing an seinem Arbeitsplatz »für die Zukunft eine erfolgreiche und korrekte Zusammenarbeit, da der Genosse Strübing aus den Geschehnissen seine Lehre gezogen haben wird.« Kriminelle Anwürfe gegen Strübing seien nicht zu erheben. Gegen Wöller und Genossen werde Strafantrag gestellt.

Trotzdem kündigte Berlins Industrie- und Handelskontor als »Treuhänder des sequestierten Großhandelsbetriebes Rossehl« Hans Strübing die Stellung ("Wir haben in Anbetracht Ihrer sonst zufriedenstellenden Leistungen von einer fristlosen Kündigung Abstand genommen.")

Da überlegte Strübing: Wöller und Bauer haben sich in Sicherheit gebracht. Ich allein bleibe nach und kann abgeurteilt werden, obwohl ich, wie der Verhandlungsbericht von Partei und Gewerkschaft beweist, an den Unkorrektheiten nicht beteiligt war. Wenn die Partei mich nicht einmal loseist, sondern das Industrie- und Handelskontor mich trotz aktenkundiger Unschuld entläßt, dann ist was faul.

In der Funktionärs-Konferenz des Berliner SED-Landesverbandes war er ohnehin schon vor dem Verschwinden des Kupfers wegen abweichlerischer Gesinnung als »von der bürgerlichen Presse verkleisterter Auch-Funktionär« apostrophiert worden. Also packte er seine Koffer, brach mit der Partei und stellte sich Berlins SPD-Landesverband »zwecks Aufnahme als politischer Flüchtling in den Westzonen«.

Der in solchen Dingen routinierte SPD-Mewes röntgte den Fall Hans Strübing und entschied: »Nach den Richtlinien der britischen Militärregierung erteilen wir Ihnen Zuzug bis zum 30. Juni 1949 als politischem Flüchtling.« Mit SPD-Unterstützung richtete Hans Strübing an die Britische Bezirkskommandantur, Berlin-Charlottenburg, die Bitte um Fluggenehmigung nach dem Westen. Lebenslauf legte er bei: in Rußland gewesen, SED-Funktionär gewesen. Auch die 7457 kg Schwarzkupfer wurden verzeichnet.

Berlins britische Kommandantur erteilte nach Ueberprüfung des »Falles Strübing« Fluggenehmigung und brachte Strübing mit Frau und Kindern über die Luftbrücke nach Westdeutschland. In dem wegen seiner Pedanterie bekannten Lager Uelzen wurde Strübing nochmals politisch gefilzt und dann als politischer Flüchtling nach Dornum/Ostfriesland entlassen.

Acht Monate später erließ das Ostberliner Landgericht den Haftbefehl gegen Hans Strübing wegen »Verbrechens gegen Artikel I Kontrollratsgesetz Nr. 50, Ankauf und Weiterverkauf von 7457 kg Schwarzkupfer, Veruntreuung von 1500 D-Mark«. »Fluchtgefahr« sei gegeben.

Wegen Fluchtgefahr schien dem Nordener Amtsgerichtsrat Schulz vier Monate später die Verhaftung Strübings geboten. Oldenburgs Generalstaatsanwalt Meyer-Abich hatte die beantragte Auslieferung des Strübing genehmigt.

Es dauerte 21 Tage, bis der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht in Oldenburg auf den Einspruch von Strübings Verteidiger entschieden hatte: »Mangels gesetzlicher Unterlagen kann ich über den Antrag, die Vollstreckung des Haftbefehls des Landgerichts Berlin aufzuheben oder eine Vollstreckung nicht durchzuführen, nicht entscheiden.«

Es dauerte weitere 23 Tage, bis der Generalstaatsanwalt entschieden hatte: »Ich habe die Ueberführung des Beschuldigten Strübing in die russische Besatzungszone genehmigt. Der Herr Oberstaatsanwalt in Aurich ist ersucht worden, das Weitere zu veranlassen.«

Der Niedersächsische Justizminister spurte besser und teilte sieben Tage, nachdem er erstmals mit der Sache befaßt worden war, mit, daß er sich berichten lassen werden und den Herrn. Generalstaatsanwalt gebeten habe, seine Entscheidung abzuwarten.

Dann dauerte es aber doch 36 Tage, bis sich Niedersachsens Justizminister genügend informiert hatte: »Ich vermag die Entscheidung des Herrn Generalstaatsanwaltes in Oldenburg, daß der Ingenieur Hans Strübing die Westzonen nicht aus politischen Gründen aufgesucht hat, sondern weil er strafrechtliche Verfolgungen wegen der ihm zur Last gelegten Beteiligung an der Verschiebung der 7457 kg Schwarzkupfer befürchtete, nicht zu beanstanden.«

Die Verteidigung parierte:

* Es springt förmlich in die Augen, daß nach Strübings Abgang aus dem Osten erst nach langem Zeitablauf die Sache plötzlich zu einem angeblichen Verbrechen gegen Kontrollratsgesetz Nr. 50 gestempelt wurde, nachdem zuvor ein Haftbefehl nicht ergangen war, noch eine Festnahme im Gange der Untersuchungen gegen Wöller und Bauer erfolgte.

* Der Haftbefehl ist nur ergangen, um Strübings unter einem Vorwande wieder habhaft zu werden. Es ist von jeher, wie historisch erhärtet und gerichtsbekannt, eine Praktik der NKWD, politische Renegaten wieder zu ergreifen, um sie dann zu beseitigen.

* 1949 ist ein Haftbefehl während Strübings Tätigkeit in Berlin nicht ergangen. Hieraus ergibt sich, daß der angebliche Vorgang nicht so schwerwiegend gewesen sein kann, andernfalls wären die Maßnahmen bereits gegen ihn ergriffen worden, als er beschuldigt wurde.

* Es liegt klar auf der Hand, daß ein Mann wie Strübing, der Einblick gewonnen hat in die Arbeit der russischen Kommandantur, besonders gefährlich erscheint und großes Interesse daran besteht, seiner wieder habhaft zu werden.

Landgericht Aurich blieb dabei: »Es kann unentschieden bleiben, ob ein Vollzugsgericht im Haftprüfungsverfahren die Zulässigkeit und Notwendigkeit eines in der Ostzone ergangenen richterlichen Haftbefehls nachprüfen kann. Auch bei Bejahung sind die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Haftbefehls nicht gegeben. Demnach war zu entscheiden wie geschehen.« Ohne die Gerichtsakten des Landgerichts Berlin oder sonstige Unterlagen, aus denen sich der Sachverhalt eindeutig ergibt, »vermag die Kammer eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Haftvollziehung nicht zu treffen«.

Diesen letzten Satz las sich Strübings Verteidiger zweimal durch. »Wenn der Sochverhalt sich ohne Berliner Akten nicht eindeutig ergibt, wieso kann dann erwiesen sein, daß Strübing kriminell ist.«

Als Bonns Bundesjustizministerium sich zu seinem Bedauern nicht in der Lage sah, die Auffassung von Dr. Meyer-Abich zu widerlegen, zeichnete Hans Strübing in seiner Gefängnis-Zelle den fünften Haftmonat an.

Den Aufschub der durch den Anstoß von Landrat Fischer bei der hannoverschen SPD-Leitung für Strübing erwirkt wurde, benutzt die Verteidigung für die Ausarbeitung frischer Argumente: wieso das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 als Basis der Auslieferungshilfe für die Ostzone angewandt werde, wo doch

* dort Volksrichter mit einjähriger Ausbildung fungierten, während nach geltendem deutschem Recht akademisches Studium und zwei Staatsexamen verlangt würden.

* in der Ostzone die Verwaltung befugt sei, politisch Mißliebige beliebig ihrer Freiheit zu berauben.

* Hans Strübing schließlich seit einem Jahr seinen Wohnsitz in den Westzonen habe und unter die Zuständigkeit der westlichen Gerichte falle.

Altkommunist Hans Strübing ist inzwischen beim lieben Gott angelangt: »Heut war ich in der Gefängniskirche, Schicke die Kinder auch mal in die Kirche. Es ist doch besser, der Mensch bleibt naiv und gläubig. Vielleicht können die Kinder noch zum Glauben kommen. Bei mir ist es wohl nicht mehr zu machen.«

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