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Abtreibung Betrachtung vor Ort

Bundesgrenzschützer lassen Frauen zwangsweise ärztlich untersuchen, um ihnen einen Schwangerschaftsabbruch im Ausland nachzuweisen.
aus DER SPIEGEL 10/1991

Kathrin K. kam sich vor wie eine Schwerkriminelle. Der Grenzschützer am Übergang Gronau im Münsterland durchsuchte ihr Auto, als ob es um Waffen- oder Rauschgiftschmuggel ginge.

Doch der Beamte mit der Dienstnummer B 60 23 68 wühlte nach intimeren Gepäckstücken. Als er Handtücher, ein Nachthemd und einschlägige Toilettenartikel fand, fragte er die Reisende, ob sie zum Abtreiben in Holland gewesen sei.

Die junge Frau verweigerte die Antwort, doch der Beamte blieb hartnäckig: Er ließ die vermeintliche Delinquentin zum nahen katholischen St.-Antonius-Krankenhaus bringen - wegen »Gefahr im Verzug« wurde dort eine gynäkologische Zwangsuntersuchung angeordnet.

Kathrin K., zu Hause in einer süddeutschen Kleinstadt, muß jetzt mit einer Anzeige wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs im Ausland rechnen.

Der Grenzzwischenfall von Gronau, der an mittelalterliche Inquisition erinnert, entsprang nicht polizeilichem Übereifer - solche Praktiken haben im SPD-regierten Nordrhein-Westfalen (NRW) Methode. Jede zweite polizeiliche Ermittlung, die dort im Zusammenhang mit Abtreibungsdelikten geführt wird, findet an der Grenze statt. Das geht aus einer Untersuchung des Freiburger Max-Planck-Instituts (MPI) für ausländisches und internationales Strafrecht hervor. Etwa zehn Fälle pro Jahr hat der Autor der Studie, Karlhans Liebl, in NRW recherchiert.

Während bundesweit über die Einführung der Fristenregelung gestritten wird, verfolgt die Polizei Schwangere, die mit den Abtreibungsgesetzen in Konflikt kommen, nach wie vor mit unerbittlicher Härte. Betroffen sind vielfach Frauen aus dem christlich regierten Süden der Republik, wo das Strafrecht gegen Schwangere besonders hart gehandhabt wird und Ärzte deshalb häufig zu einer Reise nach Holland raten.

Die auf dem Rückweg an der Grenze arglos Befragten verraten sich oftmals selbst. Werden sie nach Drogenkäufen gefragt, legen sie, um jeden Verdacht zu widerlegen, Rechnungen von Abtreibungskliniken vor.

Der Bundesgrenzschutz bestreitet, daß die Beamten Anweisung hätten, Frauen beim Grenzübertritt gezielt auszuforschen. Die Zwangsuntersuchung im Falle der Kathrin K. rechtfertigt Walter Musholt, Sprecher des Grenzschutzamtes in Kleve, mit juristischem Handlungsbedarf: »Wenn wir bestimmte Verdachtsmomente haben, besteht Verfolgungszwang.« Zur »beweiserheblichen Feststellung« sei dann nach Anordnung durch die Staatsanwaltschaft auch eine Untersuchung der Gebärmutter »machbar«.

Das Vorgehen der Grenzschützer wird vom Gesetz so allerdings keineswegs verlangt. Zwar wertet das Strafgesetzbuch auch Abtreibungen bundesdeutscher Frauen im Ausland als Straftat. Kann die Frau jedoch einen Beratungsschein vorweisen, geht sie straffrei aus. Eine im alten Teil der Bundesrepublik vorgeschriebene Indikation setzt das Gesetz bei Abbrüchen im Ausland nicht voraus.

Bevor Staatsanwälte und Bundesgrenzschützer eine Zwangsuntersuchung anordnen, sagt der Abtreibungsrecht-Experte des Freiburger MPI, Hans-Georg Koch, müßten sie daher nach einem Beratungsschein fragen. Koch: »Das gehört einfach zu einer kunstgerechten Ermittlungstätigkeit. Andernfalls ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schwer gestört.«

Für juristisch fragwürdig hält Koch auch das Verhalten des Gronauer Gynäkologen, der Kathrin K. untersucht hat. Für den Landtagsabgeordneten der Stuttgarter Grünen und Arzt Gerd Schwandner ist der Fall klar: »Das ist eindeutig Körperverletzung.«

Doch die Gronauer Zwangsuntersuchung liegt im Trend. Nach den Abtreibungsprozessen im bayerischen Memmingen und im rheinland-pfälzischen Neuwied berichten liberale Juristen und Ärzte zunehmend vom rigiden Umgang mit betroffenen Frauen. Ursel Bucher, Stuttgarter FDP-Stadträtin und Ärztin bei »Pro familia": »Die Frauen kommen immer noch völlig eingeschüchtert in die Beratung.« Vorausgegangen sind oft demütigende Bittbesuche bei Ärzten.

Ärzte in Hessen berichten, daß sie ihre Patientinnenkartei nicht mehr in der Praxis, sondern bei einem Anwalt aufbewahren, aus Angst vor Beschlagnahme.

Nach dem Bericht der baden-württembergischen Datenschützerin Ruth Leuze war es bundesweit jahrelang üblich, Informationen über betroffene Frauen zu speichern, wenn auch nur der Verdacht der Abtreibung auf sie fiel (SPIEGEL 4/1991). Inzwischen haben viele Länder versichert, die meisten Daten seien gelöscht. Doch die Stuttgarter Landesregierung plant erneut, betroffene Frauen, »wenn sie sich anderweitig noch schuldig gemacht haben«, auch wegen Abtreibung im Polizei-Computer zu registrieren. Zur »Gesamtbetrachtung vor Ort« sei dies »für die Polizei einfach notwendig«, so ein leitender Beamter im Innenministerium.

Die von juristischen Nachstellungen bedrohten Frauen aus Baden-Württemberg und Bayern reisen jedes Jahr zu Tausenden zur Abtreibung ins liberalere Hessen (SPIEGEL 15/1988). Im unionsregierten Süden fehlen weithin die Einrichtungen für einen Schwangerschaftsabbruch. So eröffnete erst vorletzte Woche die erste ambulante Abtreibungspraxis in Stuttgart - nach vierjährigem Streit mit der Stadtverwaltung und dem baden-württembergischen Sozialministerium.

Häufig weigern sich die Ärzte zudem, eine Notlagenindikation zu stellen. So mußte sich beispielsweise eine Bäuerin aus dem Bayerischen Wald bei neun Ärzten vorstellen, bevor sie die begehrte Bescheinigung bekam. Der Stuttgarter Mediziner Friedrich Andreas Stapf beklagt: »Viele Ärzte sind inzwischen zu feige, eine Indikation zu stellen« - aus Furcht vor dem Staatsanwalt.

Für Kathrin K. sind die Folgen der Zwangsbehandlung von Gronau doppelt bitter: Die Frau siedelte Ende 1988 aus dem ostdeutschen Jena in die Bundesrepublik über. Wäre sie zum Abbruch einfach in die alte Heimat gefahren, bliebe sie straffrei. In der Ex-DDR gilt noch die Fristenregelung. o

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