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Estland Betrügen und lügen

Ein US-Oberst versucht, Estlands Soldaten zu drillen. Vor allem bei der inneren Führung hapert es.
aus DER SPIEGEL 46/1993

Der Mann ist ein Haudegen: In den fünfziger Jahren kämpfte er als Fallschirmjäger gegen Nordkoreaner, in den Siebzigern kommandierte er eine Einheit der Elitetruppe »Green Berets« in den Dschungeln Vietnams.

Der pensionierte US-Offizier Aleksander Einseln, 62, ist an Entbehrungen gewöhnt. Doch als er jüngst in seinem Dienstwagen Marke Wolga zu einem Truppenbesuch fuhr, »stank es so grauenhaft nach Benzin«, erzählt er, »daß mir schlecht wurde«.

Die Unpäßlichkeit verdankt Einseln, 1985 nach 35 Dienstjahren als Oberst aus der U. S. Army ausgeschieden, seinem Umzug aus dem sonnigen Kalifornien in ein düsteres Hauptquartier der estnischen Hauptstadt Tallinn.

Das Parlament des seit zwei Jahren unabhängigen Staates ernannte den Offizier zum Oberbefehlshaber der neuen, 2500 Mann starken Armee - weil er gebürtiger Este ist. Die ungewöhnliche Berufung hat Präsident Lennart Meri persönlich durchgesetzt.

Einseln war bereits 1944 als Zwölfjähriger mit seiner Mutter vor der Roten Armee nach Deutschland geflohen und später in die USA emigriert. Er spricht noch immer, so loben Untergebene, ein »recht hübsches Estnisch«.

Obwohl Meri vor US-Präsident Bill Clinton »praktisch auf den Knien rutschte«, wie Einseln sich erinnert, verlief die Rückkehr in die Heimat nicht reibungslos. Das Washingtoner Außenministerium erhob Einwände gegen den Wechsel: Ein US-Offizier dürfe nicht in einer fremden Armee dienen.

Die Diplomaten befürchteten auch Irritationen beim russischen Präsidenten Boris Jelzin, der es als Affront ansehen könnte, wenn ein Amerikaner die Soldaten einer ehemaligen Sowjetrepublik befehligt.

Trotz des Widerspruchs zog Einseln den olivgrünen Rock Estlands mit den roten Litzen eines Generalmajors an: »Ich hatte keine andere Wahl, wer hätte es sonst machen sollen?« Die US-Regierung setzte zeitweilig seine Pension von 50 000 Dollar im Jahr aus.

Mittlerweile hat er den Wolga gegen einen gebrauchten Mercedes getauscht und lebt in einem Zwei-Zimmer-Apartment mit »Möbeln aus der späten Chruschtschow-Ära« - der erste Offizier in der Geschichte der Nato, der einer sowjetisch trainierten Truppe vorsteht.

Für Einseln ist es zweitrangig, daß die Ministreitmacht keine Luftwaffe, keine Flugabwehr und keine Panzer besitzt, obwohl die unfreundlich gesinnte russische Armee entlang der 294 Kilometer langen gemeinsamen Grenze steht.

Das Hauptproblem der neuen Streitmacht ist für ihn die innere Führung: Nicht nur Estlands Polizei und Grenzschutz sind »völlig korrupt«, wie Einseln herausgefunden hat, auch den eigenen Männern fehlt es an ethischer Standhaftigkeit: »Sie tun alles, was nach westlichem Standard verboten ist. Sie betrügen, lügen, stehlen.«

Kommunistische Mentalität ist nach wie vor tief verankert - vor allem die Gewohnheit, Untergebene zu schlagen. In den ersten fünf Monaten mußte der neue Kommandeur sich mit etlichen Anzeigen von Soldaten befassen, die ihren Vorgesetzten Brutalität vorwarfen. Er hielt sie allesamt für berechtigt.

Der Generalmajor aus der Fremde erweckt mit seinen Ideen bei den Kameraden keine Sympathie: »Sie befolgen zwar meine Befehle, aber sie unterstützen mich nicht«, sagt er. Ein Offizier entgegnete ihm, der Versuch, Prügel zu unterbinden, sei »reine Zeitverschwendung«.

In den ersten Wochen legte ihm sein Adjutant Papiere vor, die so unwichtig waren, daß in der U. S. Army nicht einmal ein Feldwebel damit behelligt würde. »Sie sagten mir: Wenn Sie die nicht persönlich unterschreiben, läuft nichts.«

Die Telefonliste des Hauptquartiers trug die Aufschrift: »Geheim. Zweite Kopie von zwei.« Einselns Einwand, selbst die Telefonliste des Pentagon sei öffentlich, stieß auf Unglauben.

Deshalb bemüht sich der Generalmajor, möglichst viele seiner Offiziere an westlichen Militärakademien unterzubringen. Aber nur 6 von mehr als 200 Offizieren gaben an, Deutsch zu beherrschen, rund 40 sprechen Englisch.

In den nächsten Wochen will der Amerikaner eine öffentliche Debatte über Estlands künftige Verteidigungsdoktrin anstoßen: Unklar ist noch, ob die Truppe Berufs- oder Wehrpflichtigenarmee werden soll. Dabei hält Einseln die Diskussion, die nach seiner Vorstellung mit einem Referendum enden soll, für wichtiger als das Ergebnis selbst. Nur so, hofft er, werde demokratischer Bürgersinn geschärft.

Er weiß: Egal, wie die Entscheidung ausfallen wird, »die Russen können wir sowieso nicht stoppen«. Y

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